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Ich warte noch drei Tage, bis ich den Schwangerschaftstest mache. Ich stelle idiotische Berechnungen an – wenn der Juli einunddreißig Tage hat und der August auch, hätte die letzte Menstruation … Keine Ahnung. Vom letzten Monat mit Santiago erinnere ich so gut wie nichts, bloß die Streitereien, die verletzenden Äußerungen, das dunkle Zimmer, Santiagos Körper auf mir, wir sehen uns aber nicht an, alles ist viel zu traurig. Ich weiß auch nicht mehr, wann ich das letzte Mal meine Tage hatte. Dafür weiß ich noch genau, wie ich eines Nachts zu Leonardo kam, wir haben eine Unmenge Wodka getrunken, und ich habe ihm erzählt, dass ich dabei bin, mich zu trennen, da hat er gesagt, ich soll bei ihm übernachten, irgendwann saß ich dann auf ihm, in seinem Bett, und als es draußen langsam wieder hell wurde, lag er neben mir und schnarchte, und ich wollte bloß noch fort, an einen Ort nur für mich, weit weg von allem.

Ich gebe mir große Mühe, mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal mit Blutflecken, Binden und Ibuevanol zu tun hatte, aber ich komme einfach nicht darauf. Ich ärgere mich, dass ich lauter Sachen aus dem Gedächtnis hervorkramen soll, ich bin doch gerade deshalb so weit weggefahren, damit ich mich von alldem erholen kann. Dann sage ich mir, kann ja sein, dass es bald losgeht. Am Morgen bleibe ich ewig lang im Bett, fürs Frühstück ist es deshalb zu spät, mittags mache ich einen Spaziergang, und danach lege ich mich gleich wieder hin. Einmal komme ich mit einer Japanerin aus dem Wohnheim ins Gespräch, sie ist sympathisch, studiert deutsche Philologie und heißt Shanice. Sie ist fast die einzige Person, mit der ich mich in diesen Tagen unterhalte. Ich merke, dass auch sie auf der Flucht ist, allerdings hat sie die Sache viel besser organisiert. Ein Studium in Deutschland ist für Japaner offenbar so etwas wie eine große Party. Wie die meisten Studenten hier im Wohnheim ist auch Shanice mehrere Jahre jünger als ich. Einmal erzählt sie, dass sie beschlossen hat, aus Japan fortzugehen, nachdem zwei Studienkollegen von ihr Selbstmord begangen hatten. Lächelnd sagt sie: »Es ist so einfach, sich vor einen Zug zu werfen, das ist ganz leicht, auch wenn es einem eigentlich gut geht, kann man das machen.«

Miguel Javier steht sehr früh auf und verbringt fast den ganzen Tag in der Universität, wir laufen uns kaum noch über den Weg. Ich lasse also drei Tage verstreichen, aber es tut sich immer noch nichts. Ich weiß nicht, wie ich hier an einen Schwangerschaftstest kommen soll. Ich frage Shanice, ob sie mir helfen kann. Sie hört aufmerksam zu und übernimmt die Sache, als handelte es sich um einen Geheimauftrag, bei dessen Erledigung uns nicht der geringste Fehler unterlaufen darf.

Schon bald steht sie wieder vor mir in meinem Zimmer und übergibt mir eine Schachtel, die sie in der Apotheke gekauft hat. Zusammen lesen wir die dreisprachige Gebrauchsanweisung – in das Döschen pinkeln, den Teststreifen reinlegen, drei Minuten warten, ist anschließend nur ein Strich zu sehen, ist das Ergebnis negativ, sind es zwei Striche, heißt das: positiv. Ganz einfach, also, los geht’s. Ich bedanke mich bei Shanice, aber sie bleibt vor mir stehen. Sie sieht mich an und erwartet offensichtlich, dass ich jetzt ins Bad gehe und ihr danach sage, was rausgekommen ist. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage, sie soll mich bitte allein lassen. Nein, erwidert sie, in so einer Situation lässt sie mich doch nicht allein. Sie steht da wie ein japanischer Soldat, und ich habe das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein. Andererseits weiß ich nicht, wie ich ihr in diesem Augenblick etwas klarmachen soll, was auch immer, mir fehlt die Kraft dazu. Schließlich nehme ich die Schachtel mit dem Test und gehe ins Bad. Ich mache alles genau, wie es in der Gebrauchsanweisung steht: Ich pinkle in das Döschen, stelle es auf den Boden und lege den Streifen hinein. Dann warte ich, wie angegeben, drei Minuten. Währenddessen versuche ich, mich mit meinem Spiegelbild abzulenken. Ich werde meiner Mutter immer ähnlicher. Als meine Eltern damals nach Heidelberg kamen, war sie schwanger, aber das wusste sie nicht. Ob sie sich gefreut haben, als es feststand? Ob mein Vater Brot, Würstchen und eine Flasche Wein gekauft hat? Ob sie darauf angestoßen haben? Ob sie die ganze Nacht wach waren und Zukunftspläne gemacht haben? Ob sie gleich zu Hause anrufen wollten, bei ihren Familien, und die Nachricht bekanntgeben? Ob sie gelacht haben?

Ich bücke mich, um das, was ich gerade im Stehen gesehen habe, genauer in Augenschein nehmen zu können – zwei deutlich erkennbare Striche. Ich drehe den Streifen um, schüttele ihn, sehe ihn mir erneut an. Die zwei Striche sind immer noch da. Ich wasche mir die Hände und verlasse das Bad. Shanice sitzt auf meinem Bett und sieht mich erwartungsvoll an. Ich sage ihr die Wahrheit: »Positiv. Mal sehen, was ich jetzt mache.« Dann bitte ich sie mit Nachdruck um zwei Dinge: »Sag niemandem was! Und jetzt geh, bitte!« Shanice umarmt mich, bevor sie das Zimmer verlässt. Ich verriegele die Tür und wandere eine Weile hin und her. Dann setze ich mich aufs Bett. Ich öffne die Packung Kekse und die Flasche Apfelsaft, die ich gestern gekauft habe. Der Saft schmeckt köstlich, ich fühle, dass meine Muskeln sich entspannen, der Druck in der Brust lässt nach und das Kinn fängt an zu zittern. Ich presse den Kopf ins Kissen und weine, bis ich einschlafe.

Das deutsche Zimmer

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