Читать книгу Luis Lobster und das Geheimnis von Nevermore - carla de bakel - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеAnkunft
16. Juni, Samstag
Mr. Barnaby fauchte bösartig und hieb mit ausgefahrenen Krallen gegen die Gitterstäbe seines tragbaren Käfigs. Das fuchsrote Fell sträubte sich und ließ dieses an und für sich schon prächtige Exemplar eines Katers doppelt so groß erscheinen. Der Zollbeamte trat einen Schritt zurück und beäugte skeptisch das winzige, unter den Tatzenhieben erzitternde Vorhängeschloss, das Mr. Barnaby von der Außenwelt fern hielt.
»Was ist das?«, fragte er, »ein Tiger?«
»Sorry«, beruhigte ich ihn, »eigentlich ist er ganz harmlos, aber er hasst es zu reisen.« Ich schaute mich unauffällig in der Schlange um, die sich mittlerweile hinter mir gebildet hatte. Der Herr in dem britischen Tweedjacket und ebensolcher Kappe, der wie Dr. Watson persönlich aussah, guckte genervt auf seine Uhr und das weißgeschminkte, komplett in schwarz gekleidete Gothic-Girl kicherte und wickelte sich eine lila Haarsträhne um den Finger. Der Zollbeamte studierte weiterhin die Einfuhrpapiere für Haustiere innerhalb der EU, unser Kater gebärdete sich mittlerweile wie eine Furie und ich beschloss in genau diesem Moment, mir auf keinen Fall durch nichts und niemanden die gute Laune verderben zu lassen. Denn dieses hier war der Beginn eines wunderbaren neuen Lebens, mit einem Zuhause, wie ich es mir schon lange gewünscht hatte. Außerdem hatte ich die Überfahrt mit der Fähre von Harwich nach Hamburg überstanden - da sollte mich der kleine Zwischenfall hier an der Zollabfertigung im Anleger-Terminal des Hamburger Hafens doch wohl nicht aus der Ruhe bringen. Trotzdem fing ich langsam an zu schwitzen und spürte wie die Röte in mir empor kroch, um sich in meinem Gesicht fest zu setzen. Das hatte den einzig positiven Effekt, dass meine Billionen von Sommersprossen nicht mehr so stark ins Auge stachen.
»Das Tier hat sicher Tollwut!«, behauptete der Beamte jetzt empört und ich konnte ihm das nicht einmal übelnehmen, denn unser Kater hatte mittlerweile buchstäblich Schaum vor dem Maul.
»Nein, nein, dagegen ist er geimpft!«, protestierte ich, »schauen Sie sich den Impfpass an. Ich müsste jetzt dann auch ´mal los. Meine Eltern warten draußen sicher schon auf mich - und Mr. Barnaby.«
Mum und Dad waren bereits vor zwei Wochen nach Hamburg gereist, um unser neues Zuhause vorzubereiten. Ich hatte solange bei Freunden von ihnen in London gewohnt, denn unsere kleine Wohnung in Colchester war bereits weiter vermietet. Auf die Sache mit der Fähre hatte ich mich eingelassen, um unserem geliebten Haustier einen weiteren Flug allein im Gepäckraum eines Flugzeugs zu ersparen. Nach dem letzten Mal hatte Mister Barnaby sich vier Wochen lang unter dem Sofa verkrochen.
Also waren wir gestern Abend an Bord der „Vision of the Sea“ eingecheckt und hatten unsere Innen-Kabine bezogen, die einer fensterlosen Gefängniszelle glich. Wollte man mehr als eine Vision von der See haben, musste man hinauf an Deck. Kaum hatten wir den sicheren Hafen von Harwich verlassen, war jedoch Seegang aufgekommen. Das Schiff hatte begonnen zu stampfen; das bedeutete, es arbeitete sich die von vorne kommenden Wellenberge hinauf, um dann mit einem lauten Krachen ins Wellental zu stürzen. Stampfen ist gar nicht gut für den Magen und die „Vision of the Sea“ war die ganze Nacht bei Windstärke Zehn der Elbmündung vor Hamburg entgegen gestampft. Ich hatte zwei Drittel davon über der Toilette verbracht und dabei die klare Erkenntnis gewonnen, dass ich nicht seefest war. Nachdem sich mein Magen mehr als entleert hatte, traute ich mich den ebenfalls grün aussehenden Kater zu verlassen und mich schwankend hinauf an Deck zu begeben, in der Hoffnung, dass frische Luft mir gut tun würde. Ich war einer Schiffs-Stewardess in einer schicken weißen Uniform in die Arme gelaufen, die mir mitleidig ein Glas Wasser und eine kleine gelbe Pille brachte.
»Gegen Seekrankheit! Hilft schnell, dann fühlst du dich besser und kannst wenigstens noch etwas schlafen«, hatte sie mich getröstet. »Nach drei Tagen auf hoher See ist man übrigens seefest für sein ganzes Leben!«
Ich hatte nur schwach nicken können und die Tablette geschluckt. Wer drei Tage sterbend auf dem Klo überstand, war sicher gegen jedes Übel dieser Welt gefeit.
Der Zöllner hatte Mr. Barnabys Impfpass gefunden und studierte ihn jetzt übellaunig. Hinter mir kam Unruhe auf und so langsam wurde ich auch ungeduldig. Ich wollte endlich unser neues Zuhause sehen, in dem wir länger als vierundzwanzig Monate wohnen würden. Ein richtiges Zuhause sollte es werden, mit einem eigenen Zimmer für mich, das größer war als die Schuhschachteln, in denen ich vorher gehaust hatte. Das hier war unser fünfter Umzug in zwölf Jahren. Vier verschiedene Städte, vier verschiedene Länder mit vier verschiedenen Sprachen. Ich wurde in Hamburg geboren, ging in Paris in den Kindergarten, in Mailand auf die Scuola Elementare und in England auf die High School. Das Helenen - Gymnasium in Hamburg würde meine dritte Schule werden; zum dritten Mal würde ich den Versuch unternehmen, Freunde zu finden. In Colchester hatte ich Maxim, kurz „Max“, meinen besten Freund zurück gelassen und ich vermisste ihn jetzt schon. Aber dafür würden wir hier in Hamburg endlich sesshaft werden, denn Mum und Dad hatten zum ersten Mal eine Festanstellung. Sie arbeiteten beide als Ausstatter für Theater- und Opernproduktionen und waren bisher jahrelang den Jobs hinterher gereist. Ich beugte mich zu dem immer noch tobenden Kater hinunter und flüsterte beschwichtigend auf ihn ein: »Ruhig, mein Lieber; es wird alles gut - wir haben eine Festanstellung, ein Haus und einen Garten!«
»Wums! - Wums! – Wums!« Der Stempel des Zollbeamten knallte mindestens dreimal auf jede Seite der Dokumente. Die Schlange hinter uns atmete hörbar auf und Mr. Barnaby gab endlich Ruhe.
Nachdem ich Mum und Dad in die Arme gefallen, der Kater auf dem Rücksitz neben mir und der Koffer im Kofferraum verstaut war, ging es mit Dads altem Landrover quer durch meine alte Geburtsstadt. Ich versuchte mich an irgendetwas zu erinnern, aber ich war damals einfach noch zu klein gewesen. Mum und Dad hatten vor Monaten einen Makler konsultiert und durch ihn waren wir nun stolze Besitzer eines kleinen Hauses von 1912. „Urig und romantisch“ hatte in dem Expose‘ gestanden und ich wurde von Sekunde zu Sekunde aufgeregter. Endlich kamen wir in unserer neuen Wohnstraße an und Dad parkte vor einem wunderschönen strahlend weißen Haus mit frisch gestrichenen Fensterläden und bunten Blumen vor den Fenstern. Ich war hoch erfreut, doch nur kurz, denn unser neues Haus war das Nachbarhaus: ein windschiefes Spukschlösschen mit Erkern und Türmchen, dass sich in den Schatten einer hundertjährigen Eiche duckte. Die alten Dachziegel waren grün bemoost, der graue Anstrich blätterte ab und die Fensterläden hingen windschief in den Angeln. Dad strahlte mich voller Besitzerstolz an: »Ein bisschen müssen wir außen noch renovieren, aber dann wird es sicher sehr schön!« und Mum nickte fröhlich dazu. Ich sagte besser nichts und trabte stumm hinter ihnen her. Die Eingangstür quietschte fürchterlich und in dem dunklen Flur dahinter roch es muffig. Doch die große Wohnküche, deren Hintertür zu einem kleinen Garten mit einem großen Apfelbaum führte, ließ etwas Hoffnung in mir aufkeimen. Für Mr. Barnaby gab es immerhin einen erstklassigen Kletterbaum! Mum hatte die Wände sonnengelb gestrichen, bunte Vorhänge aufgehängt und auf dem großen runden Esstisch stand ein Schokoplätzchen - Kuchen.
»Willkommen Daheim!« Sie gab mir einen dicken Kuss, schnitt mir ein dickes Stück Kuchen ab und für einen Augenblick fand ich die Welt ganz in Ordnung.
Als ich am Abend in meinem neuen Zimmer in meinem alten Bett lag, konnte ich trotz Schlafmangel (Danke, „Vision of the Sea“!) nicht einschlafen. Ich musste an die neue Schule denken und obwohl es ja nicht der erste Neuantritt dieser Art war, fühlte es sich nicht gut an. Manche Dinge werden eben nicht besser, wenn man sie wiederholt. Dabei war ich diesmal wenigstens der Landessprache mächtig. In Paris, Mailand und wie schon erwähnt, Colchester, einem kleinen Ort nordöstlich von London, in dem wir gewohnt hatten, weil die Mieten in London unbezahlbar waren, hatte ich mich zunächst nur mit Händen und Füßen verständigen können. Der positive Begleiteffekt war, dass ich mittlerweile relativ gut Französisch, Italienisch und Englisch sprach. Und es gab noch einen Pluspunkt für die neue Schule: Keine Schuluniform! Die Dinger waren ziemlich teuer und öfter als einmal im Jahr hatte ich keine neue bekommen. Also hatte ich mich an entweder zu große oder zu kleine graue Flanellhosen und dunkelblaue, mit Wappen bestickte Jerseyblazer gewöhnen müssen und konnte es kaum glauben, dass ich nun anziehen durfte, was ich wollte.
Der Vollmond schien durch das große alte Sprossenfenster, und tauchte mein neues Zimmer in ein gespenstisch weißes Licht. An Schlaf war nicht zu denken, also griff ich mir meinen alten Laptop und schaute nach, ob Max on war.