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Zweites kapitel

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Eine unerwartete Begegnung

Das Wetter änderte sich plötzlich und besann sich auf die Überlieferung. Im Verlauf der beiden nächsten Tage fiel die Temperatur stark, und in der dritten Nacht barst der schneeschwere Himmel und entsandte seinen weißen Flockeninhalt fast über das ganze Land. Für die Kinder und den Schäferhund Boy wurde die Reise nach Raunstal zu einem Erlebnis. Die Kinder genossen die Fahrt durch das weiße Märchenreich, und Boy unterhielt sich damit, hinter den Fensterscheiben des Zugabteils nach den weißen Flocken zu schnappen, die draußen dicht fielen. Der kluge Polizeihund entdeckte zwar sofort, daß sich die weißen Flocken nicht fangen ließen; doch als er merkte, daß seine Reisegefährten sich über die vergeblichen Anstrengungen belustigten, schnappte er getreulich weiter, und Erling ermunterte ihn nach bestem Vermögen.

Am Nachmittag langten sie auf der kleinen ländlichen Station an, wo Gutsbesitzer Helmer sie abholen sollte. Der Zug konnte sich noch ohne Schneepflug behelfen; aber die Fahrt war für ihn nicht ganz einfach, und die Lokomotive keuchte schwer, als der Zug an dem schneebedeckten Bahnsteig hielt. Das Dach des kleinen Bahnhofs trug eine dicke Schneeschicht, die Bäume zeigten das schönste weiße Flechtwerk gegen den grauen Himmel, und auf der anderen Seite der Bahnlinie waren die Schneewehen in Mannshöhe angehäuft. Immer noch fielen die Flokken in dichter Menge, und die Augen der jungen Reisenden strahlten.

Jan sprang als erster aus dem Zug; er hob das gesamte Gepäck herunter. Dann folgte Lis mit Boy an der Leine, und zuletzt kam der würdige Erling mit drei Paar Schiern über der Schulter.

»Willkommen, Kinder!« ertönte eine laute Stimme, und Christian Helmer zeigte sich in der Tür des Wartesaals.

Er streichelte den begeisterten Boy mit der linken Hand, während er mit der rechten den Kindern einen so herzlichen Händedruck austeilte, daß ihnen die Finger weh taten. Dann kniff er Erling gemütlich in die runden roten Backen und bemerkte: »Du siehst ein bißchen hohlwangig aus, lieber Freund.«

»Ich mache ja auch gerade eine Abmagerungskur, Herr Helmer«, antwortete Erling höflich.

»Was? Eine Abmagerungskur? Du bist wirklich köstlich!« lachte der Gutsbesitzer. »Du warst ja immer ein Witzbold, Erling.«

»Das ist kein Witz, Herr Helmer«, entgegnete Erling mit großer Würde. »Ich mache wirklich eine Abmagerungskur.«

»Hahaha! Diese Mucken werden wir dir schnell austreiben!«

»Erling hat einen eisernen Willen«, fiel Jan nekkend ein.

»Einen eisernen Willen? Haha, den hat Mads wahrhaftig auch, darauf könnt ihr euch verlassen. Sie hat all die guten Sachen und Leckereien gemacht, von denen Erling so begeistert war, als er das letztemal hier war, und da möchte ich sehen, ob er es übers Herz bringt, nein zu sagen, wenn Mads sie ihm anbietet!«

»Das wird eine Qual werden«, sagte Erling bedrückt. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen beim Gedanken an alle die Herrlichkeiten, die Fräulein Madsen ihm vor anderthalb Jahren aufgetischt hatte.

»Mit Mads ist nicht zu spaßen, mein tapferer Freund; Qual ist also ein gelinder Ausdruck. Du kannst dich ebensogut von Anfang an unter ihren festen Willen beugen. Das habe ich schon vor mehreren Jahren getan. So, nun kommt aber zum Schlitten ...«

»Zum Schlitten?« rief Jan freudig. »Fahren wir denn mit dem Schlitten?«

»Ja, glaubst du etwa, du würdest im Landauer abgeholt, wenn der Schnee einen halben Meter hoch auf der Landstraße liegt? Es ist übrigens ein guter Gedanke, daß ihr die Schier mitgebracht habt. In der Nähe von Raunstal haben wir ja glänzendes Schigelände.«

»Oh, die Weihnachtsferien werden herrlich werden!« rief Jan und machte beinahe einen Luftsprung vor Begeisterung.

»Ist es nicht nett, zu sehen, wie der Junge sich freut, Onkel?« bemerkte Lis überlegen.

»Dich hat niemand gefragt, junger Naseweis«, sagte Jan. »Hör bloß auf, die Dame zu spielen. Wir haben wohl gesehen, wie deine Augen glänzten, als du dir im Zug die Nase am Fenster platt drücktest.«

»Die junge Dame ist vielleicht zu alt, um auf Schiern zu stehen«, zog Erling sie auf.

»Ich werde schon so laufen, daß du überhaupt nicht mitkommst, Dicksack!« erklärte Lis und warf den Kopf in den Nacken.

»Dazu gehört nicht viel, verehrtes Fräulein«, räumte Erling ein. »Es würde mir mehr Eindruck machen, wenn du so läufst, daß Jan nicht mitkommt; aber einen solchen Versuch wirst du wohlweislich unterlassen!«

Lis schnaubte nur und ging mit hocherhobenem Kopf durch den Wartesaal.

Fünf Minuten später waren Schier und Gepäck hinten im Schlitten verstaut, und Lis und die Buben saßen frohgelaunt unter einer dicken Lammfelldecke. Boy ließ sich folgsam auf dem Boden des Schlittens nieder, und Christian Helmer knöpfte das viereckige Lederstück ein, das den Hund und die Fahrgäste vor dem Schnee schützte.

»Na, sitzt ihr gut, Kinder?« erkundigte er sich.

»Ausgezeichnet!« antworteten die Buben wie aus einem Munde.

Lis begnügte sich damit, vornehm zu nicken. Helmer bestieg den Schlitten bock. »Dann fahren wir. Hü!«

Die beiden Braunen hatten offenbar in größter Ungeduld auf das Abfahrtszeichen gewartet. Sie legten den Kopf zurück und setzten die Vorderbeine fest in den weichen Schnee. Ihr spiegelblankes Fell dampfte, als sie sich in Gang setzten. Kurz darauf bog der Schlitten mit lustig klingelnden Schellen in die offene Landstraße ein.

»Jetzt ist es genauso wie auf den Weihnachtspostkarten«, sagte Erling.

»Noch viel besser!« erklärte Jan.

»Ihr seid zwei richtige Kopenhagener«, lachte Onkel Christian. »Macht euch denn so ein bißchen Schnee schon solchen Eindruck?«

»Ein bißchen?« wiederholte Erling und blickte sich verwundert um. »Offenbar sind Sie in Jütland einiges gewohnt. Ich habe jedenfalls noch nie so viel Schnee auf einmal gesehen. Du etwa, Jan?«

»Nein, noch nie. Aber Lis hat sicher schon oft noch viel mehr gesehen«, neckte er die Schwester.

»Witzige Herren!« schnaubte Lis und streckte ihr Stupsnäschen in die Luft.

»Gib acht, daß du nicht Schneeflocken in die kleinen roten Nasenlöcher bekommst«, warnte Erling. »Du könntest dich sonst erkälten.«

Lis kniff die Lippen zusammen. Sie wurde immer böse, wenn man auf ihre Himmelfahrtsnase anspielte – dabei war es ein allerliebstes Stupsnäschen, das ihr entzückend stand.

»Könnt ihr noch immer nicht Frieden halten, Kinder?« lachte der Gutsbesitzer und gab den Braunen einen leichten Schlag mit den Zügeln. »Ich weiß noch, wie ihr euch fortwährend aufzogt, als ihr das letztemal hier wart.«

»Ach, damals, als Fräulein Lis Helmer sich als Detektiv versuchte ...«

»Ganz recht, Erling«, fiel Jan ein. »Es war nur gut, daß wir beide zur Stelle waren, um sie aus der Klemme zu befreien. Soviel ich mich erinnere, war sie damals nicht so hochmütig wie jetzt.«

Der Schlitten war auf dem Kamm eines Hügels angelangt, und die Knaben hatten nun an anderes zu denken, als Lis zu necken. Es schneite nicht mehr so stark, und es bot sich hier oben die schönste Aussicht. Alles war weiß. Im Osten lagen die großen Wälder um die Himmelbergseen, und der Aussichtsturm auf Dänemarks berühmtestem Berg erhob sich dunkel über die Baumwipfel. Der Schnee verschleierte alles, was in der Ferne lag; aber die Buben konnten doch einzelne Blicke auf die Seen erhaschen, die wie blaugrüne Oasen in einer weißen Schneewüste wirkten.

Helmer ließ den Schlitten auf dem Hügelkamm ein Weilchen halten. Er wies mit der Peitsche ringsum zum Horizont und erklärte, was zu sehen war. Er erzählte den Kindern von der nächsten Stadt in der Gegend, von Silkeborg – »Dänemarks Birmingham«, wie die Einwohner ihre etwas langweilige Industriestadt gern nannten –, deren Straßen sich alle im rechten Winkel schnitten. Silkeborg war als einzige dänische Stadt buchstäblich von einem einzigen Manne gegründet worden, nämlich von Michael Drewsen, der 1844 die Papierfabrik baute, um die herum die Stadt dann entstand. Drewsen war Silkeborgs ungekrönter König gewesen, und in seiner prächtigen Villa hatte er oft Besuch von Dänemarks damaligem wirklichen König, Friedrich dem Siebenten, empfangen. Die beiden Könige waren Duzfreunde, und wenn sie abends auf der Veranda saßen und die schöne Landschaft betrachteten, überboten sie einander an Witzen und Gelächter. Im Jahre 1855 hatte Silkeborg seinen ersten Pfarrer erhalten. Es war Jens Christian Hostrup.

»War das der Dichter des Lustspiels ›Die Nachbarn‹?« fragte Jan gespannt.

»Richtig! Diese unsterbliche Studentenkomödie verschaffte ihm größere Berühmtheit als das Pfarramt in Silkeborg. Nun müssen wir aber weiterfahren, wenn wir nicht als Schneemänner heimkommen wollen.«

Bergab ging die Fahrt schneller. Der Schnee lag hoch auf der Straße, war aber recht fest. Man merkte, daß Helmer an diesem Tage nicht als einziger den Schlitten benutzt hatte. Zahlreiche Spuren bewiesen, daß die Straße ziemlich stark befahren war.

Der Schlitten war gerade in einen Seitenweg eingebogen, der nach Raunstal führte, als Jan eine große, gebeugte Gestalt erblickte, die mühsam durch den Schnee stapfte. Irgend etwas an der Gestalt kam Jan bekannt vor; aber die Entfernung war noch zu groß, so daß er keine Einzelheiten erkennen konnte. Zufällig fielen seine Augen dann auf den Onkel, und da sah er, daß Christian Helmer die Brauen gerunzelt hatte und daß um seinen Mund ein harter Zug lag.

Kurz darauf holte der Schlitten den Mann ein, der brummend zu einer Schneewehe am Wegrand auswich. Er hatte die Mütze tief in die Stirn gedrückt; trotzdem gewahrte Jan ein Paar dunkle, bösartige Augen, die ihn anstarrten. Der Mann war bleich und abgezehrt; Wangen und Kinn bedeckten mehrere Tage alte Bartstoppeln.

Der Gutsbesitzer machte ein finsteres Gesicht, indes er vorbeifuhr, und er antwortete überhaupt nicht, als der Mann ihm höhnisch nachrief: »Fröhliche Weihnachten, Herr Helmer!«

Jan merkte plötzlich, daß durch Boy ein Ruck ging, und unter der Lederdecke ertönte ein gedämpftes anhaltendes Knurren.

»Still, Boy!« befahl Jan, worauf der Hund sofort verstummte.

»Der Hund hat also die Stimme wiedererkannt«, sagte Helmer und warf einen Blick zur Seite.

»Ja«, gab Jan geistesabwesend zurück, während er Lis musterte, die am ganzen Leibe bebte. Er beugte sich zu seiner Schwester hinüber und streichelte beruhigend ihre Hand. »Frierst du, Lis?«

»Nein ...«

»Aber du zitterst ja.«

Lis schaute mit bangen Augen auf die große, gebeugte Gestalt, die gerade um eine Wegbiegung verschwand. Dann fragte sie unsicher: »Hast du ihn nicht erkannt, Jan?«

»Doch«, antwortete Jan widerstrebend. »Das war Niels Boelsen. Glaubst du, daß er mich wiedererkannt hat, Onkel?«

»Höchstwahrscheinlich«, erwiderte Helmer mit belegter Stimme. »Man vergißt sicher nicht so leicht einen Menschen, durch den man anderthalb Jahre ins Gefängnis gekommen ist.«

»Seit wann ist er denn wieder draußen?« fragte Erling, dem auch nicht ganz wohl in seiner Haut war.

»Seit einer Woche. Der Großknecht Anders erzählte es mir; aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Schlagt ihr es euch auch aus dem Kopf, Kinder. Von dieser Seite habt ihr nichts zu befürchten.«

»Ob er nicht doch auf Rache sinnt?« fragte Lis angstvoll.

»Dummes Zeug, Kind!« entgegnete Helmer lachend; aber sein Lachen klang nicht ganz überzeugend.

Spuren im Schnee

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