Читать книгу Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1 - Carl Wilckens - Страница 6

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End

Ich war ein unscheinbares Kind. Klein, mager und blass. Kein Vergleich zu heute. Ich hing stets am Rockzipfel meiner Schwester. Emily. Sie war fünf Jahre älter als ich. Wenn es darum ging, Neues auszuprobieren, ließ ich ihr immer den Vortritt. Wenn mich Albträume plagten, fand ich Zuflucht unter ihrer Bettdecke. Sie sorgte für mich. Sie nahm mich in Schutz und spendete mir Liebe, wenn ich mich danach sehnte.

Unsere Mutter war bei meiner Geburt ums Leben gekommen. Emily erzählte, dass sie die schönste Frau auf Erden gewesen sei. Mit einem traurigen Lächeln und stets liebevollen Augen. In meiner Vorstellung war sie ein Engel.

Wir wuchsen in der Obhut von Rico Fonti auf. Fonti stammte aus dem Süden, aus Izzian. Er war ein kleiner Mann. Er hatte dunkles Haar und buschige Augenbrauen, einen Spitzbart und einen kunstvoll gewichsten Schnurrbart. Sein strenger, durchdringender Blick kündete von Klugheit und Bildung. Er galt als einer der besten Lehrer überhaupt. Er beherrschte sieben Sprachen und verfügte über unvergleichliche Kenntnisse in unzähligen Wissenschaften. Lehrer wie er, die ihr Gebiet nicht nur beherrschen, sondern auch lehren können, sind so selten wie wahre Freundschaft. Fonti lehrte uns Lesen und Schreiben, Mathematik, Geschichte, Kultur und Geographie, Astronomie und Astrologie, Mythen, Religion und Philosophie, Naturkunde und Chemie sowie fremde Sprachen und Schriften einschließlich der norvolkischen Runen. Mein Vater bezahlte ihn.

Mein Vater.

Ich hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Ich wusste nur, dass er ein erfolgreicher Mann aus den Reihen des Bergmannsadels war. Reich an Einfluss und Geld. Gewiss trug er einen schwarzen Anzug, rauchte Zigarre und wachte aus der Ferne über mich und meine Schwester. Ich glaubte, dass ich und Emily ihn eines Tages treffen würden, sobald wir ausgebildet waren.

Doch haben wir unsere Ausbildung nie abgeschlossen … Wir blieben nie lange an einem Ort. Fonti erklärte uns, dass wir Erfahrung sammeln mussten. Wir reisten durch Dustrien und verweilten höchstens einen Monat in einer Stadt. Die Metropole Rust bildete da eine Ausnahme, war sie doch um ein Vielfaches größer als gewöhnliche Städte. Wir begegneten vielen Menschen: Händlern und Betrügern, Handwerkern und Bergmännern, Bettlern und Dieben …

Fonti lehrte uns, in diesen Menschen zu lesen. Ihre Mimik und Gestik zu deuten und ihre Absichten zu durchschauen. Er schenkte uns den Blick fürs Detail, und bald sahen wir nicht mehr die Gesichter unserer Gegenüber sondern Grenzflächen der Kommunikation. Weiteten sich die Pupillen eines Händlers beim Anblick eines Gegenstandes, den er erwerben wollte, bedeutete dies, dass man den Preis in die Höhe treiben konnte. Verhielt sich jemand offen, laut und lustig, hatte er meist etwas zu verbergen. Auch Kleidung verriet viel. Über Reichtum, Bescheidenheit und Selbstvertrauen.

Fonti ließ uns tagelang in der Obhut von Handwerkern und Landwirten, Heilern und Händlern, um deren Berufe kennenzulernen. Schon bald kannten Emily und ich die Bearbeitungsverfahren verschiedener Materialien wie Holz, Stein und Stahl. Wir konnten komplexe Konstruktionen zu Papier bringen und einfache sogar selbst fertigen. Wir erfuhren, welche Pflanzen essbar sind und wie man sie anbaut, welche Kräuter heilen und wie man sie richtig zubereitet.

Emily und ich lernten unverhältnismäßig schnell. In jedweder Hinsicht. Bescheidenheit wäre hier schlicht unangebracht. Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschten wir jeweils bereits im Alter von fünf. Mit sieben Jahren stiegen wir in die höhere Mathematik ein. Wir lasen Texte auf höchstem Niveau. Wir kannten uns mit den Kulturen von Ländern aus, von denen viele nicht einmal wissen, dass sie existieren.

Aber die Theorie genügte Fonti nicht. Eines Tages verkündete er, dass wir Dustrien verlassen würden. Da war ich elf, meine Schwester sechzehn Jahre alt. Wir reisten nach Grey Heaven und verbrachten die Nächte in einer Hafenherberge, während unser Schiff abreisebereit gemacht wurde.

An unserem letzten Tag lagen Emily und ich nebeneinander auf einer Wiese unter einer Ulme. Es war ein Fleck Natur inmitten der grauen Hafenstadt. Das Gras wuchs hoch und verbarg uns vor Blicken. Das Sonnenlicht wärmte uns die Gesichter. Unsere Köpfe berührten sich fast, und wir lauschten dem Flüstern des Baumes.

Bäume erzählten uns Geschichten. Wenn der Wind durch ihre Kronen strich, verwandelte sich das Rauschen in unseren Ohren in Worte. Die Bäume berichteten von Dingen, die wirklich geschehen waren. Von Geheimnissen. Es mag unglaublich erscheinen, aber es ist wahr. Einige Male hatten wir auf diesem Wege erfahren, dass etwas am Fuße eines Baums vergraben lag. Wertsachen, Diebesgut … Aber viel interessanter waren die Geschichten, die die Bäume erzählten. Fedlum, die Ulme, unter der Emily und ich an jenem Tage lagen, war über dreihundert Jahre alt. Ich glaube, ihm war nicht klar, dass wir lauschten. Wenn Bäume flüstern, ist es etwas zwischen Reden und Denken. Sie können sehr direkt sein, aber die meiste Zeit lassen sie einfach ihre Gedanken schweifen. Der Wind, der durch ihre Äste streicht, ist ihr ausströmender Atem. An windstillen Tagen scheint es, als holten sie nach jedem Satz tief Luft. Im Winter schliefen sie und nur selten murmelten sie im Schlaf.

Wie die meisten Bäume fürchtete Fedlum sich vor Menschen. Viele seiner Freunde waren ihnen zum Opfer gefallen. Doch er mochte ihre Kinder. Seine Gedanken verweilten einige Zeit bei zwei Jungen, die sich gegenseitig die Mutprobe auferlegten, hoch hinauf zu klettern. Dann ließ er die Erinnerung an ein junges Liebespaar Revue passieren, das im Schatten seiner Krone heimliche Küsse tauschte.

Jäh dachte er wieder an die Kinder. Ein dünner Ast brach, und einer der Jungen stürzte in die Tiefe.

Ich schreckte hoch und sah zu meiner Schwester.

„Dem Jungen ist nichts passiert“, sagte sie. Sie setzte sich auf und strich mir durchs Haar. Das tat sie oft. „Komm, gehen wir. Signore Fonti sucht uns bestimmt schon.“ Wir standen auf.

„Wer als erster am Hafen ist …“ Sie fing an zu rennen.

„Das ist unfair.“ Ich beeilte mich, ihr zu folgen. Natürlich war Emily schneller. Sie hatte längere Beine und war schon zwischen den Häusern jenseits der Wiese verschwunden, noch ehe ich dieselbe Strecke zur Hälfte zurückgelegt hatte.

Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.

Als ich die Straße Zur See erreichte, war sie bereits weit voraus. So schnell ich konnte, folgte ich der abschüssigen Straße.

„Vorsicht, Junge“, riefen die Menschen, einige verärgert, andere lachend. Je näher ich dem Hafen kam, desto intensiver wurde der Geruch nach Fisch und der Geschmack von Salz in der Luft. Schon konnte ich die Fregatte sehen, die Fonti für unsere Abreise vorbereiten ließ. Der Name des Schiffes leuchtete in goldenen Lettern auf dem Rumpf: Seven Worlds. Wieder spürte ich dieses Ziehen im Magen, das der Gedanke an das bevorstehende Abenteuer verursachte. Welche Wunder uns wohl erwarteten?

Dann bemerkte ich das Schiff am Horizont. Etwas damit stimmte nicht. Ich wurde langsamer. Es schien noch weit weg zu sein und trotzdem war es ungewöhnlich groß. Es hatte viele Masten. Die Segel waren allesamt gehisst und blähten sich im Wind. Mit beachtlicher Geschwindigkeit kam es näher.

Und bald erkannte ich, weshalb es aus der Ferne so seltsam ausgesehen hatte. Das Schiff war groß. Dreimal so groß wie das größte Schiff, das ich je gesehen hatte. Mit gepanzertem Rumpf und sechs Schornsteinen.

Ich blieb stehen. Weitere Menschen folgten meinem Beispiel und gafften.

Vor dem vordersten Segel entrollte sich eine riesige Flagge und offenbarte das Schlimmste: Das weiße Skelett eines Raben, der auf schwarzem Grund dahinflog. Das Wappen des Piratenkapitäns Black Raven.

Ein Seufzen ging durch die Menge. Nicht wenige machten auf dem Absatz kehrt und rannten. Gebannt beobachtete ich, was sich im Hafen abspielte. Ein kleines Dampfschiff hatte abgelegt und ergriff die Flucht. Sein Schornstein spie panisch Rauch in den Himmel. Vom Schiff Black Ravens ertönte ein Warnschuss. Der Dampfer dachte nicht daran, seine Geschwindigkeit zu drosseln.

Im nächsten Moment folgte das Krachen dutzender Kanonen. Wasserfontänen spritzten auf, und der Rumpf des kleinen Gefährts wurde von Kugeln durchlöchert. Innerhalb kürzester Zeit versank der Dampfer im Meer.

Vielleicht wusste der Offizier der Hafenverteidigung nicht, dass man mit Black Raven besser einen friedlichen Kompromiss fand. Vielleicht verlor er beim Anblick des sinkenden Dampfers auch schlicht die Nerven. Jedenfalls war dies der Moment, da er den Befehl gab, das Feuer zu eröffnen. Die dürftige Bemannung auf den Verteidigungsanlagen des Hafens richtete ihre Geschütze auf den Feind aus. Vereinzelte Schüsse ertönten.

Langsam richtete das Schiff seine Steuerbordseite zum Land aus. Silberne Lettern auf dem gepanzerten Rumpf offenbarten den Namen des Gefährts: Swimming Island.

Wenige Sekunden lang blickten die zu Schreck erstarrten Bürger Grey Heavens in die schwarzen Mündungslöcher von über sechzig Kanonen.

Dann eröffnete die Swimming Island das Feuer. Rauch hüllte innerhalb weniger Sekunden das Piratenschiff ein. Die Kugeln zertrümmerten die im Hafen ankernden Schiffe und Bootsstege. Sie zerfetzten die Bäume, die entlang der Promenade wuchsen, rissen Löcher in Gebäude und brachten Türme zum Einsturz. Sie durchschlugen die Bürger Grey Heavens, die zu dumm gewesen waren, sich nicht in Sicherheit zu bringen, und die dürftige Anzahl an Soldaten, die sich bis dahin im Hafen eingefunden hatte. Ihre Leiber wirbelten umher oder wurden brutal zu Boden gerissen. Blutige Fetzen sprühten durch die Luft wie rotes Konfetti.

Das Donnern der Kanonen wollte nicht enden. Längst lag der Hafen in Schutt und Asche. Leichen überall. Wie durch ein Wunder war ich noch am Leben. Ich konnte nicht begreifen. Mein Kopf war leer, meine Augen weit aufgerissen.

Emily.

Der Gedanke an meine Schwester brachte mich zur Besinnung. Sie war vermutlich schon auf der Seven Worlds gewesen, als der Beschuss begonnen hatte. Der Rauch der Kanonen war inzwischen herübergezogen und hatte das Hafenbecken und die Fregatte verschlungen.

Ohne nachzudenken, rannte ich los und tauchte in den Nebel ein. Beißender Schwefelgeruch drang in meine Nasenlöcher. Meine Augen tränten. Ich sah nur noch verschwommene Schatten und wurde langsamer.

Dann kehrte Stille ein. Grabesstille. Die Kanonen schwiegen. Niemand regte sich. Nur das Schwappen des Wassers an der Kaimauer war noch zu hören.

„Emily?“

Ich spitzte die Ohren. Nichts. War Emily vielleicht beim Anblick der Swimming Island geflohen? Oder war sie auf der Fregatte gewesen, als der Angriff begonnen hatte? Gab es die Seven Worlds überhaupt noch? Nun, nur eines war sicher: Emily war noch am Leben. Eine andere Wahrheit konnte ich nicht akzeptieren.

Gerade wollte ich ein weiteres Mal den Namen meiner Schwester rufen, da vernahm ich Stimmen. Stimmen und das Platschen von Rudern. Die Silhouetten mehrerer bemannter Boote schälten sich aus dem Nebel.

„Hoffe, da ist noch einer am Leben“, sagte jemand mit meckernder Stimme. „Hab schon viel zu lange niemanden mehr ausgeweidet.“

Ein Knurren war die Antwort.

Der erste stieß ein Lachen aus, das ebenso meckernd klang wie seine Stimme. „Na und? Ich will auch meinen Spaß.“

Das erste Boot stieß an die Kaimauer, und mehrere Gestalten kletterten an Land. Ich huschte davon und duckte mich hinter einen Trümmer. Mit klopfendem Herzen musterte ich die Silhouetten. Eine von ihnen war riesig, gewiss über zwei Meter groß, und doppelt so breit gebaut wie ein gewöhnlicher Mann. Auf seinen Schultern hockte ein Zwerg. Daneben zeichnete sich die Figur eines hageren Mannes ab, der in der einen Hand eine Sichel, in der anderen eine Pistole hielt. Ihm folgte ein Mann, der aussah wie ein Metzger: Er trug eine Schürze. In der Hand hielt er ein Hackmesser.

Schon legten weitere Boote an, und eine große Zahl an Gestalten sammelte sich im Hafen. Keine ähnelte der anderen.

„Also dann“, rief jemand. „Sehen wir nach, was es hier zu holen gibt.“ Die Menge setzte sich in Bewegung. Ich duckte mich tiefer, drückte das Gesicht an den kalten Stein und hoffte, dass meine Gestalt nahtlos mit dem Trümmer verschmolz.

„Wen haben wir denn da?“ Die Stimme war ein dunkler Bass. Eine Hand packte mich am Kragen, zog mich zurück und warf mich rücklings zu Boden. „Einen Glückspilz.“ Der Mann, der mich entdeckt hatte, war ein Koloss. Jeder seiner Oberarme dicker als meine Körpermitte. Seine Haut war schwarz, seine wulstigen Lippen zu einem gnadenlosen Lächeln verzogen. Sein Haar hatte er sich bis auf einen schwarzen Streifen in der Mitte wegrasiert.

Eine zweite Person erschien in meinem Blickfeld. Der Mann hatte kurz rasiertes Haar. Die Gesichtshaut war zur Hälfte geschmolzen, das rechte Auge milchig. In seinem unversehrten Auge lag ein irrer Glanz. Ein breites Grinsen tat sein Übriges.

Er hob eine Sichel. „Kann es kaum erwarten, ihm den Bauch aufzuschlitzen“, sagte er und lachte meckernd. Er beugte sich zu mir herab, packte mein Handgelenk und zog mich auf die Beine. „Sieh gut her, Kleiner. Nicht viele haben die Ehre, mal einen Blick auf die eigenen Eingeweide zu werfen.“ Ohne zu überlegen, ohne zu zögern, packte ich den Griff der Pistole, die aus dem Gürtel des Irren ragte. Ich zog sie heraus, richtete ihren Lauf auf das Gesicht des Schwarzhäutigen und feuerte. Die Kugel verwandelte sein Auge in ein blutiges Loch. Der Mann taumelte mit einem auf komische Weise überraschten Gesichtsausdruck rückwärts und fiel.

Der Irre schrie und schlug mir die Pistole aus der Hand. „Du kleines Stück Scheiße!“, brüllte er und erwischte mich mit der Hand so heftig im Gesicht, dass ich stürzte. Ich schmeckte Blut. „Jamaal. Dafür wirst du leiden …“ Er hob die Sichel.

„Malaka!“ Eine Frau kam aus dem Nichts und verpasste dem Irren einen Faustschlag ins Gesicht. „Wir haben noch eine Rechnung offen.“

Der Irre heulte vor Wut und Schmerz auf und warf sich auf seine Gegnerin. Kurz rangen die beiden miteinander. Wie gebannt beobachtete ich die junge Frau. Sie konnte kaum älter als Emily sein! Sie hatte ihr blondes Haar an einer Seite des Kopfes wegrasiert und sich verschlungene Ranken mit Blättern, die wie Augen aussahen, in die Haut stechen lassen. Ihre Bewegungen waren wild, kraftvoll und elegant. Schnell hatte sie ihren Gegner entwaffnet. Die Sichel fiel klingelnd zu Boden. Die Frau trat dem Irren mit Wucht vor die Brust, und der stolperte rückwärts und stürzte.

„Mach lieber, dass du wegkommst“, sagte eine leise Stimme nahe bei meinem Ohr. Ich zuckte zusammen. Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatte sich eine kleine Frau von hinten genähert. Ihre Haut war so dunkel wie Jamaals. Ihre Augen leuchteten. „Sam hat dir das Leben nicht aus Nettigkeit gerettet, sondern weil du dich um Jamaal gekümmert hast. Noch einmal hilft sie dir nicht aus der Klemme.“

„Ella, Negrita“, rief die Frau, die die Schwarzhäutige Sam genannt hatte. Der Irre lag stöhnend zu ihren Füßen. „Gehen wir.“ Das schwarze Mädchen und Sam gingen davon.

Ich kam auf die Beine. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet. Soldaten waren zur Verteidigung des Hafens eingetroffen. Brüllend stürzten sich die Piraten in den Kampf. Schüsse krachten. Männer schrien. Ich sah, wie der Riese den Zwerg auf seinen Schultern packte und ihn im Rennen mitten unter die Feinde warf. Er landete auf einem der Soldaten und stieß ihm einen Dolch in den Hals. Ich sah, wie der Metzger einem Gegner das Beil in den Hals rammte und ihm fast den Kopf von den Schultern trennte. Sah, wie ein Mann eine schwarze Kugel mit brennender Lunte mitten unter die Soldaten warf, wo sie nach wenigen Sekunden in einer Wolke aus Rauch und Blut explodierte. Es folgten Schreie, die von grausamen Schmerzen kündeten, vom Leiden und Sterben, eine Symphonie des Grauens.

Der Verrückte am Boden stöhnte erneut, und holte mich in die Realität zurück. Er richtete sich halb auf und funkelte mich aus dem gesunden Auge an. Die linke Hand presste er auf den Bauch, mit der rechten tastete er nach der Sichel. Speichel troff ihm von der Unterlippe.

Ich wandte mich ab und rannte davon.

„Lauf!“, schrie der Irre. „Mir entkommst du nicht.“ Ich hörte, wie er stöhnend auf die Beine kam und die Verfolgung aufnahm. Bald gelangte ich an die Kaimauer und lief einfach weiter auf einen Bootssteg. Zu spät wurde mir klar, dass ich in eine Sackgasse lief. Schon ertönten die Schritte meines Verfolgers auf dem hölzernen Untergrund.

„Ich werde dich ausweiden!“

Der Steg endete vor einem Schiff, das wie durch ein Wunder den Angriff der Piraten überlebt hatte – wenn auch nicht ohne Schaden zu nehmen. Nostalgie hieß es auf dem Rumpf. Ich rannte über die Brücke hinauf zum Hauptdeck. Überall lagen Schiffstrümmer. Zersprengte Fässer, deren Inhalt sich auf dem Boden verteilte: Tee, Korn, Gewürze, Schmucksteine …

Ich riskierte einen Blick über die Schulter, stolperte über eine Leiche und wäre beinahe gestürzt. Mein Verfolger war mir dicht auf den Fersen. Ich rannte zum Hauptmast, der einen Meter über dem Deck abgeknickt war, und kletterte hinauf. Der Mast musste mit der Spitze irgendwo aufliegen, führte er doch aufwärts. Sein Ende verschwand im Trüben. Ich lief weiter. Mein Atem ging pfeifend. Der beißende Nebel brannte in meinen Lungen.

Bald erkannte ich, wohin der Mast führte. Es war das Deck der Swimming Island. Das Krähennest der Nostalgie hatte sich in der Reling des Piratenschiffes verhakt. So hätte ich mühelos auf das Hauptdeck gelangen können. Aber spätestens dort hätte mein Verfolger mich eingeholt. Panisch suchte ich nach einer anderen Fluchtmöglichkeit. Mein Blick fiel auf das Segel. Es hing in Fetzen vom Rah. Das Tauwerk der Takelage hatte sich darin verheddert, und das Segel sich in einer Luke im Schiffsrumpf der Swimming Island verfangen.

Ich zögerte nicht. Ich war damals ein Feigling, aber die Angst trieb mich zu einer mutigen Tat. Ich sprang. Im Fallen glitten meine Hände über das Segel und ich bekam eines der Taue zu fassen. Ein Ruck ging durch meine Arme. Mein Verfolger stieß einen überraschten Laut aus.

„Glaubst du, so entkommst du mir?“, brüllte er. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie auch er sprang. Er flog nah an mir vorbei, während seine Hände hoffnungslos über das glatte Segeltuch glitten. Ich betete, dass er ins Wasser stürzte. Dann verriet mir ein neuerlicher Ruck, dass auch er Halt gefunden hatte. Kurz fürchtete ich, das Segel könne sich von der Luke im Schiffsrumpf losreißen. Doch es hielt. Ich vergeudete keine Zeit und kletterte durch das Durcheinander aus Tauen, Spieren und Segeltuch. Ich spürte ein Rucken, das durch die Seile ging, und wusste, dass mein Peiniger die Verfolgung erneut aufgenommen hatte. Ich fühlte mich wie eine Fliege, die einer wahnsinnigen Spinne ins Netz gegangen war.

Unter großer Anstrengung erreichte ich die Luke und zwängte mich an der dahinter befindlichen Kanone vorbei aufs Batteriedeck. Zwielicht und klamme Kühle umfingen mich. Der Geruch von Rost lag in der Luft. Oder war es Blut?

Ich rannte zum anderen Ende des Raums. Als ich einen von Öllampen notdürftig beleuchteten Gang betrat, hörte ich, wie mein Verfolger laut fluchend mit der Kanone rang. Ich rannte weiter, obwohl meine Oberschenkel brannten, als stünden sie in Flammen. Meine Schritte hallten laut auf dem eisernen Boden. Irgendwo tief unten im Schiffsrumpf ertönte ein stählernes Stöhnen. Ratten schlüpften aus Spalten in den Wänden, begleiteten mich ein Stück, fiepten und quiekten und verschwanden wieder. Hinter mir eilten die gekreischten Flüche dem Irren voraus, überholten mich und verloren sich in den Tiefen des Schiffes.

Ich gelangte an eine Kreuzung, wandte mich nach rechts und lief geradewegs in einen Stolperdraht. Ich spürte kaum, wie er riss. Eine Explosion ertönte, und eine rostige Klinge klappte aus der Wand, sauste eine Handbreit über meinen Kopf hinweg und knallte mit ohrenbetäubendem Scheppern gegen die Wand. Ich verdankte mein Leben ausschließlich der Tatsache, dass ich so klein war. Vor Schreck blieb ich stehen und bemerkte vermutlich nur deshalb den Schacht, der sich in der mit Nieten gespickten Wand auftat. Ein Konstruktionsschacht oder Ähnliches. Er war gerade groß genug, dass ich hindurch passte. Mein Verfolger sicher nicht.

Ich ging auf alle Viere. Die schnellen Schritte meines Peinigers und ihr Echo machten es unmöglich zu sagen, wie dicht er mir auf den Fersen war. Ich krabbelte in den Schacht …

„Nein!“ Eine Hand umschloss mein Fußgelenk. „Du entwischst mir nicht, Bürschchen!“ Verzweifelt krallte ich mich an den Nietköpfen fest, die aus den Wänden ragten, und trat nach der Hand. Meine verschwitzten Finger fanden kaum Halt. Rutschten …

Plötzlich war ich frei. Mein Verfolger hatte mir den Schuh mitsamt Socken ausgezogen. Panisch kroch ich vorwärts, bis ich außer Reichweite seiner Arme war. Der Irre kreischte vor Wut.

„Du bist tot, Junge!“, brüllte er. „Einer wie du überlebt nicht im Unterrumpf. Und wenn du es doch schaffst, von hier zu entkommen, schneide ich dich auf und erwürge dich mit deinen eigenen Därmen.“ Ich kroch weiter, während mein Verfolger mir Drohungen und Verwünschungen nachschickte. Irgendwo am Rande meines Bewusstseins nahm ich wahr, dass ich leise wimmerte. Wasser lief mir aus Nase und Augen und tropfte auf den eisernen Grund.

Bald umschloss mich wattige Schwärze. Die Rufe des Irren verstummten, und nur noch das stählerne Knarren aus den Tiefen des Schiffes und das Tropfen von Wasser waren zu hören. Nach einer Weile gelangte ich erneut an eine Kreuzung. Unschlüssig spähte ich in alle Richtungen. Zu meiner Linken knickte der Schacht nach einem Meter senkrecht nach unten ab. Rostige Sprossen wuchsen aus der Wand. Die braunen Schachtwände reflektierten schwach ein unstetes Licht, das am unteren Ende des Schachtes wohnte. Ob Kinder beim Bau dieses Schiffes geholfen hatten? Dieser Schacht war zu klein für einen ausgewachsenen Mann und doch eindeutig zum Herauf- und Herunterklettern gedacht.

Ich wandte mich nach links und stieg die Sprossen hinab. Das Eisen ächzte. Während ich tiefer kletterte, wich die rostige Kälte allmählich miefiger Wärme. Der Schacht endete in einer Kammer mit niedriger Decke, die von einer Fackel erhellt wurde. Zur Hälfte füllte ein alter Mann sie aus, der unter einer lumpigen Decke schlief. Sie schien mehr aus Dreck als aus Stoff zu bestehen. Sein Schnarchen klang hohl in dem kleinen Raum. In der Hand hielt er eine fast leere Flasche. Allein der Geruch des Inhalts ließ meine Augen tränen. Auf dem Gesicht des Mannes, das zum größten Teil von einem verfilzten grauen Bart beherrscht wurde, hockte eine Ratte und knabberte an seinem Ohr.

Ich betrachtete die Habe des Alten, die entlang der Wand aufgereiht war: Ein rostiges Messer, ein Stück Schnur, ein schimmeliger Kanten Brot, ein zerbrochener Tonbecher, etwas, das aussah wie ein Knäuel Rattenschwänze, und ein halbes Buch. Hätte ich damals schon gewusst, wie wertvoll solche Dinge an diesem Ort waren, ich hätte sie allesamt gestohlen.

Ich durchquerte den Raum und schob den Vorhang am anderen Ende zur Seite. Dahinter führte ein größerer Schacht aufwärts. Ich machte mich an den Anstieg und stieß vor einen schweren Eisendeckel. Ich musste all meine Kräfte aufbieten, um ihn beiseite zu schieben. Ich kletterte durch das Loch und fand mich in einem dunklen Gang wieder. Himmel, der Rumpf dieses Schiffes war ein einziges Labyrinth. Ich folgte dem Gang, bis dieser in einen größeren, beleuchteten mündete. Gewiss war ich auf dem richtigen Weg.

Ich ahnte ja nichts.

Es handelte sich hierbei um den Hauptgang der dritten Ebene im Unterrumpf, ein Gang, der einmal im Kreis durch die gesamte Ebene führte. Unzählige kleinere Gänge und Schächte zweigten davon ab, und selbst die abgebrühtesten Crewmitglieder der Swimming Island wagten sich nur bis an die Zähne bewaffnet hinein.

Denn in diesem Gang lebte ein Bär. Eine gewaltige Bestie, so groß, dass sie den Hauptgang nicht mehr verlassen konnte. Das Monster musste als Jungtier hineingelangt sein und ernährte sich seither von jenen Dummköpfen, die es wagten, sein Reich zu betreten. Es fraß auch das Perl, das seine Opfer im Blut hatten, und die Droge machte es blutrünstig und zugleich feinsinnig und stark.

Ich trat auf den Gang und bemerkte die Kratzspuren auf dem metallenen Untergrund nicht. Ich ging kaum zehn Schritte, als mich ein Mann aus einem der dunklen Seitengänge ansprach.

„Ssst. Junge.“ Ich zuckte zusammen und wich zurück. Sein Anblick löste ein mulmiges Gefühl in mir aus. Der Mann war abgemagert. Er hatte einen stoppeligen Bart und schütteres Haar. Er trug einen abgewetzten Zylinder, sonst nichts als Lumpen, genau wie ich nur einen Schuh und schmutzige Verbände um beide Hände. Es war jedoch nicht sein ungepflegtes Äußeres, das mir Angst einjagte, sondern seine Augen. Seine Iriden waren komplett weiß, sodass sie nicht mehr von seinen Augäpfeln zu unterscheiden waren. Geblieben waren nur die Pupillen, zwei schwarze Punkte. Ich wusste damals nicht, dass sein Erscheinungsbild typisch für einen Perlsüchtigen war.

„Du solltest lieber von dem Gang verschwinden“, sagte der Fremde. Trotz seiner merkwürdigen Iriden entging mir nicht, wie er den Blick senkte und meine Hand fixierte. Ein gieriger Ausdruck trat in seine Augen. Mir wurde gewahr, dass ich einen kostbaren Siegelring trug, und ich ließ die Hand hinter dem Rücken verschwinden.

Ein zweiter Mann trat hinter dem ersten hervor. Er unterschied sich nur unwesentlich von seinem Partner, von seiner kleineren Statur mal abgesehen. Auch seine Augen waren die eines Perlsüchtigen.

„Olli hat Recht, Junge. Komm hierher. Sonst holt dich der Pelz.“

Ich hatte genug gehört. Obwohl ich immer noch erschöpft war von der Hetze durch den irren Piraten, machte ich kehrt und rannte den Gang zurück.

„Ihm nach!“, rief Olli, und das Getrappel zweier Paar Füße erklang hinter mir. Panisch suchte ich nach einem Schacht, in den ich flüchten konnte, doch mir war klar, dass mein Vorsprung nicht groß genug war, um hineinzukriechen.

Dann hörte ich Schritte. Stampfende Schritte, die den Untergrund erzittern ließen, begleitet vom metallischen Schaben der Klauen.

„Der PELZ!“, rief Ollis Kumpane. Seine Stimme ging fast unter in dem markerschütternden Gebrüll, das der Bär im selben Moment ausstieß. Ich wagte es, einen Blick über die Schulter zu werfen. Mir blieb fast das Herz stehen. Das Biest füllte den Gang ganz aus. Speichel troff aus seinem weit geöffneten Maul. Auch seine Augen wurden vom Weiß der Perlsucht beherrscht. Ich sah, wie der Bär Ollis Kumpanen im vollen Lauf einen Hieb mit der Pranke versetzte. Es warf den kleinen Mann mit solcher Wucht nach vorne, dass er an mir vorbeiflog, gegen die leicht bogenförmige Wand krachte und komisch verdreht liegen blieb, wobei er ein geradezu künstlerisches Werk an der genieteten Eisenwand hinterließ, gezeichnet mit seinem eigenen Blut.

Ich schrie. Kreischte wie ein kleines Mädchen. Ich warf mich vor den nächsten Schacht, der von dem Gang abzweigte, und kroch panisch hinein. Hätte der Bär es drauf angelegt, er hätte mich packen können. Doch er gab sich mit Ollis Kumpanen zufrieden.

Während ich tiefer in den Schacht kroch, fing der Bär an zu fressen. Ich höre die Laute heute noch. Ein Schmatzen und Knacken, dass mir schlecht wurde.

Ich kroch weiter, solange, bis ich den Bären nicht mehr hören konnte. Kroch, bis mir die Knie schmerzten. Folgte willkürlich dem Verlauf kreuzender Gänge, Leitern rauf und runter, die seit dem Bau des Schiffes niemand mehr benutzt hatte. Schließlich gelangte ich in eine Kammer, deren Boden auf einschläfernde Weise vibrierte. Irgendeine Maschine arbeitete darunter. Das Metall war angenehm warm. Dämmriges Licht drang durch Schlitze im Boden. Ich kroch in eine Ecke und rollte mich zusammen. Trotz des entsetzlichen Dursts, den ich mittlerweile verspürte, schlief ich fast sofort ein.

Ich träumte von Rico Fonti. Er stand an Deck der Seven Worlds. Winkte mir zu. Die Welt hinter ihm verschwand im Nebel. Dann donnerten die Kanonen und rissen ihn in blutige Fetzen.

Ich schreckte aus dem Schlaf, die Kleidung nass vom Schweiß.

Ich schlief wieder ein und träumte von Emily. Sie trieb unter der Wasseroberfläche im Hafen von Grey Heaven. Kalt, weiß und leblos versank sie immer tiefer in der Dunkelheit, bis sie nicht mehr zu sehen war. Ich erwachte wieder, weinend, und ich weinte auch noch, als ich zum dritten Mal einschlief.

Dieses Mal träumte ich von dem Mann, den ich erschossen hatte. Jamaal. Er starrte mich an aus seinem verbliebenen Auge und der blutigen Augenhöhle. Stundenlang. Und dann öffnete er den Mund und sagte ein Wort: „Mörder.“

Dieses Mal erwachte ich, weil mich etwas ins Ohr zwickte. Ich setzte mich auf, und eine ganze Schar fetter Ratten floh in alle Richtungen. Ich schrie auf, packte einen Eisensplitter, von dem ich bislang nicht einmal gewusst hatte, dass er da gewesen war, und stach blind zu. Ich erwischte eines der Biester und es verendete fauchend. Ich starrte auf das Blut, das aus der Wunde troff. Und wieder loderte der Durst in meiner Brust und erstickte mein Denken.

Ich wollte es nicht tun, doch etwas Seltsames ging mit mir vor. Mir schien, als verließe ich meinen Körper und beobachtete mich selbst, wie ich das Tier nahm, den Kopf in den Nacken legte und anfing, sein Blut zu trinken. Erst als nichts mehr aus der Wunde lief, kehrte ich in mich selbst zurück. Ich warf die Ratte fort und schüttelte mich vor Ekel. Mein Magen krampfte zusammen, und beinahe hätte ich mich erbrochen. Ich wischte mir mit dem Ärmel über den Mund und starrte auf die Schachtmündung, die aus der kleinen Kammer führte. Was sollte ich tun? Bestimmt hatte das Schiff längst abgelegt. Trotzdem wollte ich einen Weg nach draußen finden, um zu fliehen, sobald die Swimming Island irgendwo ankerte. Wie lange mochte das dauern?

Ich wusste damals nicht, dass der Unterrumpf ein Gefängnis war. Kaum einer konnte ihn nach Belieben betreten und wieder verlassen. Nur solche, die die geheimen Eingänge kannten und sich auf die Kunst des Schlösserknackens verstanden, und solche, die im Auftrag Black Ravens hierherkamen, ausgestattet mit Flammenwerfern und anderen Waffen, um zu den Maschinenräumen zu gelangen.

Um mich abzulenken, ging ich auf alle Viere und kroch in den Schacht hinein. Meine Knie schmerzten. Mit dem Metallsplitter kratzte ich Pfeile in den Schachtboden und versuchte, mir somit eine Orientierung in diesem Netzwerk aus Schächten und Gängen zu schaffen.

Stunden später kehrte ich in die Kammer zurück, unter deren Boden jene seltsame Maschine wummerte. Ich war müde und hungrig. Meine Knochen schmerzten, und ich sehnte mich nach dem Licht der Sonne. Nach dem offenen Himmel.

Drei Ratten nagten an dem Kadaver ihres Artgenossen, dessen Blut ich getrunken hatte. Sie blickten nicht einmal auf, als ich die Kammer betrat. Erst als ich eine von ihnen mit dem Metallsplitter tötete, rannten die anderen davon. Ich trank das Blut meiner Beute, weidete sie aus und nagte das rohe Fleisch von ihren Knochen. Anschließend legte ich mich schlafen. Wieder wurde ich von Albträumen und Ratten heimgesucht.

So vergingen die Tage, ohne dass ich hätte sagen können, wie viele. Ich erkundete den Unterrumpf, wobei ich mich nur selten aus den Konstruktionsschächten hervorwagte. Ich ernährte mich von Ratten und dem, was ich fand. Manchmal stahl ich. Brot, einen Schluck Wasser aus der Flasche eines Perlsüchtigen … nie zu viel, da es mir unrecht erschien. Die Schächte führten mich bisweilen durch verborgene Kammern, in denen sich die anderen Bewohner des Rumpfes eingelebt hatten. Rattennester nannte man diese Orte an Deck des Schiffes, wie ich später erfahren sollte.

Wenn ich müde war, kehrte ich in die mir vertraute Kammer zurück. Stets wummerte die Maschine unter dem Boden. Stets dämmerte das Licht durch die Ritzen. Manchmal hörte ich Stimmen. Um mich vor den Ratten zu schützen, verkleidete ich die Löcher in den Wänden. Ich sammelte alles, was ich auf den Erkundungstouren finden konnte. Selbst der nutzloseste Unrat konnte irgendwie hilfreich sein. Bald hatte ich genügend Materialien zusammen, um mir eine simple Rattenfalle zu bauen.

Ich erfuhr viel über die Menschen, die im Schiffsrumpf der Swimming Island lebten. Fast alle waren Perlsüchtige. Sie waren abhängig von einer Droge, die man im Innern einer Muschel fand. Diese wuchs am Rumpf des Schiffes und auch in einigen wenigen Salzwasser gefluteten Bereichen im Rumpf. Sie wurden von Clans bewacht, die regelrechte Kriege um die Vorherrschaft dieser Becken führten.

Um den Rausch des Perls zu erleben, musste man es sich unter die Zunge legen. Schwarzes Perl war besonders stark, besonders selten und sehr wertvoll. Das Zahlungsmittel war Zigaretten oder … Geld. Ganz normales Geld. Meist Münzgeld, da Banknoten schnell zu schimmeln anfingen.

Eines Tages traf ich bei einem meiner Streifzüge durch den Rumpf das schwarzhäutige Mädchen, das mich damals zusammen mit Sam vor dem Irren gerettet hatte. Keine Ahnung, wie viel Zeit bis dahin vergangen war. Ein Monat … drei … vielleicht mehr. Ich gelangte an das Ende eines Schachts, der in einen größeren Gang mündete und sah sie zunächst nicht. Ihre schwarze Kleidung, ihr schwarzes Haar und ihre schwarze Haut verschmolzen nahtlos mit der Dunkelheit. Sie wandte den Blick und ihre großen, weißen Augen leuchteten im schummrigen Licht des Rumpfes. Es sah aus, als lausche sie. Hatte sie mich gehört?

Dann wandte sie sich der Tür zu, vor der sie stand, und fing an, mit einer Nadel im Schloss herumzustochern. Es gab viele verschlossene Türen im Unterrumpf. Mindestens genauso viele wie bewachte Durchgänge oder Fallen.

Ich kroch lautlos aus dem Versteck und richtete mich auf. Mir war nicht bewusst, dass ich mit dem rostigen Metallsplitter in der Hand bedrohlich wirkte. Unschlüssig ließ ich den Blick auf dem schwarzen Haarschopf des Mädchens ruhen. Wie hatte Sam sie genannt?

„Ne … Negrita?“

Das Mädchen wirbelte herum und hob die Hand. Ihre Finger umschlossen ein rundes Fläschchen, das eine durchsichtige Flüssigkeit enthielt.

„Das ist Vacuúm, ein so starkes Gift, dass allein seine Dämpfe tödlich sind. Zwing mich nicht, es zu zerbrechen.“ Ihre Augen weiteten sich. „Dich kenn ich doch.“ Sie lächelte und zeigte makellos weiße Zähne. „Aber ja. Du bist dieser Junge, den Sam damals vor Chemo gerettet hat. Du weißt schon, der Kerl mit dem halb geschmolzenen Gesicht. Chemo hielt dich für tot. Ich auch, um ehrlich zu sein. Wenn du klug gewesen wärst, hättest du mir dieses Ding in den Rücken gestoßen und meine Leiche geplündert.“

„Bitte … Negrita … hilf mir.“

Das laute Klong eines Schotts, das aufgestoßen wurde, ertönte, gefolgt von Rufen und Fußgetrappel.

„Nur Sam nennt mich Negrita“, sagte das Mädchen. „Mein Name ist Teena.“ Sie musterte mich kurz, und ich glaubte, einen Funken Mitleid in ihrem Blick zu sehen. „Ich kann dir nicht helfen, Kleiner. Das kannst nur du selbst. Um hier zu überleben, beachte Folgendes: Bleib immer im Schatten. Stiehl, was du stehlen kannst.“ Sie wandte sich ab und stocherte erneut in dem Schloss herum. Es klickte. „Und wenn sich dir die Gelegenheit bietet, jemanden zu töten“, schloss sie und schlüpfte durch den Spalt in der Tür, „zögere nicht. Sonst tötet er dich. Adiós.“

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

„Hier entlang“, rief jemand mit der unverkennbar dumpfen Stimme eines Perlsüchtigen und die Schritte wurden lauter. Hastig zog ich mich in den Schutz des Schachtes zurück. „Sie ist durch diese Tür. Verdammt!“ Aus dem Dunkel des Schachtes heraus beobachtete ich, wie die Perlsüchtigen mit Rohren und Treibhölzern auf die Tür einschlugen.

„Mach auf! Mach die Tür auf!“

„Gib uns das Perl! Es gehört uns!“

Vorsichtig kroch ich rückwärts, bis ich an eine Kreuzung gelangte, wo ich mich umdrehen konnte. In Gedanken versunken krabbelte ich durch die Dunkelheit, ohne zu wissen wohin. Für einen kurzen Moment hatte ich Hoffnung verspürt. Ob die Tür, durch die Teena verschwunden war, zum Sonnenlicht führte?

Ich bog ab und kletterte die Sprossen eines Schachtes hinab. Ich gelangte in eine kleine Kammer, die in dämmrigem Licht schwamm, und blickte mich überrascht um. Ich war schon einmal hier gewesen. An meinem ersten Tag im Unterrumpf hatte hier ein alter Mann geschlafen, an dessen Ohr eine Ratte geknabbert hatte. Er lag auch heute wieder hier. Er hatte sich auf die Seite gedreht und schnarchte. Sein linkes Ohr war fort.

Die Kammer hatte sich fast nicht verändert. Entlang der Wände reihten sich bis auf wenige Ausnahmen dieselben Gegenstände. Der Alte schlief unter seinem schmutzigen Lumpen. Der Geruch seines Getränks schwängerte die Luft.

Ich dachte an Teenas Worte. Stiehl, was du stehlen kannst. Ohne Hast sammelte ich die Gegenstände ein und steckte sie in die Taschen. Sogar die Rattenschwänze.

Mein Blick fiel auf den schlafenden Alten. Und wieder hörte ich Teenas Stimme. Töte ihn, sonst tötet er dich. Ich holte das rostige Messer hervor, das ich aus dem Sortiment des Alten gestohlen hatte. Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich das rostbraune Metall, das matt im Schein der erlöschenden Fackel glänzte. Töten oder getötet werden. Hatte ich wirklich etwas von dem Alten zu befürchten? Wenn du ihn nicht tötest, wird jemand anders es tun. Zum Beispiel er selbst.

Wie damals, als ich zum ersten Mal das Blut einer Ratte getrunken hatte, schien mir, als verließe ich meinen Körper. Ich sah mir selbst dabei zu, wie ich neben dem schlafenden Alten in die Knie ging, ihm das Messer an die Kehle setzte und sie ihm vom einen nicht vorhandenen Ohr bis zum anderen aufschlitzte.

Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1

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