Читать книгу Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird? - Carmen Gerstenberger - Страница 4

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Elena

Schwerelos trieb Elena in der Schwärze dahin, die zu ihrem ganzen Kosmos geworden war. Körperlos, ohne die Möglichkeit sich zu bewegen, war sie lediglich ein Staubkorn im Maul der gefräßigen Dunkelheit, die nicht daran dachte, sie je wieder auszuspucken. Wie lange sie sich an diesem Ort befand, wusste Elena nicht, ebenso wenig, weshalb sie nur manchmal bei Verstand zu sein schien. Die meiste Zeit über befand sie sich in einem Dämmerzustand, träge und antriebslos, nicht fähig, sich zu rühren oder bemerkbar zu machen. Dann blieben ihr nur die Gedanken, die jedoch ein recht grausames Gefängnis waren. Je nachdem, wie viel Freiheit ihr die Finsternis zugestand, erinnerte sie sich mal mehr und mal weniger an die letzten lichten Augenblicke, bevor sie hier gestrandet war.

Fetzen von Bildern drangen dann zu ihr hindurch, es waren äußerst verstörende Momente und grausame Empfindungen. Elena war bewusst, dass Metall nicht kreischen konnte, doch in ihren Flashbacks tat es das. Es kreischte in einer Art Todeskampf, als bettelte es um sein Leben, genau wie sie. In Wahrheit konnte sie dies nie lange genug festhalten, um sich an alles zu entsinnen oder etwas Bestimmtem zuzuordnen. Die Schwärze war jedes Mal stärker und zog sie mit sich, bevor sie die Chance bekam, ganz zu sich zu kommen. Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte oder ob das hier das Jenseits war. Falls es so etwas gab, jedenfalls.

Die einzigen Male, in denen sie es beinahe bis zur Oberfläche ihres sumpfigen geistigen Kerkers schaffte, waren die, in denen sie die Stimmen hörte. Das vertraute Murmeln ihres Paps und die liebevollen wärmenden Worte ihrer Mutter schenkten Elena Auftrieb, doch es war nie genug. Sie schaffte es nicht ans Ziel, niemals. Die Krallen der Dunkelheit packten sie stets vorher und zogen sie in die Tiefen des Nichts zurück. Fort von den Menschen, die sie liebte, fort vom Leben. Dann wurde sie zurückgeworfen in diese endlose Spirale aus Schatten und Geräuschen und alles begann von vorn.

Und dann war da dieser Fremde, Bastian, den sie nicht kannte und nicht einordnen konnte, der aber seit langer Zeit zu ihr sprach und sie für kurze Augenblicke aus ihrem Verlies holte. Seine Stimme brachte Licht in Elenas immerwährende Nacht. Wenn er redete, dann rückte die Hoffnungslosigkeit von ihr ab und machte Platz für bunte Farben und aufmunternde Melodien, die sie für einen winzigen Augenblick einlullten, mit sich rissen und vergessen ließen, dass sie lediglich noch in ihrem eigenen Verstand existierte. Die kostbaren Momente mit ihm waren der Klang der Zuversicht, der sie am Leben hielt. In dem düsteren Treibsand, in dem sie sich befand, hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Elena hatte nicht die geringste Ahnung, wie regelmäßig Bastian zu ihr kam, doch das war auch nicht relevant. Wichtig war nur, dass er kam. So wie jetzt.

Ungeduldig konzentrierte sie sich auf seine Stimme, nicht jedes Mal gelang es ihr, diese festzuhalten. Manchmal driftete Elena einfach davon und dann war sie traurig, weil sie den Momenten mit ihm regelrecht entgegenfieberte und nicht eine Sekunde davon verpassen wollte. Was immer eine Sekunde in ihrer kleinen Welt auch bedeuten mochte. Heute jedoch hörte sie ihn klar und deutlich, sie glaubte sogar, dass ihr Herz möglicherweise einen winzigen Takt schneller schlug. Wo immer es sich auch befinden mochte. Überrascht bemerkte sie, dass die Worte, die in ihr Unterbewusstsein vordrangen, dieses Mal anders waren. Normalerweise sprach er von seiner Arbeit, doch heute … erzählte er ihr etwa eine Geschichte?

»Es war einmal ein Junge, der sich unter der Gewalt des Himmelszeltes klein und unbedeutend vorkam. Ein Junge, der die Geheimnisse der Welt erkunden wollte und alles hinterfragte, was sich zwischen ihm und den Gestirnen befand. Unaufhörlich folgte er seiner Neugierde, überwand seine Ängste und ließ seine Träume wahr werden. Um Antworten zu finden, stürzte er sich in die Tiefen seines Verstandes, denn dort warteten die größten Abenteuer auf ihn. Dieser Junge hieß Bastian. Sein Wissensdurst war unerschöpflich, doch vor allem interessierte ihn eines: Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?«

Elena lauschte gebannt und im Geiste lächelte sie selig. Das war wunderschön, ob er wusste, wie sehr sie die Sterne liebte? Schon tanzten die kleinen Lichtpunkte um sie herum, die sie so sehr herbeigesehnt hatte. Sie vertrieben die Schatten in dem gähnenden Schlund, der kein Ende zu haben schien, und ließen sie träumen.

»Eines Abends wurde Bastian von einer merkwürdigen Sehnsucht gepackt, mehr von der Welt sehen zu wollen. Er kannte nur sein Zuhause, doch es gab so viel zu entdecken und er beschloss, nicht länger zu warten. Also schlüpfte er in seine grünen Abenteuer-Gummistiefel, nahm vorsorglich noch ein zweites, gelbes Paar mit und steckte sich ein Säckchen Zauberpulver in die Tasche, die er sich umhängte. Er fragte sich, wie wohl das Wetter auf der Welt so war und ob er seine Regenjacke umbinden sollte, doch dann schüttelte er den Kopf. Dorthin, wo es regnete, würde er einfach nicht gehen. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen verließ er sein Haus, doch die Reise musste noch ein wenig warten. Denn zuvor würde er am Ende der Straße seine Freundin Elena abholen, ohne die er keinesfalls aufbrechen konnte. Sie hatte kastanienbraune Haare, in denen sich die Sonnenstrahlen spiegelten und honigfarbene Augen – und sie war wunderschön. Aber das würde er ihr natürlich niemals sagen. Bastian war schließlich ein Gentleman. Außerdem war es doch viel eindrucksvoller, einer großartigen Frau die Welt zu Füßen zu legen, als sie mit Äußerlichkeiten zu langweilen.

Bei ihr angekommen, wartete sie bereits freudestrahlend auf ihn, streckte die Hand aus und nahm die gelben Abenteuer-Gummistiefel an sich. Als Bastian sah, dass sie so weit war, holte er das Säckchen mit dem Zauberpulver aus der Tasche und hielt es über Elenas Kopf. Sofort zog sie eine Grimasse und kniff sich die Nase zu, als würde sie gleich in ein Schwimmbecken hüpfen. Lachend verstreute er eine Prise des Pulvers über ihrem Haar und tat anschließend dasselbe bei sich. Endlich konnte es losgehen. Die Wirkung setzte umgehend ein und schon begannen sie, zu schweben. Schnell verschränkte Bastian seine Finger mit den ihren, dann hoben sie gemeinsam ab.«

Elenas tristes Gefängnis begann sich zu verwandeln. Bastians Worte waren stärker als die Schatten, sie besaßen sogar derart viel Macht, dass sich die eindimensionale Schwärze um sie herum allmählich veränderte. Konturen bildeten sich, die bald schon zu klaren Formen wurden. Farben aus der Wirklichkeit verdrängten die freudlose Ödnis, ihre unwirkliche Welt transformierte sich zu dem, was Bastian erzählte. Die Geschichte verselbstständigte sich plötzlich. Elena hörte sie nicht mehr, sie erlebte sie! Eben noch war alles dunkel gewesen, nun hielt sie Bastians Hand und flog. Sie flog!

»Pass auf deine Stiefel auf, verliere sie nicht wieder«, rief er ihr lachend zu.

Elena schluckte und sah an sich herunter. Das hätte sie besser bleiben lassen, denn statt ihrer Gummistiefel erblickte sie die Welt aus der Vogelperspektive. Erschrocken schrie sie auf und ruderte panisch mit dem freien Arm, sodass sie aus dem Gleichgewicht geriet.

»Was machst du denn da?« Bastian runzelte fragend die Stirn und sah sie verwundert an.

Sie war allerdings nicht fähig, ihm zu antworten. Arme. Sie hatte Arme und Beine! Sie besaß wieder einen funktionierenden Körper und sie konnte sehen, das war alles, was sie sich in der einsamen Zeitlosigkeit

gewünscht hatte, die hinter ihr lag.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«

Mit wild pochendem Herzen blickte sie zu ihm und nickte zaghaft. Ja, das war es. Das war es wirklich. Sie lebte wieder, irgendwie jedenfalls, und das war das kostbarste aller Geschenke, das er ihr hätte machen können.

»Ich kann dich auch loslassen, wenn dir das lieber ist?« Skeptisch musterte Elena ihre verschränkten Finger und anschließend die Häuser, die winzig unter ihnen vorbeihuschten. »Du weißt, dass das Zauberpulver uns in der Luft hält und nichts passieren kann?«

»Natürlich«, erwiderte sie leise und erschrak über den Klang ihrer Stimme, die ihr nach all der Zeit so fremd vorkam. Nein, das mit dem Pulver wusste sie selbstverständlich nicht, fliegen und zaubern gehörte nicht unbedingt zu ihrem Alltag. Aber sie wollte sich Bastian gegenüber nicht lächerlich machen, weshalb auch immer. Verstohlen wagte sie einen erneuten Blick auf ihn. Sie hatte ihn noch nie gesehen, nur gehört, ihr Unterbewusstsein hatte ihn daher einfach aus der Vorstellungskraft erschaffen. Oder hatten ihre Eltern ihr womöglich von ihm erzählt? Ob er in Wirklichkeit auch schwarze, verwuschelte Haare und tiefblaue Augen hatte, wusste sie also nicht. Aber sie gestand sich ein, dass ihr gefiel, was ihr Verstand sich ausgemalt hatte, möglicherweise hatte er all dies ja irgendwann erwähnt, sie konnte sich jedoch nicht mehr daran erinnern. Auch sein Alter konnte sie nicht abschätzen, in ihrer Fantasie war Bastian jedenfalls nicht viel älter als sie. War sie denn überhaupt noch achtzehn? Elena kam es vor, als hätte sie eine Ewigkeit in der Schwärze verbracht, die ihr ganzes Leben und somit alles, was noch vor ihr lag, aufgesaugt hatte.

»Hab keine Angst, ich bin immer bei dir, dir kann nichts geschehen.«

Es war die Wärme in seiner Stimme, die ihr letztlich die Beklommenheit nahm. Das hier war total verrückt, doch Elena war bereit. Sie war bereit, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, denn alles war besser als die trostlose Realität. Lächelnd löste sie ihre Finger aus Bastians, gab sich einen Ruck und flog allein. Sie fürchtete sich nicht mehr, denn was hatte sie schon zu verlieren? Ihr Leben?

Das war ihr bereits genommen worden.

Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?

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