Читать книгу Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird? - Carmen Gerstenberger - Страница 6

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Bastian

Obwohl er bereits seit beinahe zwei Stunden zu Hause war, kam Bastian an diesem Abend nicht zur Ruhe. Elena beherrschte nach wie vor seinen Verstand. Immer wieder fragte er sich, ob sie wohl auch nur ein Wort von seiner Geschichte mitbekommen hatte? Er hatte sie so selbstverständlich zu einem Teil seiner Erzählung gemacht, als kannte er sie schon lange Zeit. Natürlich war das nicht der Fall, dennoch fühlte es sich für ihn manchmal so an. Immer dann, wenn er sie minutenlang anstarrte, während sie reglos dalag und er sich in einem fort fragte, wie sie wohl war? Besaß sie tatsächlich das sonnige Gemüt, das er sich für sie vorstellte? Und war sie in Wirklichkeit genauso humorvoll, wie er es annahm? Liebevoll und großherzig? All das hatte er den Bildern entnommen, die ihre Eltern in Elenas Krankenzimmer über dem Bett aufgehängt hatten. Die, neben den Postkarten aus aller Welt, von einer lebenslustigen Frau zeugten, die das Leben und alle Menschen geliebt hatte.

Doch Bastian kannte nur den Schatten, der Elena noch war. Die traurigen Überreste des Energiebündels, für die er nun mitunter verantwortlich war. Trotz alldem blieb die Bitterkeit heute aus, die sich meist beim Gedanken an sie und ihrem undankbaren Schicksal bemerkbar machte. Denn heute hatte er es gewagt, eine seiner Geschichten zum Besten zu geben. Auch wenn es sich zu Anfang fremd und seltsam angefühlt hatte, so war es dennoch viel mehr befreiend gewesen, die Schleusen zu seinem Verstand zu öffnen und jemanden an all dem teilhaben zu lassen, was sich ansonsten dort hinter unzähligen verschlossenen Türen befand.

Er hatte einfach die Augen geschlossen und sich treiben lassen, was ihm trotz, oder vielleicht gerade durch ihre Gegenwart, sehr einfach gefallen war. Und dann war alles wie von selbst passiert. Und nun saß er auf seinem Sofa, während ein Actionfilm im Fernsehen lief, den er zwar ansah und trotzdem nicht sagen könnte, um was es überhaupt ging. Was wohl hauptsächlich daran lag, dass er gedanklich alle paar Sekunden zu Elena abschweifte. War es die richtige Entscheidung gewesen, sie auf eine imaginäre Weltreise mitzunehmen? Was, wenn sie doch alles mitbekam in ihrem Koma-Gefängnis? Was, wenn sie um ihren Zustand wusste, hatte er es dann nicht eher schlimmer gemacht, weil er ihr von Dingen erzählte, die sie nicht tun konnte? Nicht im Augenblick jedenfalls. Und dann kamen wieder die Momente, in denen er sich kopfschüttelnd einen Idioten nannte, weil er sich mehr um Elena sorgte, als er es als Krankenpfleger sollte.

Schnaubend stand er schließlich auf und schlurfte zum Kühlschrank, um nachzusehen, ob sich auf wundersame Weise noch etwas Brauchbares zum Essen darin manifestiert hatte. Was natürlich nicht der Fall war. Seufzend verzog er den Mund, weil er heute nach der Schicht eigentlich hatte einkaufen wollen, in seinem Schädel aber ganz offensichtlich nichts mehr normal funktionierte. Anschließend fiel sein Blick auf die Brötchen vom Vortag, zu denen er nach kurzer Überlegung schulterzuckend griff und herzhaft hineinbiss. Wieder auf dem Sofa fiel es ihm immer schwerer, seine Lider noch offen zu halten, er fühlte sich total geschlaucht und sehnte sich nach seinem Bett.

»Das wird wohl ein kurzer Abend«, murmelte er, während er den Teller mit dem Brötchen nach wenigen Bissen zur Seite schob und sich der Länge nach auf der Couch breitmachte. Das hier war zwar nicht seine göttliche Matratze, aber er fühlte sich nicht mehr in der Lage, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen. Für heute hatte er genug, außerdem benötigte er die wenigen verbliebenen wachen Gehirnzellen für die Überlegung, welche Geschichte er Elena als Nächstes erzählen konnte. Und dieses Mal sollte es eine eigene sein, eine, die er seit vielen Jahren in seinem Herzen mit sich trug. Lächelnd zog er sich die Kuscheldecke bis unter das Kinn und drehte sich auf die linke Seite. O ja, und er wusste auch schon genau, welche. Plötzlich freute er sich wie ein kleines Kind an Weihnachten auf das nächste Abenteuer, das er mit Elena erleben durfte.


Fünf sehr arbeitsreiche Tage später war es schließlich so weit, und Bastian fand nach zwei Doppelschichten wieder die Zeit und die Energie, lange genug bei Elena zu verharren, um sie auf eine weitere Reise mitzunehmen. Am Vortag hatte ihn die Oberschwester schlafend in dem Stuhl neben Elenas Bett vorgefunden und ihn mit vorwurfsvollem und leicht tadelndem Blick nach Hause geschickt. Zu seinem Bedauern war er leider viel zu oft von der Arbeit erschöpft, dabei würde er nichts lieber tun, als ihr stundenlang Geschichten zu erzählen. Selbst als er sich mit seinen Jungs getroffen hatte, war er ständig aufgezogen worden, weil er immerzu mit den Gedanken woanders gewesen war. Er wusste ja, wie bescheuert das alles war, doch deshalb musste es nicht falsch sein. Wie könnte es das auch, wenn es sich doch so richtig anfühlte?

Jetzt, da er lächelnd auf Elena hinabblickte, fühlte er sich mehr denn je bestätigt. »Ich hoffe von Herzen, dass du mich hören kannst, denn heute möchte ich dir jemand ganz Besonderen vorstellen«, sagte er leise. Dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und begann seine nächste Geschichte: »Es war einmal ein Junge, der sich unter der Gewalt des Himmelszeltes klein und unbedeutend vorkam. Ein Junge, der die Geheimnisse der Welt erkunden wollte und alles hinterfragte, was sich zwischen ihm und den Gestirnen befand. Unaufhörlich folgte er seiner Neugierde, überwand seine Ängste und ließ seine Träume wahr werden. Um Antworten zu finden, stürzte er sich in die Tiefen seines Verstandes, denn dort warteten die größten Abenteuer auf ihn. Dieser Junge hieß Bastian. Sein Wissensdurst war unerschöpflich, doch vor allem interessierte ihn eines: Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?«

Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?

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