Читать книгу Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen - Carmen Thomas - Страница 9
ОглавлениеLive aus Dublin ohne Ahnung oder:
Wie alles anfing
Mein Start als Radiomoderatorin mit 21 Jahren ergab sich durch Zufall. Aus dem Stand – ohne ein einziges Wort der Instruktion und außerdem noch komplett ohne Internet – war der Auftrag, eine erste Live-Reportage über Reisemöglichkeiten in Irland für das WDR-Morgenmagazin auf WDR 2 zu machen. Das war 1968 praktisch der einzige Sender in NRW.
Unvorstellbar heutzutage: Radio war damals viel wichtiger als Fernsehen. Denn Fernsehen – das waren ja erst mal nur zwei Programme und später die Dritten, die fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Und die beiden Haupt-Programme sendeten bis in den Nachmittag hinein das Testbild. Und ab ca. 23:30 Uhr auch wieder.
Die Live-Sendung „Morgenmagazin“ war mit über 7 Millionen Hörer-inne-n die meistgehörte Sendung in NRW. Na toll. Wegen des enormen Lampenfiebers sind bei mir nur noch schemenhafte Erinnerungen an diese Live-Reportage aus Dublin und das Bild eines gruselig-chaotisch beschriebenen Spickzettels vorhanden. Irgendwie brachte ich es dann doch hinter mich, auch wenn ich Blut und Wasser schwitzte und das Gefühl hatte, nur Unsinn geredet zu haben.
Im Nachhinein empfinde ich viel Dankbarkeit für die Chancen, die sich daraus für mein weiteres Leben ergeben haben. Aber an sich war es rückblickend und mit meinem heutigen Kenntnisstand unverantwortlich, so untrainiert und reaktant bis unter die Haarwurzeln auf die Menschheit losgelassen zu werden.
Da die Redaktion den Auftritt offenbar weniger schrecklich fand als ich selbst, gehörte ich nach drei Monaten und zwei Probesendungen ab August 1968 zum Team der ersten Moderatorinnen des WDR-Morgenmagazins. Das war damals nämlich die einzige Sendung in der Abteilung Politik, bei der Frauen geduldet waren – allerdings nur in Form der Doppel-Moderation mit Männern. Unverhohlen und natürlich „enorm beflügelnd“ redeten die männlichen Kollegen ungeniert darüber, dass Frauen für solche Aufgaben eigentlich nicht geeignet seien. Minister und andere wichtige Persönlichkeiten wurden deshalb vor allem von Männern interviewt. Frauen bekamen jemand richtig prominenten meistens nur dann ab, wenn mehrere davon in einer Sendung vorkamen.
Und dass sich die Frauen damals vernetzt hätten? Um Gottes Willen. Erst seit 1968 durften Frauen selbstständig ein Bankkonto eröffnen, ihre Arbeitsverträge mussten sie bis 1977 noch von ihren Männern unterschreiben lassen. Wegen der realen Abhängigkeit von den Männern herrschte die berüchtigte Stutenbissigkeit. Erst ab 1974 durften Frauen die WDR-Hörfunk-Nachrichten vorlesen – nachdem das ZDF mit Wibke Bruhns in der „heute“-Sendung ab 1971 in Vorlage getreten war. Und erst ab 1986 (!), als der Chef des Mittags-Magazins in Rente ging, durfte auch diese Sendung von einer Frau moderiert werden.
Tja, meine Voraussetzungen für den Moderations-Job waren also: keine. Ich befand mich noch mitten im Studium. Na ja, vielleicht gab es doch etwas: ein ganz eloquentes Mundwerk und ein bisschen Mutterwitz: „Kann gut Witze erzählen und Dialekte nachmachen“, hieß es.
Ich ahnte damals zwar noch nicht, wie wenig Ahnung ich hatte. Aber ich war mir in einem ganz sicher: Das, was ich da ablieferte, war auf keinen Fall gut genug. Doch es war mir rätselhaft, wie es besser gehen könnte. Zu der Zeit war Radio im Wesentlichen perfekt vorgelesene Zeitung: durchgeschliffen formuliert, bloß keine Versprecher, an den richtigen Stellen atmen, mit wohlklingender Stimme reden. Als erlernbar galt der Moderationsberuf nicht. Okay, für Sprecher-innen gab es Stimm- und Sprecherziehung. Aber für das Journalistische? Nein, nein. Da hieß es: „Man hat es, oder man hat es nicht“.
Das Einzige, was ich mir von älteren Kollegen wortlos abguckte, war, Spickzettel zu schreiben. Aber wie professionelles und systematisches Fragenstellen geht, wie schwierige Situationen zu meistern sind, wie sich die Stimmung bei Mitwirkenden und beim Publikum positiv beeinflussen lässt? – Pustekuchen.
Nach fünf Jahren Moderation Morgenmagazin, zwei Jahren als WDR-TV-Reporterin, einem Jahresvertrag beim BBC TV, nach einem Jahr als Tagesmagazin-Moderatorin und als erste Frau in der Moderation einer Sportsendung im deutschen TV entwickelte ich ab 1974 die erste Mitmach-Sendung im Rundfunk, die WDR-Sendung „Hallo Ü-Wagen“: Jede Woche fuhr das Team mit dem Ü-Wagen zu einem anderen Ort in Nordrhein-Westfalen und sendete fast drei Stunden live von dort, wo das vom Publikum angeregte Thema angesiedelt war. Durch die Konzeption wurde das Radio zum ersten Mal in der Rundfunk-Geschichte konsequent zum Zwei-Wege-Kanal: Jede-r konnte nicht nur Themen anregen, sondern auch bei jeder Sendung live im Radio mit und ohne Ahnung, unabgesprochen und komplett ungefiltert, aktiv und ungeschnitten etwas beitragen. Die Aufzählung dieser Herausforderungen kann hier verdeutlichen, in was für riesigen Reaktanz-Sumpfgebieten ich mich zu der Zeit bewegte.
Eine bedeutsame Einsicht aus dieser Zeit: Es ist unverzichtbar, Spielregeln zu haben und die auch konsequent zu kommunizieren. Das setzte einen öffentlichen Lernprozess derart in Gang, dass das Publikum immer häufiger selbst half, den Spielregeln Geltung zu verschaffen: „Das gehört jetzt nicht zum Thema!“, rief die Menge nach kurzer Zeit von sich aus, wenn jemand versuchte, die Übertragung für eigene Zwecke zu missbrauchen.
Damit entstand eine neue Kultur. Sie lieferte ein anderes Bild von Menschen und speziell vom bis dahin als inkompetent, ja als irgendwie doof geltenden Publikum. In dem neuen Modell wurde alles möglich: sich versprechen, stolpern, den Faden verlieren, (scheinbar) danebenreden und so weiter. Die Moderatorin lernte, nur einen Zettel zu haben: den mit den Namen der Geladenen und ihrer Funktionen und mit den nächsten Musikansagen. Ansonsten gab es für die knapp drei Stunden Sendung keinerlei Moderations-Karten.
Alle Furchtbarkeiten dieser Welt sind dabei passiert: Es kamen Betrunkene und Verrückte; Leute mit zu großen Hunden. Menschen schlugen sich (das passierte zum Glück nur einmal – bei der Sendung über Inzest). Zweimal flog jeweils ein Ei auf Top-Promis. Als Ministerpräsident wurde Johannes Rau, der spätere Bundespräsident, durch ein vom Sturm herbeigewehtes Stahlschild beinahe schwer verletzt. Ich fiel bei laufender Sendung kopfüber vom Ü-Wagen und wurde vom Publikum wie im Ballett aufgefangen, sodass die Zuhörer-innen außer einem kurzen lauten „Rraaaattttsch“ des Mikros über den Anorak kaum etwas merkten. Eine betagte Frau starb vor aller Augen mitten bei der Gymnastik-Demo in der Sendung über den Gesundheitswert von Altensport.
Auf all das galt es, schnell und produktiv reagieren zu lernen, auch um die Sendung zu schützen. Und es galt, neue Wege finden, um meine Gäste und das Vor-Ort-Publikum zum Mitmachen zu bewegen und zu integrieren.
Zu der Zeit begann ich, mich mit Gesetzmäßigkeiten in der Kommunikation zu beschäftigen: Weshalb gibt es so viele schwer veränderbare Wiederholungszwänge? Was lässt sich aus der Beharrlichkeit von störendem Verhalten lernen? Und vor allem: Wie geht es, Stolperiges zu verändern?
Weshalb gibt es so viele schwer veränderbare Wiederholungszwänge? Was lässt sich aus der Beharrlichkeit von störendem Verhalten lernen? Und vor allem: Wie geht es, Stolperiges zu verändern?
Und dann las ich – ich schätze, es war 1977, und ich habe leider vergessen, wo – einen Artikel über „Reaktanz“. Ich erinnere mich nur noch ganz klar an das Puzzlestein-Finde-Gefühl, das mich ergriff. Ich spürte instinktiv: Das war eine tief greifende Erklärung für viele meiner Herausforderungen im Umgang mit mir selbst, mit Kolleg-inn-en, mit dem Publikum – eigentlich mit jedem Menschen in Beruf und Alltag. Und vielleicht auch die Antwort auf viele meiner Fragen. Ich begann, den „inneren Blindwiderstand“ und seine Auswirkungen zu beobachten.
Es war eindeutig: Erst reagierte der Körper mit diesem Frühwarnsystem, wenn die Balance in einer Gruppe gestört war, und dann erst der Verstand. Deshalb war den meisten Menschen unklar, warum sie auf einmal „dagegen“ waren.
Im Laufe der Jahre entwickelte sich aus Wissen Verstehen und daraus folgten nach und nach immer bessere Ansätze, um die Reaktanz als Gerechtigkeitssensor und nützliches Hilfsmittel zu entdecken und umzunutzen.
Sie finden in diesem Buch eine Auswahl praktischer Tools aus meiner „Werkzeugkiste“, die die negativen Folgen der Reaktanz verringern können. Vor allem aber, und das ist noch viel entscheidender, geht es beim Umnutzen von Reaktanz um eine Veränderung der inneren Haltung – bei sich selbst und bei den anderen Beteiligten.
Die sieben inneren Optimier-Haltungen, die ich Ihnen in den folgenden Kapiteln vorstellen möchte, heißen Schlüssel, weil sie darin unterstützen möchten, selbst aufgeschlossener zu reagieren und zugleich neue Kommunikations-Räume zu erschließen. Sie sind sozusagen das Kondensat aus den vielen Jahren meiner Forschungsarbeit am Wie und an den Erkenntnissen über die Reaktanz und ihren Nutzen. Egal, ob beruflich oder privat – es geht darum, abgeklärter zu agieren und lösungsorientierter zu reagieren. Und allen Beteiligten aus Reaktanz-Fallen zu helfen und ungeahnt positive Erfahrungen mit sich selbst und anderen zu machen.
Die 7 Schlüssel sind ein inneres Geländer, um mehr Halt, Zusammenhalt und Sicherheit in Klein- und Großgruppen herzustellen. Eins der Ziele ist, alle ins Boot zu holen und dann miteinander rudern zu können statt durcheinander oder gegeneinander:
1. Zulassen statt zumachen
2. Addieren statt konkurrieren
3. Verwerten statt bewerten
4. Umnutzen statt runterputzen
5. „Interessiert mich“ statt „Kenn’ ich“
6. Ahhh statt Oooh
7. Kopieren zum Kapieren