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Lazarus Wolfson

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Eine ausreichende, den Hunger vermeidende Nahrungsaufnahme hatte für den übergewichtigen Lazarus Wolfson schon immer hohen Stellenwert. Für wohlbeleibte Männer, zu denen er sich rechnen musste, sei, so seine Überzeugung, Hunger besonders schädlich; denn der menschliche Körper deute einen knurrenden Magen fälschlich als Signal für eine kurz bevorstehende oder gar schon ausgebrochene Hungersnot. Um für die vermeintlich drohenden mageren Zeiten vorzusorgen, weigere sich der Körper, die über lange Zeit angelegten Fettreserven abzubauen. Stattdessen werde wertvolle Muskelmasse verbrannt.

Aus Angst vor dem Hungergefühl aber auch, weil es ihm einfach schmeckte, langte Wolfson stets kräftig zu. Bei einer Körperlänge von 1,73 Metern und einem Gewicht von 95 Kilo war sein Body Maß Index auf den bedenklichen Adipositas-Wert von 32 gestiegen.

Wolfson machte sich Sorgen um seine Gesundheit. Wenn ihn, wie an diesem Morgen, nach einem üppigen Abendessen der Magen drückte, dachte er sogleich an eine sich womöglich ankündigende Magenschleimhautentzündung. Wie viele Hypochonder hielt auch er medizinische Instrumente für die Selbstdiagnose bereit. Noch im Pyjama auf der Bettkante sitzend, holte er aus dem Nachtschrank ein Set für den Helibacter-Pylori-Test. Mit einer Stechhilfe produzierte er aus der Kuppe seines Mittelfingers einen Blutstropfen und ließ ihn auf das Testfeld der Prüfkassette fallen. Nachdem er das Eigenblut mit einer Prüfflüssigkeit kontaminiert hatte, musste er bange zehn Minuten warten, ob sich auf der Glasplatte zwei lilafarbene Streifen zeigen würden. Gottlob blieb die Verfärbung aus. Keine Gastritis.

Soweit es seine Körperfülle zuließ, betrat er eine Dreiviertelstunde später federnd und tatendurstig seine Büroräume. Die waren Teil seiner riesigen Wohnung von fast 380 Quadratmetern. Noch bevor er seinen Schreibtisch erreichte, vor dem ein Drehsessel mit extra breiter Sitzfläche aus einer Spezialanfertigung stand, fing ihn seine Sekretärin Frau Sybille Zwinger ab. Es habe sich ein Herr Brandeisen gemeldet, der möglicherweise einen Auftrag für die Detektei habe und dringend um Rückruf bäte.

>>Das kann warten<<, entschied Wolfson. >>Wer was will, meldet sich wieder – oder lässt es bleiben.<< Wolfson genoss es, nicht nötig zu haben, Kunden nachzulaufen und um Aufträge zu betteln. Er hatte sich den Ruf eines ausgefuchsten Schnüfflers erworben, als es ihm vor zwei Jahren gelungen war, einen Coup zu landen, um den ihn seine Kollegen aus der Schlapphutbrache bewunderten und beneideten. Was Polizei, Steuerfahndung und Staatsanwaltschaft nicht geschafft hatten, schien dem Büro Wolfson keine Schwierigkeiten bereitet zu haben, nämlich den Beweis zu führen, dass ein angesehener Konzern mit Wissen von Vorstand und Aufsichtsrat durch verschleiernde Auslandsgeschäfte etliche Millionen Euro am Finanzamt vorbei verdient hatte. Der Prozess vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts, in dem Wolfson als Zeuge auftrat, machte das >Büro für private Ermittlungen L. Wolfson< weithin bekannt und verschaffte dem >dicken Detektiv< das Renommee eines Star- Ermittlers.

Eine Stunde später rief der Mensch Brandeisen wieder an. Wolfson hörte seine Sekretärin sprechen: >>Ja, einen Moment bitte, ich werde Sie jetzt mit Herrn Wolfson verbinden.<< Sie sagte das in einem Tonfall, der keinen Zweifel ließ, dass es als besonderes Privileg zu gelten habe, den berühmten Detektiv sprechen zu dürfen. Wolfson wurde wieder einmal bewusst, welch eine qualifizierte Kraft Frau Zwinger war. Sollte sie ihn um eine Gehaltserhöhung angehen, würde er kaum Argumente finden, ihr die Bitte abzuschlagen.

Nachdem Frau Zwinger ihm das Büro- Handy gereicht hatte, wartete er noch eine halbe Minute bis er sich meldete: >>Wolfson, ready to speak, worum geht´s?<<

Es stellte sich heraus, dass am anderen Ende Richard Brandeisen redete, der Bruder der ermordeten Elisabeth Brandeisen- Hernadez. Er wolle das Büro Wolfson beauftragen, denjenigen dingfest zu machen, der den Mörder angestiftet habe, das grauenhafte Verbrechen an seiner Schwester zu begehen. Es handele sich dabei zweifelsfrei um seinen Schwager Jerome Manuel Hernadez, der es in der Ehe mit Schwester Elisabeth nur ausgehalten habe, um schließlich an ihr Geld zu kommen.

>>Damit sind Sie aber bei mir falsch gelandet<<, knurrte Wolfson. >>Die Ermittlungen in dieser Sache führt Hauptkommissar Achtsam von der Mordkommission. Meine Sekretärin kann Ihnen gern dessen Durchwahlnummer zukommen lassen.<<

>>Ach was<<, sagte Brandeisen, >>die Polizei ist unfähig, überfordert und desinteressiert. Bei meiner Vernehmung habe ich denen nichts von meinem Hintergrundwissen erzählt. Die Folge wäre nur gewesen, dass unsere Familiengeschichten in der Öffentlichkeit breitgetreten worden wären. Nein, zur Polizei habe ich kein Vertrauen.<<

>>Tja, das tut mir dann aber leid, dabei kann ich Ihnen nicht helfen<<, bellte Wolfson schroffer als er eigentlich wollte. Das lag daran, dass er in diesem Augenblick einen stechenden Schmerz an seiner Bandscheibe spürte, die ihm schon seit längerem zu schaffen machte. Durch eine andere Sitzposition auf seinem Spezialsessel suchte er Linderung zu erreichen.

>>Hören Sie mal<<, muckte Brandeisen auf, >>ich bin bereit, Sie gut zu bezahlen, ich lasse mich von Ihnen nicht so einfach abwimmeln.<<

>>Jetzt hören Sie mir mal zu<<, nahm Wolfson den aggressiven Ton auf, >>wir haben in letzter Zeit keine Privatfälle bearbeitet, weil Industriekunden uns mit Anfragen zuschütten. Und Sie, Herr Brandeisen, würden uns nicht mit dieser Privatsache kommen, wenn Sie unsere Preise kennten, und wenn Sie wüssten, welche Bedingungen wir außerdem stellen – wenn für uns ein Auftrag überhaupt infrage kommt.<<

Nach dieser Belehrung legte Brandeisen den Hörer grußlos auf.

>>Knallkopp<<, kommentierte Wolfson das Gespräch und vergaß die Angelegenheit.

Zwei Tage später erschien Brandeisen unangemeldet persönlich im Büro Wolfson, stürmte an Frau Zwinger vorbei direkt vor den Chefschreibtisch: >>Lassen Sie uns noch einmal vernünftig miteinander reden<<, schlug er vor. >>Sie haben keinen armen Schlucker vor sich. Nennen Sie mir Ihre Bedingungen.<<

Aus Wolfsons breiter Brust löste sich ein gequälter Seufzer. >>Also schön, nehmen Sie Platz, und machen wir´s kurz: Sie zahlen mir 500 Euro die Stunde. Wir rechnen den Arbeitstag zu zehn Stunden. Das wären nach zehn Tagen 50 000. Sollte danach der Fall nicht gelöst sein, und wollen Sie, dass wir trotzdem dranbleiben, ermäßigt sich der Stundensatz für die weitere Arbeit auf 350 Euro. Wenn wir aber die Sache nach zehn Tagen erfolglos abbrechen, vergüten wir Ihnen von den vorausgezahlten 50 Mille 10 000 Euro zurück.<<

Brandeisen verschlug es für eine Minute die Sprache. >>Ein solcher Stundenlohn ist mir noch nicht untergekommen.<<

>>Niemand zwingt Sie.<<

>>Sie schlagen mir allen Ernstes vor: Friss Vogel oder stirb?<<

>>So ist es.<<

>>Gut, ich überlege es mir. Ich gebe Ihnen innerhalb 24 Stunden Bescheid, ob ich mich darauf einlassen will.<<

>>Tun Sie das. Auf Wiedersehen.<<

Wolfson ging davon aus, dass sich der Fall nun erledigt habe. Doch er täuschte sich. Am nächsten Tag bekam er von Brandeisen grünes Licht. Und auch die Zusatzbedingung, dass er sich als Kunde nicht mit gut gemeinten Ratschlägen in die Ermittlungsarbeit einschalten dürfe, werde er akzeptieren.

>>Wann werden Sie anfangen?<<

>>Frühestens nächste Woche; denn, anders als manche Damen, sind wir nicht jederzeit bereit und können nicht alles hinwerfen, nur weil Sie uns plötzlich ins Haus schneien.<<

>>Meinetwegen, ich hoffe aber, dass Sie vorher Zeit finden, sich meine Geschichte und die Eskapaden meines Schwagers anzuhören, damit Sie einen Ansatzpunkt für Ihre Arbeit bekommen.<<

>>Nein, Ihre Geschichten werde ich mir nicht anhören. Das würde uns auf Nebenkriegsschauplätze führen. Mir ist es Wurst, was Sie über Ihren Schwager denken. Kann gut sein, dass er ein Fiesling ist – unterstellen wir das mal. Damit ist er aber noch nicht qualifiziert, einen Mord zu begehen oder einen solchen anzustiften. Sie müssen akzeptieren, dass wir eine andere Herangehensweise bevorzugen, die letztlich auch Ihren finanziellen Beitrag in Grenzen hält. Ist das verstanden?<<

Brandeisen verzichtete auf eine Erwiderung und beendete kopfschüttelnd das Gespräch.

Mit der Behauptung, dass sein Büro zuvor noch andere Aufträge abzuarbeiten habe, hatte sich Wolfson ziemlich aufgeplustert. In Wahrheit wollte er sich nur ein paar Tage freischaufeln, um sich mit dem beklagenswerten Zustand seines Körpers zu befassen. Zwei vollgestellte Regale im Bücherschrank zeugten von seinem Gesundheitsbewusstsein. Werke wie >Ich bin dann mal schlank<, >Die idealen Fettverbrenner<, >Fit in kurzer Zeit< oder >Die Logi– Methode in Theorie und Küche< gehörten zu seiner Lieblingslektüre. Und wirklich, jedes Mal wenn er sich ernsthaft auf einen der zahlreichen Gesundheitstipps konzentriert hatte, fühlte er sich anschließend besser und stellte fest, dass die Belastung seiner schmerzenden Gelenke nachgelassen hatte. Von vornherein ausgeschlossen hatte er, den dringenden Ratschlägen zu folgen, sich mehr zu bewegen oder gar Sport zu treiben. Ihm ging es darum, die Dominanz des Gehirns über alle Körperfunktionen voll auszuspielen und Unpässlichkeiten allein durch die Kraft des Geistes zu bekämpfen.

Für diese Art der Ertüchtigung fand er in dem Buch >Die richtige Balance< aus dem Schaffen der amerikanischen Autorin und Physiotherapeutin Vance Bonner wertvolle Anregungen. Um zum Beispiel die Wirbelsäule in Form zu bringen, sei es ratsam, sich vorzustellen, in der Beckengegend einen Eimer Wasser in sich zu tragen, dessen Inhalt nicht überschwappen dürfe. Und eine gesunde Streckung des Rumpfes sei zu erreichen, wenn man sich virtuell kleine Holzkeile zwischen die Rippen schiebe.

Nach solchen Übungen, die ihn durchaus Kraft kosteten, spürte Wolfson, dass er einen leeren Magen hatte. Nicht selten ging er dann in die Küche, um zu sehen, was seine Haushälterin für ihn vorbereitete. Weil sie eine gute Köchin war, lief ihm dabei schon mal das Wasser im Munde zusammen. Dann machte er Vorschläge, die halbfertigen Speisen zu optimieren: >>Frau Müller, was halten Sie davon, als Geschmacksträger noch einen zusätzlichen Klacks Butter in die Bratensauce zu geben?<<

Unterdessen ließ er die Zeit bis zum Start seiner Arbeit an dem Mordfall Elisabeth Brandeisen-Hernadez nicht ungenutzt. Er beschaffte sich die Kopie der vollständigen Ermittlungsakte. Dabei war ihm der Polizeipräsident behilflich, mit dem ihn seit gemeinsamer Studienzeit im Fachbereich >Kriminologie und Polizeiwissenschaft< eine verlässliche Freundschaft verband. So hatte das Team Wolfson bereits einen kompakten Überblick über das, was seit dem Tattag geschehen war.

Sein letzter Brief

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