Читать книгу Sein letzter Brief - Carlos Tankano - Страница 6
Beichtgeheimnis
ОглавлениеAm Tag bevor Burckhardt von Stessen starb, war er noch ganz klar im Kopf. Obwohl er keine Schmerzen hatte, fühlte er sich hundeelend und schwach. Die Krankenschwester vom medizinischen Pflegedienst hatte ihn gewaschen, ihm beim Anziehen geholfen, ihn in einen Sessel gesetzt und angeboten, ein Frühstück zu machen. Das lehnte er ab. Seit drei Tagen schon hatte er nicht mehr gegessen. Alles, was er zu sich nahm, war leicht gesüßter Tee aus einer Schnabeltasse.
Seine Frau Almut, die er abgöttisch liebte, hatte an diesem Vormitttag einen Termin beim Therapeuten. Der sollte ihr helfen, das furchtbare Schicksal ihres Mannes zu akzeptieren und die Kraft zu finden, nicht selber allen Lebensmut zu verlieren.
Nachdem die Krankenschwester vom medizinischen Pflegedienst gegangen war, konnte Burckhardt von Stessen sicher sein, bis zum frühen Nachmittag nicht mehr gestört zu werden. Dann würde seine Frau heimkommen, ihm helfen, auf der Toilette seine Notdurft zu verrichten, und – wie jeden Tag um diese Zeit – würde eine andere Pflegekraft erscheinen, um ihn unten herum zu waschen, ihm eine Windel anzulegen und ihn zum Mittagsschlaf ins Bett zu bringen. Alle Tabletten waren mittlerweile abgesetzt. Nach einer missglückten Rückenmarks- Transplantation war er austherapiert. Ihm war nicht mehr zu helfen.
Burckhardt von Stessen nahm sein Smartphone aus der Tasche und orderte ein Taxi. Schwer gestützt auf seinen Stock, nahm er alle Kraft zusammen und bewegte sich mit Trippelschritten vorwärts. Nach wenigen Metern musste er innehalten, um Luft zu schnappen. Der Taxifahrer hatte Mühe, die kraftlosen Beine seines Fahrgastes ins Auto zu hieven. Von Stessen nannte eine Adresse. Während der Fahrt befielen ihn plötzlich Zweifel, ob er wirklich tun sollte, was er sich vorgenommen hatte. Nach kurzem Überlegen aber war er seiner Sache wieder sicher: Er musste den Plan ausführen, den er in jahrelanger Denkarbeit entwickelt hatte, und von dem nur er selber wusste. Nicht einmal seine Frau Almut, vor der er sonst keine Geheimnisse hatte, ahnte etwas von seinem Vorhaben. Am Ziel angekommen, bat er den Taxifahrer, ihn zur Haustür zu begleiten und dann zu warten: >>Es wird nicht lange dauern.<<
Im Lift drückte er den Knopf für die oberste Etage. Auf der Penthouse- Ebene angekommen, musste er sich für einen Moment an die Wand lehnen. Ihm war schwindlig. Schließlich läutete er. Als die Hausherrin öffnete, fragte er mit zittriger Stimme:
>>Frau Brandeisen?<<
Die schätzungsweise 50 Jahre alte elegant gekleidete Dame muss auf den ersten Blick erkannt haben, dass sich der Mann in einem erbärmlichen Zustand befand.
>>Ja, kann ich Ihnen helfen?<<
Burckhardt von Stessen sagte:
>>Entschuldigen Sie bitte! <<
Dann zog er eine Pistole mit Perlmutt– Griffschalen aus der Tasche und schoss ihr eine 9- Millimeter- Kugel direkt zwischen die Augen. Ohne einen Laut von sich zu geben, stürzte die Dame nach vorn. Sie war sofort tot.
Burckhardt von Stessen fuhr mit dem Lift, der noch auf der obersten Etage bereitstand, nach unten, gab dem Fahrer die Adresse der katholischen St. Ansgar– Gemeinde, deren Gottesdienste er in gesunden Tagen regelmäßig besucht hatte. Dort angelangt, bat er den Taxifahrer, auf ihn zu warten:
>>Es wird nicht lange dauern.<<
Der Priester und Pfarrer, der den Besucher schon erwartet hatte, kam ihm entgegen. Von Stessen hatte tags zuvor um diesen Termin gebeten. Der Gottesmann hakte ihn unter und führte ihn in der Kirche schnurstracks zum Beichtstuhl. Als die beiden nach einiger Zeit wieder herauskamen, war der Geistliche kreidebleich. Um Fassung bemüht, reichte er von Stessen die Hand und versicherte ihm, was ohnehin selbstverständlich war, dass er das ihm anvertraute Geständnis dem Beichtgeheimnis unterwerfe und es gegenüber niemand, auch nicht gegenüber den Strafverfolgungsbehörden, preisgeben werde.
Zurück in seinem Bett, war Burckhardt von Stessen so schwach, dass er mit seiner Frau nicht mehr sprechen, sondern nur noch flüstern konnte. Sie beugte sich zu ihm hinunter und glaubte ihn sagen zu hören:
>>Ich möchte einfach nur noch weg sein. Sei nicht traurig.<<
Erschöpft von der Anstrengung, die ihn das Flüstern gekostet hatte, schwieg er eine Weile. Dann bewegten sich seine Lippen wieder, und Almut von Stessen hörte ihn hauchen:
>>Wünsche dir alles Gute – und viel, viel Liebe.<<
>>Tsch, tsch<<, machte Frau von .Stessen begütigend:
>>Du redest zu viel. Schlaf´ jetzt erst einmal gut. Dann wird es dir morgen besser gehen.<<
Auf Zehenspitzen verließ sie den Raum. Kurz nach Mitternacht war Burckhardt von Stessen tot.
Hauptkommissar Anton Achtsam von der Mordkommission im 7. Revier war stinksauer, als er sich am Tatort von den anwesenden Beamten ins Bild setzen ließ. Er hasste Fälle, die der Polizei Rätsel aufgeben. Der Tathergang allerdings war sonnenklar. Der Mörder stand nach kurzer Ermittlungsarbeit fest. Der Taxifahrer konnte sich genau erinnern, wo er den Täter abgeholt und wohin er ihn gefahren hatte. Er lieferte eine präzise Personenbeschreibung. Nachbarn, die den gebrechlichen Mann auf der Straße gesehen hatten, beschrieben ihn so genau, dass Hauptkommissar Achtsam abwinkte, als der Polizei– Zeichner anfragte, ob er ein Phantombild anfertigen solle. Als hätte er sagen wollen, >>Seht her – ich war´s<< , hatte von Stessen am Tatort die Pistole neben die Leiche geworfen. Mit Hilfe der Seriennummer wurde im Nu festgestellt, dass die zugehörige Waffenbesitzkarte vom Ordnungsamt auf den Namen Prof. Dr. Burckhardt von Stessen ausgestellt worden war.
>>Lasst das mal<<, brummte Achtsam, während in weiße Overalls gekleidete Spurensicherer mit Rußpulver nach Fingerabdrücken, mit Stabtupfern nach DNA– Schnipseln und mit Gelatinefolie nach Schuhabdrücken suchten. >>Nicht mehr nötig<<, blaffte Achtsam. Eine Streifenwagenbesatzung, die mit Blaulicht und Sirene zum Wohnhaus der von Stessens gefahren war, hatte die Leiche des Täters und dessen in Tränen aufgelöste Witwe angetroffen.
>>Verdammter Mist! <<, entfuhr es Achtsam. >>Alles hier ist klar wie Kloßbrühe – nur warum, weshalb und wieso ein halbtoter Mann eine ihm offenbar unbekannte Frau erschießt – was soll das? Und der Einzige, der vermutlich weiß, was da los war, darf nichts sagen. Beichtgeheimnis. Die Presse wird schreiben: >POLIZEI RATLOS!<
Entsprechend schlecht gelaunt erschien Achtsam anderntags im Revier. Wieder machte er seinem Ärger Luft und polterte: >>Opfer tot, Mörder tot – genau genommen war´s das. Aber wir, bitteschön, sollen den ganzen Unrat noch mal hin und her wälzen, damit die Journaille sich aufregen und uns beschimpfen kann. Grusch! <<
Achtsam schnauzte auch Beamte an, die sich nichts vorzuwerfen hatten und gab dann Weisung für das weitere Vorgehen: Verhöre der Familienmitglieder, Nachbarn, Kollegen, Freunde und Bekannten, Einvernahme des ehemaligen Arbeitgebers (>>soweit vorhanden<<) und der Ärzte (>>vielleicht war der Täter ja krank im Kopf! <<). Routinemäßig lief die Ermittlungsmaschine an. Am Ende kam es, wie Achtsam, gestützt auf jahrzehntelange leidvolle Erfahrung in seinem Beruf, schon zu Beginn geahnt hatte: Die Auswertungen der Ermittlungsergebnisse und alle Bemühungen, das Motiv des Täters zu ergründen, führten zu nichts.
Auf einer kurz darauf anberaumten Pressekonferenz musste sich Achtsam zusammenreißen und Gelassenheit heucheln. Es wurmte ihn, dass er keine Ermittlungserfolge präsentieren konnte, sich aber die kritischen, respektlosen und teilweise unverschämten Fragen der Journalisten anhören musste. Unglücklicherweise war in diesen Wochen sonst nicht viel los, so dass die lokalen Zeitungen und Magazine, regionalen Rundfunksender und die kostenlosen Anzeigenblätter ihre Hörer und Leser immer wieder mit den vermeintlichen Fehlleistungen der Polizei fütterten. Kaum verwunderlich, dass in manchen Artikeln und Kommentaren personelle Konsequenzen in der Leitung der Mordkommission gefordert wurden.
Hauptkommissar Achtsam tat das bei Tischgesprächen in der Polizeikantine großkotzig als >Journalisten– Gewäsch< ab (>>die wissen nicht, was sie sonst schreiben sollen<<). Doch ganz spurlos ging das Trommelfeuer an ihm nicht vorbei. Es schien ihm sogar, dass der Polizeipräsident, wenn er ihm auf den Fluren des Präsidiums begegnete, nicht mehr so freundlich grüßte wie sonst. Voller Wut, Abscheu und Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt spürte Achtsam, dass er dringend eine Auszeit brauchte. Er meldete sich für einen zweiwöchigen Urlaub ab, auch um endlich angesammelte Überstunden abzufeiern. Lieber wäre es ihm gewesen, sich die geleistete Mehrarbeit in Geld vergüten zu lassen. Aber diese Möglichkeit war vom Innenminister aus Ersparnisgründen gestrichen worden.