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Drittes kapitel
ОглавлениеKlondyke-Carl
Es begann schon zu dämmern, als der Schlitten durch den Torbogen von Raunstal fuhr. Die Glocken klingelten lustig unter dem Steingewölbe und lockten eine kräftig und derb aussehende Dame auf die Freitreppe. Das war Fräulein Madsen, die Haushälterin von Raunstal, die allgemein »Mads« genannt wurde, worüber sie keineswegs beleidigt war.
»Willkommen auf Raunstal, Kinder!« rief sie herzlich und ging den Gästen entgegen.
Nachdem sie Jan und Lis begrüßt hatte, ergriff sie Erlings Hand und schüttelte sie kräftig. »Na, Erling, du siehst ja nicht aus, als ob du Not gelitten hättest, seit du hier warst! Du kannst dich darauf verlassen, daß ich deine Lieblingsspeisen noch weiß, obwohl es anderthalb Jahre her sind, seit ich sie dir vorsetzte. Hoffentlich ist dein Appetit immer in Ordnung?«
»Ja, besten Dank«, murmelte Erling, dem ein Klumpen im Halse saß.
»Heute abend bekommst du Apfelkuchen mit Schlagrahm, und ich habe schon das größte Glas Erdbeerkonfitüre für dich aus dem Keller geholt.«
»Oh!« stöhnte Erling und rollte verzweifelt die Augen. »Aber ich mache gerade ...«
Christian Helmer unterbrach ihn lachend: »Mads schließt immer alle Menschen ins Herz, die ihre Kochkunst zu würdigen wissen. Du hast also einen ganz besonders großen Stein bei ihr im Brett, Erling. Versprich mir, daß du sie nicht enttäuschen wirst.«
»Finden Sie nicht, daß Erling abgenommen hat, Fräulein Madsen?« fragte Lis mit ihrer unschuldigsten Miene.
»Ja, wahrhaftig!« rief Mads, nachdem sie den unglücklichen Erling eingehend gemustert hatte. »Du Armer, in Kopenhagen gibt es eben nicht so gute, nahrhafte Sachen wie hier auf dem Lande. Aber warte nur, ich werde schon dafür sorgen, daß du wieder zu Fleisch kommst.«
»Au!« schrie Lis auf, als Erling sie nachdrücklich in den Arm kniff.
Eine riesige Gestalt mit breiten Schultern trabte in diesem Augenblick auf die Gruppe zu. Das war der Großknecht Anders, der die Gäste nicht minder herzlich willkommen hieß, ehe er den Schlitten zur Remise hinüberlenkte. Mit lauter Stimme sang er in völlig falschen Tönen eins der Lieder, die er auf seinem Repertoire hatte, und die Kinder lachten. Es war richtig gemütlich, Anders’ Gesangsleistungen wieder einmal zu hören.
»Zu einem Caruso hat Anders sich inzwischen ja nicht entwickelt«, bemerkte Erling.
»Ich finde eher, mit den Jahren wird es immer schlimmer«, lächelte Helmer, »aber Anders war von jeher ein begeisterter Sänger. Ich glaube gar, er trägt sich mit dem Plan, in Silkeborg Gesangstunden zu nehmen.«
»Das arme Silkeborg!« antwortete Erling mit Überzeugung.
»Nun wollen wir aber hineingehen«, mahnte Mads. »Sonst endet es noch damit, daß wir festfrieren.«
Sie ging die Freitreppe hinauf, gefolgt von Lis.
Jan blickte sich suchend um. Dann wandte er sich an den Onkel und fragte: »Wo ist eigentlich Carl?«
»Carl? Ja, den solltet ihr wirklich rasch begrüßen. Lauft zum Kuhstall hinüber und schaut nach, ob er dort ist. Aber bleibt nicht zu lange fort. Mads freut sich schon darauf, zu sehen, wie ihr beim Abendbrot einhaut.«
»Ja, aber, Herr Helmer, ich mache doch gerade ...« begann Erling zaghaft.
»Schon gut, schon gut, mein Junge«, fiel Helmer lachend ein. »Lauft nur jetzt hinüber und begrüßt euren Freund. Anders trägt eure Koffer ins Zimmer hinauf.«
Die Knaben liefen über den sauberen Weg auf die Stalltüre zu. Jan führte, Erling kam keuchend einige Schritte hinterdrein.
Am Stalleingang prallte Jan beinahe mit Carl zusammen, der seine Freunde offenbar durch das Fenster erspäht hatte.
»Guten Tag, Carl, alter Freund!« grüßte Jan und gab Carl einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. »Herrlich, dich wiederzusehen!«
»Ganz meinerseits, Jan«, antwortete Carl mit breitem Lächeln. »Guten Tag, Erling.«
»Wie geht’s, Klondyke-Carl?« grüßte Erling munter. »Hast du gesehen, Jan, wie der Bursche sich entwickelt hat? Er muß ja einen Ochsen mit einem Faustschlag umlegen können.«
»Das habe ich noch nie versucht«, grinste Carl, »aber ich kann zwei Säcke Korn auf einmal auf den Mühlspeicher hinauftragen.«
»Zwei Säcke?« wiederholte Jan und betrachtete den Freund bewundernd. »Das ist ja genauso viel, wie Anders tragen kann.«
»Nein, er kann drei aufs Mal schleppen«, berichtigte Carl bescheiden. »In zwei Jahren werde ich das vielleicht auch fertigbringen. Ich bin sehr froh, daß du deinen Onkel veranlaßt hast, mich als Eleven aufzunehmen, Jan. Ich weiß nur nicht, wie ich dir danken soll ...«
Carl begann zu stammeln, und Jan versetzte ihm abermals einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. »Da gibt’s wirklich nichts zu danken, Carl. Du warst uns immer ein guter Freund, und da du unbedingt Landwirtschaft erlernen wolltest, war es ja ganz natürlich, daß ich dich meinem Onkel empfahl.«
»Doch, Jan, ich schulde dir Dank für so vieles, und ich schulde auch deinem Onkel Dank ... aber es wird schon ein Tag kommen, an dem ich es euch vergelten kann.«
»Es ist Dank genug, wenn du deine Arbeit gut machst, und daran zweifle ich nicht.«
»Ist dein Onkel zufrieden mit mir?«
»Oh, da kannst du sicher sein!«
Carls ehrliche blaue Augen leuchteten vor Freude. »Ich will noch tüchtiger werden«, erklärte er. »Du kannst mir glauben, Jan, die Arbeit hier ist etwas anderes, als in Kopenhagen mit dem Fahrrad herumzugondeln und Waren auszutragen. Wenn ich abends zu Bett gehe, freue ich mich immer schon aufs Aufstehen. Meine Kameraden hier auf dem Hof sind prächtige Burschen, und die Tiere, Jan, die Tiere ... oh, mit denen bin ich gut Freund. Wir haben einen feinen Bestand hier. Herr Helmer hat bei der letzten Jungtierschau drei Preise gewonnen.«
»Vermißt du nicht manchmal die Klondyker Buben?« fragte Erling.
»Nein ... jetzt nicht mehr, nur in den ersten Wochen haben sie mir oft gefehlt. Das waren ja auch wirklich flotte Kerle. Wir hatten viel Spaß miteinander, und an tollen Ereignissen fehlte es nie.«
»Hier auf Raunstal geht es wahrscheinlich friedlicher zu«, meinte Jan mit einem kleinen Lächeln.
Carl nickte.
»Herr Helmer bekommt öfters Besuch von den Nachbargütern, aber sonst sehen wir keine Seele außer dem Postboten, Geschäftsvertretern, die mit dem Auto erscheinen, und Landstreichern.«
»Aber im Winter kommen doch keine Landstreicher?«
»Sehr selten. Sie halten sich ja meist in den Städten auf, wenn der Schnee auf den Landstraßen hoch liegt. Vor zwei Stunden war übrigens einer hier. Er verschwand eiligst, als er mich erblickte.«
»Was? Er verschwand?« wiederholte Jan verwundert. »Tun sie das immer?«
»Nein, in der Regel kommen sie ja, um sich etwas zu essen geben zu lassen oder um einen Batzen zu erbetteln. Manche fragen, ob sie in der Scheune schlafen dürfen; aber das erlaubt Herr Helmer nie. Vagabunden und Bettler sind oft mit dem Feuer unvorsichtig, und viele Höfe sind dadurch schon abgebrannt. Hingegen bekommen sie bei uns immer Essen und etwas Geld.«
»Dann verstehe ich nicht, warum der Mann, den du erwähntest, davonlief.«
»Vielleicht rappelte es bei ihm ein wenig«, meinte Carl.
»Wo hast du ihn denn gesehen?«
»Hinter der Scheune.«
»Dort ist doch kein Eingang, oder?«
»Nein, im allgemeinen kommen die Leute durch das große Tor.«
»Wie sah der Kerl aus?« erkundigte sich Jan, der plötzlich sehr ernst geworden war. »Konntest du ihn näher betrachten, Carl?«
»Ja, er war groß und dünn, und er ging gebückt ... die Arme ließ er baumeln wie die Affen im Zoologischen Garten.«
»War er unrasiert?«
»Ja, natürlich, das sind sie ja immer ...«
»Was für Augen hatte er?«
»Er hatte schwarze, stechende Augen, richtig böse Augen.«
»Und er trug eine Mütze, nicht wahr?«
»Stimmt«, nickte Carl überrascht. »Hast du ihn am Ende auch gesehen?«
»Ja, leider!«
In kurzen Worten schilderte Jan die Begegnung mit Niels Boelsen, der als Wilderer und Helfershelfer eines Bankräubers im Gefängnis gesessen hatte. Carl lauschte mit halboffenem Munde, und unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten.
»Weißt du«, sagte Carl, nachdem Jan geendet hatte, »ich werde den Gedanken nicht los, daß der Kerl hier herumschleicht, um eine Gelegenheit zu erspähen, wie er sich an deinem Onkel rächen könnte. Wenn ich ihn in die Finger bekomme, werde ich Mus aus ihm machen!«
Jan schüttelte abwehrend den Kopf. »Nein, laß das sein, Carl. Wir haben kein Recht, uns als Richter aufzuspielen. Wenn du ihn wieder triffst, bring ihn lieber zu meinem Onkel, der dann bestimmen mag, was mit ihm geschehen soll. Hoffentlich kommt Niels Boelsen aber nicht wieder her.«
»Wir sollten uns lieber auf das Schlimmste vorbereiten«, sagte Erling mit bedenklicher Miene. »Vieles scheint darauf hinzudeuten, daß die Weihnachtsferien doch nicht so friedlich verlaufen werden, wie wir gedacht haben, lieber Sherlock Holmes! Solche Gesellen wie Niels Boelsen nehmen die heilige Weihnachtszeit sicher nicht so feierlich.«
Kurz darauf verabschiedeten sich die beiden Jungen von Carl. Es schneite immer noch, als sie den Kuhstall verließen. Die erhellten Fenster des Gutshauses warfen ihr warmes gelbes Licht über den weißen Platz. Die Schneeflocken glitzerten wie kleine Blitze, wenn sie wirbelnd in den Lichtschein vor den Fenstern gerieten. Das große, breite Haus sah so gemütlich und anheimelnd aus, und Erling mußte plötzlich daran denken, daß hinter den erhellten Fenstern ein schön gedeckter Abendbrottisch wartete, hergerichtet von der unvergleichlichen Mads. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als er ein geradezu schmerzendes Hungergefühl in der Magengegend spürte.