Читать книгу Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird? - Carmen Gerstenberger - Страница 3

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Bastian

Ein Jahr später

Bastian lächelte auf dem Weg zu seiner letzten Patientin für die heutige Schicht. Er arbeitete erst seit einem halben Jahr auf der Intensivstation des Städtischen Klinikums und doch hatte er bereits ein kleines Ritual. Am Ende jedes arbeitsintensiven und zumeist auch emotional aufwühlenden Tages sah er stets bei ihr vorbei. Immer. Selbst, wenn er gar nicht für sie eingeteilt war.

Aus einem ihm unerfindlichen Grund schaffte sie es jedoch jedes Mal, ihn herunterzuholen, zu erden, ihn den Alltag vergessen zu lassen. Und das, obwohl sie nicht wach war. Bastian hatte noch nie die natürliche Farbe ihrer Augen sehen dürfen, abgesehen vom Hineinleuchten wegen des Reflextestes, weil sie die Lider seit einem Jahr nicht mehr von allein geöffnet hatte. Denn seine liebste Patientin Elena lag aufgrund eines schweren Schädel-Hirn-Traumas infolge eines Autounfalles im Koma.

Als er ihr Zimmer betrat, hielt er überrascht inne, heute war etwas anders. Bastian hatte viele Stunden bei Elena verbracht und kannte daher jeden Winkel ihres Raumes zur Genüge. Ein Grund, weshalb er sich so gerne hier aufhielt, war, dass die ansonsten kahlen, weißen Wände des üblicherweise sterilen Zimmers mit unzähligen Postkarten verziert waren. Bunte Bilder aus der ganzen Welt, stumme Zeugen eines großartigen Abenteuers, das Elena nicht mehr hatte erleben dürfen. Bereits an seinem ersten Tag auf der Station hatte er die Oberschwester gefragt, was es damit auf sich hatte und dadurch von Elenas traurigem Schicksal erfahren. Davon, wie sie an ihrem achtzehnten Geburtstag aus dem Leben gerissen worden war, kurz vor der Erfüllung ihres großen Traumes. Von der Weltreise, die ihre Freundin letztlich ohne sie angetreten war und von welcher sie Elena beinahe wöchentlich Postkarten schickte, die ihre Eltern, die sich rasch von dem Unfall erholt hatten, an den Wänden aufgehängt hatten.

Heute empfingen ihn jedoch überall bunte Luftballons, sogar eine Girlande mit Sonnenblumen und einer riesigen »19« in der Mitte war über Elenas Bett angebracht worden. Bastian atmete langsam aus und biss die Zähne zusammen. Obwohl er sie nicht kannte und es weitaus schlimmere Schicksale auf der Intensivstation gab, fühlte er sich in diesem Augenblick deutlich frustriert. Heute war ihr Geburtstag, was bedeutete, dass sie nun schon seit einem Jahr ohne Bewusstsein war. Die Chancen, ins Leben zurückzufinden, verringerten sich, je länger ein Patient im Koma lag. Ein Jahr war eine verdammt lange Zeit und insgeheim wusste er, dass Elena wahrscheinlich in der dunklen Welt bleiben würde, in der sie sich seit dem Unfall befand, auch wenn er sich nach wie vor weigerte, es zu akzeptieren. Ihre Verletzungen waren längst geheilt, und obwohl ihr Gehirn keine Folgeschäden davongetragen hatte, wachte sie nicht auf. Das kam leider hin und wieder vor, wenn das Trauma zu schwerwiegend war.

Niedergeschlagen musterte er die feinen Züge ihres wunderschönen Gesichtes, das er nicht anders kannte als in diesem entspannten Zustand. Oft hatte er sich in der Vergangenheit gefragt, ob Engel wohl auch so selig aussahen, wenn sie schliefen? Lächelnd schüttelte er dann jedes Mal den Kopf, es war der Fluch seiner Fantasie, die ihn stets auf andere Art denken ließ. Seit er schreiben konnte, brachte er seine Gedanken zu Papier, abenteuerliche Geschichten über einen Jungen, für den alles möglich war. Ein Junge, der nach den Sternen griff und auf ihnen durch das Universum ritt. Bastian nannte inzwischen unzählige Ordner mit seinen Ergüssen sein Eigen, doch sie waren sein Geheimnis. Noch nie hatte er sie anderen Menschen gezeigt, zu merkwürdig war die Vorstellung für ihn, seine intimsten Momente mit Fremden zu teilen. Seine Gedanken aufzuschreiben war wie eine Therapie, denn Bastian öffnete dann immer seine Seele und gab jedes Mal ein Stück seiner selbst preis. Es erschien ihm unvorstellbar, diesen verletzlichen Zweig anderen zu enthüllen, weil er Angst davor hatte, sie könnten ihn zerbrechen. Er wusste nicht, ob er dann noch in der Lage wäre, weiterhin zu träumen, ohne anderen gerecht werden zu wollen und vor allem, ohne sich selbst zu verlieren.

Geräuschvoll ließ er sich in den gepolsterten Stuhl plumpsen, der auf Kopfhöhe neben Elenas Bett stand. Hier saß er nahezu jeden Tag und erzählte ihr von seiner Arbeit, dem Klinikalltag und manchmal auch von erwähnenswerten Dingen, die er erlebte. Was eher selten vorkam, da Bastian trotz seiner einundzwanzig Jahre ziemlich langweilig war. Der Job als Pfleger war anstrengend und die verschiedenen Schichten sorgten zusätzlich dafür, dass er völlig erledigt war, wenn er endlich zu Hause war. Obwohl er noch nie der Typ gewesen war, der sich bis zum Abwinken betrank und sich auf Partys wohl fühlte, ging er natürlich hin und wieder mit seinen Kumpels was trinken oder verbrachte Stunden mit ihnen vor der Playstation. Seit er die Lehre nach dem abgebrochenen BWL-Studium im Krankenhaus angefangen hatte und oft erst heimkam, wenn seine Jungs zur Arbeit aufstanden, wurden die gemeinsamen Treffen jedoch zusehends weniger. Trotzdem war es das, was er tun wollte, Menschen helfen.

Tim, seinem Freund aus Kindertagen, hatte er vergangenen Sommer nicht mehr helfen können, als dieser sturzbetrunken im See schwimmen gegangen und nicht wieder aufgetaucht war. Sie hatten ihn erst zehn Minuten später gefunden, doch trotz ihrer verzweifelten Bemühungen, ihn zurück ins Leben zu holen, hatte er es nicht geschafft. Für Bastian war dies der Schlüsselmoment gewesen, seine gesamte Existenz infrage zu stellen. Nachdem er aus dem dunklen Tal der Trauer wieder herausgefunden hatte, hatte er kurzerhand, zum Missfallen seiner Eltern, das Studium über Bord geworfen und die Lehre als Krankenpfleger angefangen. Sein Vater hatte ihn bedrängt, wenigstens ein Medizin-Studium anzufangen. Für Bastian hatte jedoch unwiderruflich festgestanden, dass er den Tod seines Freundes nur dann irgendwann bewältigen würde, wenn er sofort Menschen helfen konnte, nicht erst in vielen Jahren.

Und hier saß er nun, Tag für Tag und starrte die Frau an, der er eben nicht helfen konnte. Die seine Zuversicht Lügen strafte, weil sie einfach nicht aufwachen wollte. Etwas hielt sie in den Tiefen ihres Verstandes gefangen und Bastian würde sein letztes Hemd hergeben, wenn er nur wüsste, was sie nicht losließ, was verhinderte, dass sie ins Leben heimfand. Ob sie mitbekam, was er ihr Tag für Tag erzählte? Die Fachleute waren unterschiedlicher Ansicht darüber, was Patienten registrierten, während sie im Koma lagen oder ob sie überhaupt etwas wahrnahmen. Bastian hingegen glaubte fest an die kleinen Wunder, die überall geschahen und doch übersehen wurden, weil sie so winzig waren. Denn wenn niemand mehr an Wunder glaubte, würde die Welt bald ein kalter, dunkler Ort bar jeglicher Hoffnung sein.

Es berührte ihn, dass sie an ihrem Geburtstag allein in einem Krankenhausbett lag, anstatt mit ihren Freunden zu feiern. Freunde, die sie längst nicht mehr besuchen kamen. Schon als er begonnen hatte auf dieser Station zu arbeiten, waren nur vereinzelt welche aufgetaucht, inzwischen sah er einzig noch ihre Eltern. Tapfer weigerten sich diese, Elenas Schicksal zu akzeptieren und redeten täglich mit ihr, als würde sie nicht in der Welt des Tiefschlafes gefangen gehalten. Heute hatte Bastian sie verpasst, was er bedauerte, denn er sprach gerne mit ihnen, so erfuhr er stets Neues von dem Mädchen, dessen Stimme er noch nie hatte hören dürfen. Durch die warmherzigen Erzählungen ihrer Eltern kam es ihm irgendwie auch so vor, als kannte er Elena tatsächlich.

Gerade als er sich vorbeugte, um ihr von seinen Erlebnissen bei der Arbeit zu erzählen, hielt er auf einmal inne. Es fühlte sich nicht richtig an, sie an diesem Tag mit belanglosen Dingen zu langweilen. Sie hatte Geburtstag und verdammt nochmal etwas Besseres verdient! Bastian biss die Zähne zusammen und sprach sich ins Gewissen. Was machte es denn schon, wenn er ihr eine seiner Geschichten erzählte? Wahrscheinlich würde sie die ohnehin nicht hören, und wenn doch, wem sollte sie in ihrem Zustand davon erzählen? Sein Blick schweifte über die zahlreichen Postkarten an den Wänden, bis er schließlich nickte. Ja, heute könnte er Elena den Jungen aus seinen Gedanken vorstellen, doch mit einem völlig neuen Abenteuer. Also beschloss er, die Geschichten in seinem Kopf mit ihr zu teilen, seine Seele für sie zu öffnen und die Dunkelheit zu vertreiben, in der Elena feststeckte und in deren finsteren Treibsand sie täglich ein Stück mehr einsank.

Zögerlich räusperte er sich einige Male, doch dann straffte er sich und fing mit leiser, ruhiger Stimme an, zu erzählen. »Es war einmal ein Junge, der sich unter der Gewalt des Himmelszeltes klein und unbedeutend vorkam. Ein Junge, der die Geheimnisse der Welt erkunden wollte und alles hinterfragte, was sich zwischen ihm und den Gestirnen befand. Unaufhörlich folgte er seiner Neugierde, überwand seine Ängste und ließ seine Träume wahr werden. Um Antworten zu finden, stürzte er sich in die Tiefen seines Verstandes, denn dort warteten die größten Abenteuer auf ihn. Dieser Junge hieß Bastian. Sein Wissensdurst war unerschöpflich, doch vor allem interessierte ihn eines: Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?«

Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?

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