Читать книгу Sein letzter Brief - Carlos Tankano - Страница 8
Schrotschuss-Recherche
ОглавлениеIn der ersten Sitzung des Teams, zu dem außer ihm selber noch sein Rechercheur Fritz Baumkron und die 28jährige Assistentin Sarah Eick gehörten, wischte Wolfson das Vorwissen zunächst beiseite. Es war üblich, jeden neuen Fall mit einer >Fabulierstunde< zu beginnen, in der die drei, losgelöst von allen Fakten, frei fantasierten, wie sich der jeweilige Mord zugetragen haben KÖNNTE. Sie nannten es das >System Wolfson<. Fritz Baumkron machte diesmal den Anfang:
>>Wie gefällt euch dieses Szenario? Der Pfarrer von St. Ansgar hat Chorknaben missbraucht. Elisabeth Brandeisen-Hernadez erfährt davon und verlangt von dem Geistlichen, dass er sich selbst anzeige, sonst werde sie das tun. Gerade war ja die öffentliche Empörung über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche hochgeschwappt. In seiner Not wendet sich der ertappte Pfarrer an Burckhardt von Stessen, der anbietet, Elisabeth Brandeisen zu erschießen. Er fühlt sich seinem langjährigen Beichtvater verpflichtet und hat als Todgeweihter nichts zu verlieren.<<
>>Kreative Idee, aber unwahrscheinlich<<, bemerkte Wolfson.
Sarah hatte einen anderen Vorschlag zum möglichen Tatmotiv: >>Elisabeth Brandeisen-Hernadez ist in ihrer Ehe mit Jerome Manuel Hernadez nicht glücklich. Ihr Mann ödet sie an. Sie kommt sich überflüssig vor und unter Wert eingeschätzt – bis sie Kontakt zu einer Organisation bekommt, die in Afrika und sonst wo Gutes tut. Sie spendet großzügig, findet Geschmack daran, hofiert zu werden. Sie wird süchtig nach solchen Erfolgserlebnissen und spendet immer mehr, auch für andere Organisationen. Man schlägt sie als Wohltäterin schon fürs Bundesverdienstkreuz vor. Ihr Mann Jerome Manuel Hernadez fürchtet, dass sie vollends durchdreht und ihr ganzes Vermögen verschenkt. Auf das aber ist er als wahrscheinlicher Erbe scharf. Er sucht und findet in Burckhardt von Stessen jemand, der bald sterben wird und bereit ist, eine letzte große Tat zu vollbringen.<<
>>Oder wie wär´s denn<<, schaltete sich Fritz Baumkron noch einmal ein, >>wenn in Wahrheit unser hartnäckiger Kunde, der vermeintlich liebevolle Bruder der Ermordeten, hinter allem steckt und sich nur tarnen will, indem er seinen Schwager Jerome Manuel verdächtigt? Vielleicht ist er es, der den Hals nicht vollkriegt. Möglicherweise gehört er, wenn seine Schwester stirbt, zu den Haupterben. Deshalb sollten wir uns Elisabeths Testament beschaffen und einsehen.<<
>>Ja, wir dürfen nicht außer Acht lassen<<, gab Wolfson nun zum Besten, dass eventuell der Ehemann Jerome Manuel Hernadez tatsächlich der Anstifter war. Scheiden lassen konnte er sich nicht, weil auch er zu den Erben gehört. Aber loswerden wollte er seine Elisabeth schon gern. Sie war bereits einmal dahinter gekommen, dass er eine Freundin hatte. Die Frage ist aber, ob er die Liaison wirklich beendet hat, und ob er nicht in ständiger Sorge leben musste, dass seine Frau ihm wieder auf die Schliche kommt und ihn dann enterbt.<<
>>Ja, ist denn da überhaupt so viel zu holen?<<, wollte Fritz wissen.
>>Und ob. Die ganze Sippschaft lebt davon, dass der Opa von Elisabeth gleich nach der Währungsreform von 1948 eine Idee hatte, die sich als Goldgrube entpuppt hat. Er war damals als junger Mann aus Florida, wohin seine Eltern vor den Nazis geflohen waren, nach Bayern gekommen, um ein enteignetes Grundstück der Familie wieder in Besitz zu nehmen. Diese Immobilie diente ihm als Sicherheit für einen günstigen Kredit der Bank für Wiederaufbau, mit dem er in der Münchner Innenstadt ein Parkhochhaus errichtete – zu einer Zeit, als sich kaum ein Deutscher vorstellen konnte, jemals ein Auto zu besitzen. Aber der junge Mann ahnte, dass sich im Nachkriegsdeutschland eine ähnliche Verkehrsentwicklung anbahnen würde, wie er sie aus den USA kannte. Für ein Ei und Butterbrot erwarb er nach und nach in sieben großen deutschen Städten in bester Innenstadtlage Trümmergrundstücke für weitere Parkhäuser. Heute ist das ein todsicheres Geschäft. Der Personalaufwand ist gering, und die Kassenautomaten füllen sich von Tag zu Tag wie von selbst. Das jedenfalls hat die Polizei sehr schön ermittelt.<<
>>Trotzdem komisch, dass wir alle möglichen Leute verdächtigen, aber noch nicht darüber geredet haben, ob nicht der Mörder selbst, Burckhardt von Stessen, aus eigenem Entschluss und Interesse zur Tat geschritten ist.<<
>>Die Crux ist nur, dass es keinerlei Verbindung zwischen ihm und dem Opfer gibt.<<
>>Vielleicht hat er Stimmen gehört und einen Auftrag aus dem Jenseits bekommen<<, wandte Sarah ein und lachte.
>>Moment mal<<, sagte Wolfson, >>das ist ein wichtiger Hinweis. Wir müssen bei den Ärzten checken, ob von Stessen zuletzt wirklich noch bei Sinnen war.<<
Fritz Baumkron: >>Ich habe gelesen, dass kranke Täter einen zwanghaften Drang verspüren, mörderische Macht über ein Opfer auszuüben, damit sie eine glücklich machende Endorphin– Ausschüttung erleben. Wer das Opfer ist, ist ihnen egal. Hauptsache, sie können durch einen Kick im Moment der Machtausübung ihren quälenden Endorphin- Mangel beheben.<<
Sarah zweifelte: >>Funktioniert das auch bei jemand, der schon so gut wie tot ist?<<
Baumkron: >>Kann es nicht sein – der Gedanke ist verrückt, aber vielleicht doch mit letzter Sicherheit nicht auszuschließen – ich meine, kann es nicht auch sein, dass unser Mörder von der Idee besessen war, als erster Mensch ein perfektes, unaufklärbares Verbrechen zu planen und zu realisieren, um damit in die Geschichte der Kriminologie einzugehen?<<
>>Dann müsste er ja irgendwo für die Nachwelt eine Schrift, ein Bekenntnis hinterlegt haben; und zwar so, dass es nach seinem Tod mit Sicherheit gefunden wird.<<
>>Wir müssen also überlegen, wo man nach einem solchen Bekenntnis suchen sollte.<<
Sarah: >>Genau, vielleicht gibt es keine Verbindung zwischen dem Mörder und Elisabeth Brandeisen-Hernadez, weil er sich sein Opfer nach dem Zufallsprinzip einfach aus dem Telefonbuch gesucht hat.<<
>>Nun mal langsam, Kinder<<, warf Wolfson ein, >>vorstellen können wir uns sicher alles, aber ich schlage vor, die Kirche im Dorf zu lassen und vom wahrscheinlichsten Szenario auszugehen. Und dazu gehört für mich nicht unbedingt die Idee vom Plan eines perfekten Verbrechens. Auch bei den anderen Überlegungen, die mit dem Missbrauch durch den Pfarrer und dem geldgierigen Schwager und so weiter, habe ich kein gutes Gefühl. Oder glaubt ihr wirklich, dass sich ein todkranker Mann wie Burckhardt von Stessen anstiften und sich sozusagen noch in letzter Minute vor den Karren anderer Leute spannen lässt?<<
Sarah Eick: >>Aber es beißt nun mal die Maus keinen Faden davon ab, dass er es war, der die Tat begangen hat.<<
Wolfson meinte, es sei genug fabuliert und Zeit, die Sitzung zu beenden. >>Richtig, Sarah, von Stessen ist es gewesen, und er wird aus einem ganz persönlichen, ungeheuer starken Impuls heraus gemordet haben. Dafür muss es, wenn er nicht schizophren oder sonst wie geisteskrank war, in seinem Leben irgendwelche Spuren geben – seelische Erschütterungen, Schicksalsschläge, religiöse Obsessionen, was weiß ich. Das Rätsel des Mordes an Elisabeth Brandeisen- Hernadez kann, denke ich, nur in der Person des Mörders liegen. Wenn ihr mich fragt, sollten wir bis auf weiteres alle Zeit, Kraft und Ressourcen darauf verwenden, diesen Mann bis auf die Knochen zu durchleuchten. Irgendwelche Einwände? Nein? Dann lasst uns jetzt zu Tisch gehen. Ich glaube, es gibt Grünkohl mit Kochwurst, Speck, Dijon– Senf und Röstkartoffeln.<<