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Erstes kapitel

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Zwei Wetten

Der Kalender zeigte an, daß es nur noch acht Tage bis Weihnachten war – und natürlich log der Kalender nicht. Dem Wetter nach zu urteilen hätte man es sonst nicht glauben können. Der Regen strömte hernieder, wie Sturzbäche liefen die Wasserfluten durch die Ablaufrohre der Häuser, und der Wind zerrte wütend an dem alten Kastanienbaum, der mitten auf dem regennassen Schulhof stand und seine kahlen Äste zum grauen Himmel emporstreckte. Alles war grau und trostlos, sowohl die Natur als auch die Stimmung der Menschenkinder.

Vor dem großen Schulhaus herrschte sonst immer lautes Leben, wenn die Glocke zum letztenmal geläutet hatte und den vierhundert munteren Knaben die goldene Freiheit des Nachmittags winkte. Heute aber war es anders. Mit verdrossener Miene schlugen die Knaben den Mantelkragen in die Höhe, steckten die Hände in die Taschen und trotteten gebeugten Hauptes durch den peitschenden Regen. Nur ein paar Jungen aus der untersten Klasse fanden das schlechte Wetter sehr lustig. Mit vergnügten Jubelrufen planschten sie in die größten Pfützen, um zu zeigen, daß hohe Gummistiefel zu den besten Erfindungen gehörten, die sich für unternehmungslustige Buben denken ließen. Der keckste von ihnen tat außerdem seine Lebensfreude damit kund, daß er Wasser nach rechts und links verspritzte; doch verschwand er blitzschnell, als sich einer der »Großen«, der einen Guß abbekommen hatte, mit drohender Miene näherte, die Hand zu einer gelinden Abreibung erhoben.

Jan Helmer, der Sohn des bekannten Kriminalkommissars, und sein Freund Erling Krag waren unter den letzten, die das Schulhaus verließen.

Jan schlug den Kragen in die Höhe und spähte zum Himmel hinauf, um zu schauen, ob sich nicht doch eine kleine Aufhellung zeigte. Es sah keineswegs danach aus, und er wandte sich mißmutig an seinen Freund: »Scheußliches Wetter, nicht?«

»Das läßt sich nicht bestreiten, lieber Sherlock Holmes«, antwortete Erling und schlug ebenfalls den Kragen hoch.

»Und in einer Woche ist Weihnachten«, fügte Jan hinzu.

»Kann auch nicht bestritten werden«, nickte Erling mit leichtem Spott und machte sich auf den Weg. »Die sattsam bekannte ›weiße Weihnacht‹ findet sich schon seit langem bloß auf Weihnachtspostkarten und in der Phantasie der Romanschriftsteller ...«

»Was wirst du in den Ferien machen?« schnitt ihm Jan das Wort ab.

»Schlafen!«

»Schlafen? Du gedenkst doch wohl nicht die ganzen Ferien durchzuschlafen?«

»Doch, das will ich. Was könnte man denn bei solchem Hundewetter sonst unternehmen?«

Jan lachte. »Na, wenn ich dich richtig kenne, wird ein großer Teil der Zeit damit vergehen, daß du den Weihnachtsbraten und Süßigkeiten verspeist.«

»Nein, mein Lieber, ich mache gerade eine Abmagerungskur«, entgegnete Erling und seufzte so tief, daß es einen Stein hätte rühren müssen.

»Was machst du?« rief Jan und blieb mit verwundertem Ausdruck stehen.

»Eine Abmagerungskur«, wiederholte Erling mit Leidensmiene. »Die Verlängerung meines Rückens ist zu dick geworden, und ich habe mit Vater gewettet, daß ich vor dem ersten Mai zehn Kilo abgenommen haben werde.«

»Heiliger Bimbam!« staunte Jan überwältigt. »Das ist das letzte, was ich glauben kann. Das soll wohl ein Witz sein?«

»Nein, ich war noch nie in meinem Leben so todernst«, beteuerte Erling in düsterem Tone.

»Hm. Seit wann machst du denn die Abmagerungskur?«

»Seit heute morgen. Wenn du deinen Detektivblick etwas besser gebraucht hättest, wäre dir aufgefallen, daß ich heute nur acht belegte Brote mithatte.«

»Ich fand, dein Paket hätte das übliche Riesenformat gehabt.«

»Das ist unmöglich, denn es enthielt vier Brote weniger. Ich bat zwar unser Mädchen, die übrigen Brote deshalb etwas dicker zu belegen, aber ...«

»Soso«, lachte Jan. »Na, da wird die ›Abmagerungskur‹ ja sicher helfen! Ich hätte gute Lust, mich auf seiten deines Vaters an der Wette zu beteiligen.«

»Sei nicht so leichtsinnig, lieber Freund! Du kennst den eisernen Willen nicht, der sich unter dieser Mütze verbirgt. Am ersten Mai wird mein Vater um fünfzig Kronen ärmer sein, wenigstens glaube ich es.«

»Willst du die ganzen Weihnachtsferien durchschlafen, um den nagenden Hunger zu vergessen?«

»Ja. Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?«

»Noch nicht, aber es könnte sein, daß ich dir morgen einen mache.«

»Du sprichst immer in Rätseln, lieber Meisterdetektiv. Darf ich hoffen, daß du dich deutlicher ausdrücken wirst?«

»Ja, dazu bin ich gern bereit«, lächelte Jan. »Onkel Christian ist heute zu uns auf Besuch gekommen, und ich habe das Gefühl, daß er Lis und mich für die Weihnachtsferien nach Raunstal einladen wird. In diesem Falle wärest du natürlich auch dabei.«

»Nein, danke.«

Jan sah seinen Freund überrascht an. »Was? Du willst nicht mit nach Raunstal? Warum denn nicht?«

»Aus drei Gründen. Erstens: weil man in dem Kopenhagener Regen ebenso gut Fußbäder nehmen kann wie im jütländischen. Zweitens: weil ich beschlossen habe, die ganzen Ferien durchzuschlafen, und es ist mir noch nie gelungen, mich der Ruhe hinzugeben, wenn du in der Nähe bist. Drittens: weil es unhöflich wäre, auf alle die Leckerbissen zu verzichten, die Fräulein Madsen auf den Weihnachtstisch von Raunstal zaubern wird. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, wenn ich nur an die Hähnchen und an den Apfelkuchen denke, die Mads uns bei unserem letzten Besuch vorsetzte ... mhm!«

»Nein, das sind wirklich sehr flaue Entschuldigungen«, erwiderte Jan bestimmt. »Es wäre doch höchst sonderbar, wenn es während der ganzen Weihnachtsferien regnen würde, und es wäre noch sonderbarer, wenn wir auch diesmal in Raunstal auf einen Verbrecher stoßen würden, der uns beide in Atem hält. Was deine dritte Entschuldigung betrifft, so muß ich auf den eisernen Willen verweisen, von dem du vorhin sprachst; denn du kannst darauf bauen, daß Mads dich nicht zum Essen zwingen wird, wenn sie hört, daß du eine Abmagerungskur machst. Hingegen gibt es einen sehr wichtigen Grund für dich, nach Raunstal mitzukommen ...«

»So? Was denn für einen?«

»Du mußt natürlich mitkommen, um unsern alten Freund, den Klondyke-Carl, zu begrüßen. Er ist doch Landwirtseleve bei Onkel Christian geworden.«

»Ja, es war nett von dir, ihm den Gefallen zu tun und ihn dort unterzubringen«, nickte Erling und strich sich den Regen aus dem tropfnassen Gesicht. »Aber er verdiente es auch. Ach, weißt du noch, was für aufregende Dinge wir mit ihm und den andern Klondykern erlebten?«

»Und ob ich das noch weiß! An jede Einzelheit erinnere ich mich. Carl Jensen ist ein Prachtkerl, und Onkel Christian schrieb vor zwei Monaten, daß er sicher ein tüchtiger Landwirt werden würde. Er ginge mit Leib und Seele in der Arbeit auf. Es wird fein sein, ihn wiederzusehen!«

»Ja, da hast du recht«, räumte Erling ein wenig unsicher ein. »Aber eine Kleinigkeit hast du offenbar vergessen.«

»Was denn?« fragte Jan.

»Wir sind ja noch gar nicht eingeladen.«

»Ach, wenn’s weiter nichts ist!« lachte Jan. »Die Einladung wird schon erfolgen. Sonst laden wir uns eben selbst ein!«

»Du siegst immer mit deiner Freimütigkeit und Unbefangenheit«, seufzte Erling. »Ja, da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als für die Einladung zu danken ...«

Erling brach plötzlich ab und blieb vor einem Schokoladegeschäft stehen, in dessen Schaufenster alle möglichen Leckereien prangten.

»Du, nimm dich zusammen«, mahnte Jan, der sich sofort über die Lage klar war. »Heute gibt’s keine Rahmkaramellen!«

»Nur eine einzige ...«

»Unter keiner Bedingung! Du machst eine Abmagerungskur!«

Jan packte den Freund am Arm, und Erling ließ sich mit leichtem Widerstreben durch den Regen weiterziehen.

Kriminalkommissar Mogens Helmer saß in seiner behaglichen Wohnstube und unterhielt sich mit seinem Bruder, dem Gutsbesitzer Christian Helmer. Das ganze Zimmer war mit Zigarrenrauch gefüllt.

Der Gutsbesitzer lehnte sich in dem breiten Sessel zurück und tat ein paar kräftige Züge an seiner Zigarre. Dann betrachtete er seinen Bruder mit einem kleinen Lächeln und fragte: »Na, wagst du es, mit mir um eine Kiste Zigarren zu wetten, Mogens?«

»Du wirst die Wette verlieren, Christian«, entgegnete der Kriminalkommissar.

»Dann gehst du ja kein Wagnis ein, wenn du wettest«, lachte Christian Helmer. »Aber ich bin keineswegs sicher, daß ich verlieren werde. Auf alle Fälle könnte es ein sehr lustiger Weihnachtsspaß werden, findest du nicht auch?«

»Nun ja ...«

»Zieh die Sache doch nicht so in die Länge, alter Spürhund!« lachte der Gutsbesitzer gemütlich. »Es ist also abgemacht, wir wetten um eine Kiste Zigarren, daß der vortreffliche Jan ...«

Christian Helmer hielt unvermittelt inne, weil die Tür geöffnet wurde. Frau Helmer kam herein, um den Kaffeetisch zu decken.

»Puha!« rief sie lachend und wedelte mit der Hand durch den dichten Tabaksrauch. »Es ist doch unbegreiflich, daß ihr Männer einen Genuß davon habt, solche ... solche ...«

»Glimmstengel zu paffen«, schlug der Gutsbesitzer vor und lachte dröhnend. »Sag ruhig, was du meinst, liebe Schwägerin. Allerdings ist es schade um deine sauberen Gardinen, aber das Zeug schmeckt nun einmal verteufelt gut.«

Frau Helmer betrachtete ihren Mann und ihren Schwager lächelnd. Dann fragte sie unvermittelt: »Worum habt ihr eigentlich gewettet?«

»Gewettet?« wiederholte der Kriminalkommissar unschuldig.

»Ja, ich hörte es deutlich.«

»Dann mußt du an der Tür gehorcht haben, Mütterchen.«

»Nein, darüber bin ich seit vielen Jahren hinausgewachsen«, lachte Frau Helmer. »Aber Christian hat ja eine Stimme wie Diogenes.«

»Demosthenes, Mütterchen!« verbesserte Mogens Helmer. »Du irrst dich immer bei den alten Griechen. Diogenes war der Philosoph in der Tonne ...«

»Ja, und Demosthenes war der, der mit einem Stein im Mund Sprechübungen machte und den Sturm zu übertönen suchte ... jetzt weiß ich es wieder ... aber lassen wir uns nicht zu sehr auf die alten Griechen ein, Mogens, sonst vergessen wir, worüber wir eigentlich reden wollten. Ihr möchtet die Sache mit der Wette offenbar lieber verschweigen. Es handelt sich um Jan ...«

»Die Wette ist soweit kein Geheimnis«, fiel der Kriminalkommissar schnell ein. »Du wirst schon noch erfahren, worum sie sich dreht ... später ...«

Frau Helmer musterte leicht verwundert die beiden Herren, die augenblicklich zwei großen Schuljungen auf verbotenen Wegen glichen. Schließlich schüttelte sie ergeben den Kopf und begann den Kaffeetisch zu decken.

Mogens Helmer sah ihr ein Weilchen zu. Dann sagte er munter: »Christian hätte dich und die Kinder gern über Weihnachten in Raunstal. Ich kann leider wegen des Dienstes nicht gut weg ...«

»Dann möchte ich auch lieber hierbleiben, Mogens«, unterbrach sie ihn, »das wirst du wohl begreifen. Glaubst du etwa, ich könnte es ertragen, dich am Weihnachtsabend ganz allein zu wissen?« Frau Helmer wandte sich an ihren Schwager: »Lieb von dir, Jan und Lis einzuladen, Christian; sie werden sich sehr darüber freuen. Hoffentlich besteht diesmal nicht wieder die Gefahr, daß Jan in eine Wildereraffäre oder etwas Ähnliches gerät? Du weißt ja, daß man bei dem Jungen nie ruhig sein kann.«

»Ach was, er ist ja bald ein ausgewachsenes Mannsbild«, meinte der Gutsbesitzer mit einem beschwichtigenden Lächeln.

»Ja, das sagt ihr so, du und Mogens, aber eine Mutter sieht die Sache anders an. Als er die Ferienfahrt auf der ›Oceanic‹ machte, wurde er sogar niedergeschlagen, und bei ihm kann man nie wissen, ob er nicht in noch viel schlimmere Dinge gerät.«

»In der friedlichen Weihnachtszeit gibt es sicher keine Gefahren für den Jungen«, erwiderte der Gutsbesitzer gemütlich. »Zur Sicherheit kann er ja euren Boy und seinen dicken Freund Erling als Leibwächter mitnehmen. Erling habe ich seit fast anderthalb Jahren nicht mehr gesehen, und ich würde mich freuen, wieder einmal seine Gesellschaft zu haben. Die beiden Buben und der Hund sollten wahrhaftig mit jeder Lage fertig werden.«

»Es wird eines Tages schlimm enden, Christian!«

»Dummes Zeug, Mütterchen!« fiel der Kriminalkommissar ein. »Der kleine Denkzettel, den Jan auf der ›Oceanic‹ erhielt, hat ihn sicher vorsichtiger gemacht; und jedenfalls sind die Kinder in Raunstal in guten Händen. Du siehst bald wirklich überall nur noch Verbrecher.«

»Das kommt davon, wenn man mit dem ›Schrekken der Verbrecher‹ verheiratet ist«, lachte Christian Helmer.

Spuren im Schnee

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