Читать книгу Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen - Carmen Thomas - Страница 12
Оглавление„Zumachen“, also Blockieren, Mauern und Nicht-(mehr)-mitspielen-Wollen, ist die erste und typischste Reaktanz-Reaktion, die jede-r kennen dürfte, wenn irgendetwas passiert oder jemand auftaucht, der/die/das nicht passt, überfordernd, verletzend ist oder sonst wie gegen den Strich geht. Die Reaktanz äußert sich zuerst und sofort, noch bevor sie bewusst wahrgenommen wird, „nach innen“, zum Beispiel im Dicker-Hals- oder Harter-Bauch-Gefühl. Die nächste Stufe sind Signale nach außen: beispielsweise Augen zusammenkneifen, Lippen aufwerfen, vorgeschobenes Kinn, eventuell spontanes Armekreuzen oder sogar abwehrende Handbewegungen.
Es war ein längerer Lernprozess, der mich zu der Erkenntnis führte: Ich kann die Reaktanz-Empfindungen als pointierte Beratung begreifen, sie ernst nehmen und dann in Ruhe ganz gelassen hinsehen und hinhören, was eigentlich genau los ist. Erst mal zulassen statt zumachen führt immer weiter. Abweisen geht ja immer noch und jederzeit.
Im Zulassen, im Erstmal-neugierig-Sein liegt der erste Schritt zu den anderen Sätzen. Nur wer überhaupt erst mal zulässt, kann danach addieren, verwerten, umnutzen, sich interessieren und fehlerfreundlich sein. Das Zulassen ist der Generalschlüssel zu einer neuen Verhaltens-, Umgangs- und Lösungs-Kultur. Zulassen verhindert zeitfressende Bedenkenträgereien und stoppt fruchtlose Überlegungen, wie’s nicht geht. Außerdem ist Zulassen der Türöffner, um bei Reaktanz-Gefühlen angesichts von Kritik erst mal Ruhe einkehren zu lassen. Und es ist der Grundstein zu der Grundannahme: „Geht nicht gibt’s nicht – es gibt immer mindestens einen Weg.“
Der Lohn des Zulassen-Lernens ist das schöne Gefühl, mit schwierigen Situationen gelassen, fair und offen umgehen und sogar aus fiesen Situationen noch Nutzen ziehen zu können.
Der Lohn des Zulassen-Lernens ist das schöne Gefühl, mit schwierigen Situationen gelassen, fair und offen umgehen und sogar aus fiesen Situationen noch Nutzen ziehen zu können. Wie das geht? Beginnt wie immer mit einem ersten Schritt …
Vom Zumachen vor dem Zulassen
Uff – zulassen? Diesen ersten Schritt musste ich als Anfängerin im Radio erst finden. Nach Abschluss meines Studiums fragte ich den Chefredakteur, welche Chancen es denn wohl für mich zum Weiterentwickeln gäbe. Das brachte ihn auf den glorreichen Einfall, mich ausgerechnet ein Volontariat in der Redaktion machen zu lassen, in der ich bereits seit zwei Jahren als Moderatorin arbeitete.
Dazu ist wichtig zu wissen, wie tief der Graben zwischen Redaktion und Moderation schon immer war: Das „Schwarze-Peter-Karussell“ lautet(e): „Die Moderation versaubeutelt die tollen Redaktions-Themen auf dem Sender.“ Gekontert mit: „Die Redaktion liefert die doofen Themen, weshalb die Moderation schlecht sein muss.“
Ich saß also in der Redaktion, als der Oberredakteur des Morgenmagazins zu einem Jüngeren sagte: „Ruf doch mal für morgen früh den XY in New York an.“
„Wer ist das denn?“, fragte der Kollege.
„Das ist der stellvertretende UNO-Generalsekretär“, sagte der andere.
In diesem Moment kam eine Kollegin herein. Moderatorin wie ich, aber etwas älter und schon länger dabei. Der frisch Beauftragte sagte ironiefrei zu ihr: „Rufen Sie doch mal für die Sendung morgen den XY an.“
„Wer ist das denn?“, fragte die Kollegin ganz normal.
Und da antwortete der Typ, der vor einer Minute selbst die gleiche Frage gestellt hatte, ungespielt empört: „Waaaas?!?!?! Das wissen Sie nicht? Und dann wollen Sie hier als Moderatorin arbeiten?“ Und das todernst.
Ich saß wie vom Donner gerührt da. Bis heute schäme ich mich dafür, dass ich feige die Klappe hielt. Und der Schock war so groß, dass ich von Stund’ an vor allem eins tat: zumachen. Also: Reaktanz durch Einschüchterung in Reinkultur. Der Mut, irgendeine Sachfrage zu stellen, war futsch. Denn es kam immer wieder vor, dass der Satz „Waas, das wissen Sie nicht?!?!“ auch in unterschiedlichsten anderen Zusammenhängen zum „Dissen“ benutzt wurde. Aber wie soll wachsen, wer kleingemacht wird?
Und das war kein Einzelereignis, sondern ein Grundproblem in der Unternehmens-Kultur. Als eine der ersten Moderatorinnen des WDR-Morgenmagazins fand ich mich morgens um 5:00 Uhr im Sender ein. Und wenn ich dann um 9:00 Uhr nach drei Stunden Moderation erschöpft und voller Selbstzweifel aus dem Studio wankte, saß dort der Redakteur, die Füße auf dem Schreibtisch. Und dann legte er los mit der Manöverkritik: „Da hast du wieder nicht ...“ – „Und da hättest du doch ...“ Gelegentlich erledigte er das, was ihm akzeptabel erschien, mit einem Mini-Satz: „Das ging ja, aber …“, und dann kam der Rattenschwanz von Kritik.
Natürlich ließ ich mir nicht anmerken, dass ich jedes Mal zutiefst getroffen war. Die Kritik konnte ich aber auch nicht auf mir sitzen lassen und erklärte mich daher halb zu Tode. „Das ist nur geschehen, weil …“ - „Und dann hat der ja das und das gemacht …“ - „Das haben Sie missverstanden ...“ – „Das sollten Sie sich noch mal anhören ...“
Mein ganzes Rechtfertigen und Erläutern, wie es dazu gekommen war und was für Umstände dies und das verhindert hätten, gingen so lange und waren so nervig, dass nach einiger Zeit kein Mensch mehr Lust hatte, mir überhaupt irgendein Feedback zu geben. Wie unendlich schade, wo Kritik und Feedback doch so wertvolle Entwicklungshelfer sein können – allerdings erst dann, wenn alle Beteiligten sich für wirkungsbewusste und Reaktanz senkende Methoden entschieden haben.
Kritik und Feedback können wertvolle Entwicklungshelfer sein – allerdings erst dann, wenn alle Beteiligten sich für wirkungsbewusste und Reaktanz senkende Methoden entschieden haben.
Als erste Frau, die eine Sport-Sendung im deutschen TV moderieren durfte, war ich 1973 bei der Samstagabend-Live-Sendung „ZDF-Sportstudio“ verständlicherweise eine wandelnde Reaktanz erzeugende Herausforderung – nicht nur für die Fans und das Publikum, sondern auch für die Kollegen. Bei den Nachgesprächen am Montag nach der jeweiligen Samstagabend-Sendung konnten bis zu 60 Redakteure „zu Gericht sitzen“. So wirkte diese distanzierte Runde in einem Riesen-Konferenzsaal auf mich. Die Rückmeldung verlief als schlicht formloses Ritual, undurchdacht-assoziativ, ohne weiterführende Lern-Punkte. Da es keine klare und respektvolle Feedback-Kultur gab, lag es an mir mit meinem riesigen, eingeschüchterten Reaktanz-Hals, die Rosinen aus den Ansagen herauszupicken.
Einziger Vorzug: Da meist auch die obere Hierarchie anwesend war, ging es dabei deutlich kultivierter zu als dann 1975 bei der Talkshow „3 nach 9“ in Bremen:
Ein Jahr war ich als Talkmasterin mit Wolfgang Menge und Karl-Heinz Wocker dabei, anstelle von Marianne Koch. Die Nachgespräche aus dieser Zeit sind mir als „emotionale Hinrichtungen“ in Erinnerung. Komplett etikettefrei wurde aufeinander rumgehackt und nach allen Seiten gnadenlos mit wetteiferndem Sarkasmus ausgeteilt. Alle waren erleichtert, wenn jemand einen frühen Zug oder Flug erreichen musste und das Gemetzel deshalb ausfiel.
Ich war nie blöde genug, um nicht selbst zu merken, dass vieles nicht gut genug war. Im Gegenteil: Alles und jedes, was suboptimal gelaufen war, stand mir stets überlebensgroß vor Augen und Seele, auch wenn ich das mit kesser Lippe zu überspielen versuchte.
Das Äußerste, was ich an Zulassen zustande bekam, bestand darin, mit „dickem Hals“ den Mund zu halten und niemanden anzuschauen, um keinen weiteren Streit vom Zaun zu brechen. Ein wahres Eldorado der Reaktanz – insgesamt vor allem blockierend und lähmend und ohne jede Chance zur Kreativität oder zum Dazulernen.
Bestimmt wäre es ein Anfang gewesen, wenn ich es geschafft hätte, erst mal alles ganz gelassen stehen zu lassen – auch das, was mich traf. Aber das ist ohne Training richtig schwer, vor allem in dem jungen Alter. Da waren doch noch so viel innere Unsicherheit und Selbstzweifel. Das Ganze erinnerte ein bisschen ans Apnoe-Tauchen: Wer einfach die Luft anhält und loslegt, kann ohne richtiges Maß böse enden. Aber mit Methode üben und dann langsam steigern – das bringt Erfolg. Der Weltrekord im Luftanhalten liegt übrigens bei sensationellen 21 Minuten und 33 Sekunden (überraschend: der Weltrekordhalter kommt aus den Schweizer Bergen ) .
Mein Job zwang mich dazu, mehr über den sinnvollen Umgang mit Feedback zu lernen als andere Menschen. Denn mit gerade mal 21 in so einer hoch begehrten und geachteten Position öffentlich zu werden, das hatte einen Preis, von dem ich anfangs noch nichts ahnte: Es führte zu tausendfachen nicht angeforderten Feedbacks. Per Post kamen Oberlehrer-Korrekturen, Taktlosigkeiten aller Art, Heiratsanträge, Neid-Attacken, ja sogar Morddrohungen bis hin zum damals noch analogen „Shitstorm“ in Form von echt benutztem Klopapier (bezeichnenderweise zu der Sendung zum Thema „Kinder aufklären“).
Eins war klar: Wenn ich dabei keinen Schaden nehmen wollte, brauchte ich neue Wege, um mit Kritik unbedingt konstruktiv, im wahrsten Sinne kompostierend umzugehen.
Den ersten kleinen Schritt, das Stehenlassen, lernte ich in einer augenöffnenden Fortbildung bei Ruth Cohn, der Erfinderin der themenzentrierten Interaktion. Daraus wuchsen neue Feedback-Strategien. Die halfen mir schrittweise, beim Zulassen und Auswerten immer besser zu werden. Und als ich später über Jahre Gruppen-Coachings leitete, wurden Reaktanz-Situationen immer klarer erkennbar. Und das machte es immer leichter, sie umnutzen zu lernen, als ich die Sache mit dem Zulassen zu durchschauen begann. Denn das ist schlicht die Voraussetzung zum
Zuhören: Was meint das Gegenüber genau?
Hinhören: Nuancen, die Diktion, die Stimme, Mimik, Gestik, das Äußere bewusster mitbeachten.
Dahinterhören: Was ist die „hidden agenda“, die eigentliche versteckte Botschaft des Gegenübers?
Verwertend hören: Nur auf die Substanz achten und die herausfiltern, statt abzublocken oder wegzuhören.
Ganz ehrlich? Das fiel mir erst mal richtig schwer. Ein wichtiger Lernschritt war, sich niemals mehr zu rechtfertigen und nix mehr zu erklären – egal, was geäußert wurde. Uff – erst mal reaktanzig-herausfordernd. Aber so befreiend. Denn das bedeutete ja auch, anderen weniger Macht über sich zu geben. Jedes Rechtfertigen macht im Grunde vor allem eines deutlich: Touché – aha, hier sind offenkundig dünnhäutige und verletzliche Stellen getroffen.
Zulassen – das Abenteuer beginnt
Die Auswahl der Gäste für Radio und Talkshows verlief in den meisten Redaktionen ebenso quälend mit dauernden Herabsetzungen wie das Feedback. Kreative oder mutige Ideen entwickeln? Kein Gedanke dran. Sofort wurde jeder Einfall zu Tode argumentiert und die Ideengeber gern lächerlich gemacht. Meine Anregung, doch einfach mal das Publikum nach seinen Wünschen bezüglich der Talkgäste zu befragen, wurde bei „3 nach 9“ mit höhnischem Gelächter quittiert: „Denen fallen doch sowieso nur Peter Alexander oder Inge Meisel ein.“
Dabei war ich mir von Anfang an sicher, dass das Publikum ganz eigene und interessante Themen auf der Pfanne hätte. Und wie wunderbar: Ab 1974 hatte ich als Redaktionsleiterin den Beweis dafür und die freie Hand zum Umsetzen. Jetzt konnte ich alles anders machen als zuvor. Und dazu gehörte tatsächlich die Umstellung, die Themenwünsche des Publikums zuzulassen. Damit war die Mitmach-Idee zu „Hallo Ü-Wagen“ geboren: In dieser „Kult-Institution“ – wie sie später so schmeichelhaft betitelt wurde – holte ich von 1974 bis 1994 wöchentlich drei Stunden lang Tausende von Menschen ans Mikrofon des Ü-Wagens, der ambulant an jeweils zum Thema passenden Orten in NRW zu Gast war. Fast 1.000 vom Publikum selbst angeregte politische, kulturelle, Alltags- und Tabu-Themen wurden dabei von geladenen Expert-inn-en und spontan Dazukommenden diskutiert. Zum ersten Mal konnten Millionen von Hörerinnen und Hörern im bevölkerungsreichsten Bundesland sowohl live am Ü-Wagen als auch in zahllosen wöchentlich vorgelesenen Pro-und-Kontra-Briefen ebenso spannend wie informativ ungefiltert von sich aus interaktiv mitmachen.
Was ich damals nicht mal ahnte, war, dass mir die Mitmach-Idee nicht nur die schönsten Lorbeeren und Preise als echte Rundfunk-Innovation einbrachte. Zusätzlich entpuppte sich die Idee als Vehikel zur absoluten journalistischen Freiheit. Von Stund’ an musste ich in keiner Redaktions-Konferenz mehr begründen, warum ich ein Thema interessant fand. Es war ein Publikums-Wunsch, also wurde es zugelassen. Das führte dazu, dass zum ersten Mal über fast drei Stunden Themen im Radio vorkamen, die vorher dort noch gar nicht oder nicht so ausführlich Platz gefunden hatten.
Anfangs dachte ich bei „Hallo Ü-Wagen“ noch selbst: Ich bin mal nett zu diesen einfachen Menschen, indem ich sie auch mal was sagen lasse. Bis ich begriff, dass umgekehrt das Publikum extrem nett zu mir war, dass es mich nicht ein einziges Mal in Hitze, Schnee und Regen hat allein stehen lassen, sondern der Sendung vielmehr zu ihrem unverwechselbaren Image verhalf, hat es eine Weile gedauert.
Das Publikum war es dann auch, das mir ein komplett neues Themenverständnis beigebracht hat. Und diese wöchentlichen neuen Vorbilder schoben im Laufe der Zeit einen Prozess an. Der sorgte dafür, dass immer mehr ebenso alltägliche wie ungewöhnliche Anregungen eingesandt wurden, die mir im Leben nicht eingefallen wären. Der Dreh war, das Politische im Alltäglichen zu erkennen und aufzufalten. Überhaupt der normalen Wirklichkeit in den Medien mehr Raum zu verschaffen. Das gelang nur mit der wachsenden Fähigkeit, aus jedem, wirklich jedem Thema etwas machen zu lernen.
Bei der allerersten „Hallo Ü-Wagen“-Sendung ging es erst mal schlicht mit dem Thema „Nikolaus-Bräuche“ los und mit der Frage, inwieweit das Kinder-Täuschen dabei richtig und oder nur nett für Erwachsene ist, oder ob der Vertrauensbruch folgenreiche negative Auswirkungen auf die arglosen und vertrauensvollen Kleinen haben kann. Diese Sendung war noch meine eigene Idee. Schlicht, weil mein Start am 5.12.1974 stattfand und ich noch auf Tages-Aktualität gedrillt war.
Danach ging es dann dramaturgisch geplant durch Themengebiete, die die Hörer-innen eingesandt hatten: Nacktsein, Vornamen, Hundekot, Karnevalsbräuche, Stillen, Drachenfliegen, Altensport, Adoption ...4 Was die Themen kennzeichnete, war, dass sie weniger auf Pressekonferenzen vorkamen, dafür aber ohne Aufhänger praktisch täglich aktuell waren. Sie brannten Menschen unter den Nägeln. Und das zuzulassen war zu der Zeit eine echte Innovation: die Wirklichkeit im Radio stattfinden lassen.
Schräges zulassen als Motor der Kreativität
Eine besonders hilfreiche Einsicht war, dass es sich lohnt, auch Schräges zuzulassen statt zuzumachen. Ein Praxis-Beispiel: eine Drei-Stunden-Livesendung über den Bleistift. In einer normalen Redaktion wäre selbst ein Drei-Minuten-Beitrag darüber als zu lang abgeschossen worden, nicht nur wegen des Mangels an Tagesaktualität. Denn die Tatsache, dass den Bleistift so viele Menschen alltäglich gebrauchen, war für eine normale Redaktion noch lange kein Grund für eine Sendung. Da müsste schon ein Bleistift als Mordwaffe verwendet worden sein. Doch neue Herangehensweisen schufen komplett andere und kreativere Zugänge.
Die Konzeption für die Sendung ergab sich aus dem Redaktions-Storming mit Fragen wie: „Wo kommt der Bleistift ursprünglich her? Wer hat ihn erfunden? Wie lange gibt es ihn schon? Wo alles auf der Welt wird er verwendet? Und wo gar nicht? Was ist da drin? Wie kommt der Bleikern in das Holz? Wieso fallen die Minen nicht raus? Und wann doch? Was ist Grafit denn genau? Und wie wird es erzeugt? Welche Ersatzstoffe wurden wie und woraus und von wem wo entwickelt? Wann wurde der Drehbleistift vom wem, weshalb und wo erfunden? Welche Maße haben Bleistifte und welche Rekordhalter gibt es? Was genau ist der Unterschied zwischen Blei- und Buntstiften? Was wurde inzwischen noch alles neu entwickelt? Auf welchen Untergründen kann der Bleistift genutzt werden und worauf nicht? Welche Künstler-innen verleg(t)en sich besonders auf Bleistifte? Für welche Berufe sind Bleistifte unverzichtbar? Was ist mit den Spitzern: Methoden, Formen und Tools? Welche Nationen haben den höchsten Bleistift-Verbrauch und wieso? Und welche den geringsten? Was sind Nachteile des Bleistifts? Welche anderen Stifte bedrohen die Existenz der Bleistifte am meisten? Was wurde vor dem Bleistift benutzt? Wer kann eine Lobeshymne, wer eine Hass- und wer eine Trauerrede auf den Bleistift halten? Wie steht es um die Zukunft des Bleistiftes und um seine Kombination mit der riesigen Radiergummi-Welt?“ Und, und, und …
Es war immer wieder überraschend, dass auch auf den ersten Blick so „trockene“ Themen wie der Bleistift so viele interessante Facetten enthalten können. Das entpuppte sich erst mal nur durchs Zulassen. Und unterstützt wurde es, als ich das MOSES-Stormen aus dem Coaching ab 1980 als ersten Schritt auch in die Redaktionsarbeit einführte: Da ich die Eskimo-Methode noch nicht erfunden hatte, wurden am Whiteboard fünf Spalten eröffnet mit den Überschriften: Mensch – Ort – Sachthemen – Ereignisse – Sinnliches (also sehen, hören, schmecken, riechen, tasten). Auf Zuruf wurden dann chaotisch zu jeder Sparte getrennt Einfälle gesammelt und entweder von Inge, der Aufnahmeleiterin mit der schönen Schrift, oder rotierend pro Spalte notiert. Danach wurden von jeder Person ein bis drei Einfälle schlicht nach Bauch-Gefallen notiert und geordnet. Und zack, entstand in maximal 30 Minuten ein erstes Konzept der Sendung, aus der Gruppen-Klugheit von allen gleichermaßen gespeist.
Für mich gibt es keine langweiligen Themen und keine langweiligen Menschen mehr, sondern nur langweilige Arten, auf Menschen und Dinge zuzugehen.
Mit zwei bedeutenden Erkenntnissen: Für mich gibt es seither keine langweiligen Themen und keine langweiligen Menschen mehr, sondern nur langweilige Arten, auf Menschen und Dinge zuzugehen. Es braucht dazu nur Neugier, Offenheit und passendes Handwerkszeug. Egal, welches Thema, ob Saucieren oder Läuse, Langeweile, Landstreicher oder was auch immer: Wenn Themen und Einfälle jeder Art zugelassen werden, wird alles möglich. Und je mehr Sendezeit, umso informativer, facettenreicher und spannender wurde es. Die zweite bedeutende Erkenntnis ist die für mich zunächst verblüffende Einsicht, dass Struktur der Beginn von Freiheit, Kreativität, Mut und Sicherheit ist und nicht das Ende.
Meine vorherige Haltung, mal alles ganz locker anzugehen, mal zu gucken, was passiert, führte – Grusel – zu Chaos, Ergebnislosigkeit, Fehlentwicklungen, Unsicherheit und insgesamt eher Unangenehmem. Das Strukturlose brachte eine hochgradig unprofessionelle Abhängigkeit von Tagesform, Antipathie, Sympathie, Hierarchie, Ambiente, Nebenschauplätzen, Entwicklungsstand des Gegenübers … also von viel zu vielen Variablen. Struktur gab und gibt mir die Sicherheit eines Geländers, das ich auch loslassen, an dem ich vor- und zurückgehen und runterrutschen kann. Vor allem schafft es Klarheit, wo es wie langgeht. Und deshalb kann dann alle Kraft in die Tiefe des Was fließen – gerade, weil das Wie glasklar ist.
Den richtigen Dreh finden
Zu Schlüsselerlebnissen habe ich ein ganz besonderes Verhältnis. Mein Leben ist voll davon. Ich sammele sie geradezu. Deshalb freute ich mich über die Publikums-Anregung, mal eine Sendung über „Situationen zum schnelleren Begreifen“ zu machen. Da war die Chance groß, dass viele Menschen erkenntnisreiche Geschichten über ihre Schlüsselerlebnisse teilen könnten. Herrlich. Also wurde eine Sendung unter dem Titel: „Und plötzlich macht es klick – Schlüsselerlebnisse“ geplant.
Wo diese Sendung am besten ansiedeln? Die Publikumsbefragung ergab: Schlüsselburg in Ostwestfalen. Ja, ist das nicht wunderbar, dachten alle.
Ich sehe mich noch heute da stehen und mich zwei Stunden lang darüber wundern, dass ausschließlich Geschichten von verlorenen und wieder aufgetauchten Schlüsseln erzählt wurden. Mir schwoll der Hals, aber warum und was da eigentlich passierte, das hinterfragte ich nicht. Erst gegen Ende der Sendung wurde es mir klar: Ich mit meiner klaren Vorstellung von Schlüsselerlebnissen hatte einfach die ganze Zeit nicht kapiert, dass der Schlüsselburger als solcher – und die Schlüsselburgerin auch – durch das Stadtwappen und tausend Schlüssel-Anspielungen in Straßen und Kneipen geprägt, den Begriff im übertragenen Sinne überhaupt nicht präsent hatte. Für diese Bürger-innen war ein Schlüssel ein Schlüssel und fertig.
Das bedeutete, die Sendung hatte ein wunderbar gedachtes Thema – aber das konnte dort niemand nachvollziehen. Ich spürte zwar, wie ich angesichts dieser Entwicklung reaktant wurde, nutzte das Gefühl aber viel zu lange nicht; das Team im Hintergrund, die Expertinnen und Experten auch nicht. Alle waren ebenso betriebsblind wie ich und schüttelten die Köpfe über all die zum Teil hochdramatischen Schlüssel-verlier-und-wieder-auftauch-Geschichten.
Im Nachgang dieser Sendung ging mir im wahrsten Sinn des Wortes ein Licht auf: Tatsächlich funktionieren Kommunikation und Kreativität wie der Umgang mit Licht. Das bloße Auge sieht immer nur weiß. Wenn ich jedoch das richtige Werkzeug habe, nämlich ein Prisma, und weiß, wie es im Licht zu drehen ist, erscheint immer das ganze Spektrum der Regenbogenfarben.
Kommunikation und Kreativität funktionieren wie der Umgang mit Licht. Das bloße Auge sieht immer nur weiß. Wenn ich jedoch das richtige Werkzeug habe, nämlich ein Prisma, erscheint immer das ganze Spektrum der Regenbogenfarben.
In meinem Fall war das „Prisma“ eine möglichst geschliffene professionelle Ausrüstung in Form von Fähigkeiten, Tools und Verhaltensweisen, die es mir ermöglichten, in allen Lebenslagen den richtigen „Dreh“ zu finden, um die bunten Farben eines Themas zum Auf- und Einleuchten zu bringen.
Das Schlüsselburg-Beispiel gefällt mir deshalb so gut, weil es etwas Bedeutsames illustriert: Wenn etwas nicht klappt oder auf Anhieb sperrig wirkt, ist die erste Voraussetzung zur Veränderung, das Warnsystem in mir ernst zu nehmen, sprich: erst mal die Reaktanz, den inneren Blindwiderstand, als hilfreichen Hinweis erkennen zu können. Das liefert den Schlüssel zum Zulassen und dazu, mich selbst und dann auch andere für Neues und Veränderndes zu öffnen.
Das bedeutet aber auch, die volle Verantwortung für die Resultate zu übernehmen, auch, wenn’s schief geht, ganz ohne Schuldzuweisungen. Denn wenn das Regenbogen-Spektrum nicht erscheint, ist es ja trotzdem vorhanden – ich habe es nur in diesem Moment nicht zum Einleuchten gebracht. Wenn es gelungen wäre, den Irrtum früh in der Sendung aufzuklären, wäre der Verlauf ein komplett anderer geworden.
Wenn etwas nicht klappt, ist die erste Voraussetzung zur Veränderung, das Warnsystem in mir ernst zu nehmen, sprich: erst mal die Reaktanz als hilfreichen Hinweis erkennen zu können.
Es liegt ausschließlich an meinen Kompetenzen, ob das Farbig-Spannende an einem Thema sichtbar wird. Und die brauchen in der Kommunikation genauso Methoden und Übung - wie jeder Sport, jedes Spiel, jedes Instrument.
Mich fasziniert die Idee, dass sich Kommunikation ähnlich wie die vier Aggregatszustände in der Physik abbilden lässt:
1. Gasförmig = Denken: was die Möglichkeit der Gedankenübertragung verständlicher machen könnte
2. Flüssig = Reden: das „flüssige Sprechen“, der „Redefluss“ zeugen ebenso davon, wie die Tatsache, dass das Sprechen buchstäblich nicht mehr gelingt, wenn die Spucke wegbleibt
3. Fest = Schreiben: Kommunikation mit Materie – egal ob Papier, Wachs, Leder, Kunst oder Stein – macht Kommunikation im wahrsten Sinne „handhabbar“
4. Plasmatisch = intuitiv Spüren: Der plasmatische Aggregatszustand, der auf der Erde vor allem in Blitzen, im Polarlicht, in Magma, in den Funken beim Haare-Bürsten und im Weltall zu über 90% vorkommt, kann in seinen Ausprägungen von zerstörerisch bis faszinierend spiegeln, wie machtvoll das Unbewusste (inklusive Reaktanz) die Kommunikation beeinflusst.
In diesem Bereich gibt es sicher noch viel zu entdecken, was bis heute noch ganz verborgen oder unbekannt ist, und was dann erst mal seinen Weg durch die gesetzmäßige Reaktanz-Kaskade von „ignoriert, verlacht, bekämpft, übernommen“ zu bewältigen hat.