Читать книгу Leichenstille - Carola Clasen - Страница 8
1. Kapitel
ОглавлениеEs war nicht Nadines Art, so früh am Morgen wach zu werden und gleich voller Tatendrang zu sein. Erst sieben Uhr. Aber die ersten drei Tage in ihrem Malkurs hatten sie beflügelt, Dinge zu tun, die sie vorher nicht gewagt hätte. Und als jetzt das erste Morgenlicht durch die Spitzengardinen in ihr Pensionszimmer fiel, musste sie einfach aufstehen.
Schnell schlüpfte sie in die Kleidung des Vortags, stieg in die Stiefeletten, warf den Wollmantel über, schob eine Schachtel Ölkreidestifte in die Seitentasche und klemmte sich das Skizzenbuch unter ihren Arm. Sonst brauchte sie nichts. Dort, wo sie hingehen wollte, brauchte sie kein Geld, kein Handy, nur ihre Sinne. Frau Schmidt, ihrer Gastgeberin, die im Speiseraum die quadratischen Tische deckte, winkte sie im Vorübergehen zu. »Zum Frühstück bin ich zurück.«
Der Morgen war kühl und frisch, nur wenige Wolken waren unterwegs, und im Ort war noch nicht viel los. Es war nicht weit bis ins Waldgebiet, und Nadine lief fast. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Inspiration in die Tat umzusetzen. Sie hatte eine Vision, eine Idee, auf die sie Anna Jordi, die Leiterin des Malkurses, gebracht hatte. Nadine war auf der Suche nach einem Loch im Wolkenspiel, einem Stück blanken, blauen Himmels, auf ihn zudrängende Baumwipfel, aufragende Stämme. An diesem Ort solle sie sich flach auf den Boden legen und hinaufschauen, hatte die Leiterin gesagt, diese Perspektive sei unverstellt und unvergleichbar. Vor Nadines innerem Auge war das Bild längst fertig.
Ihr Weg führte an dem Hinweisschild zu ihrer Malschule Malwestt 300 m vorbei. Wenn sie daran dachte, wie unsicher sie gewesen war, als sie zum ersten Mal vor dem Metalltor in der Klosterstraße gestanden hatte, hinter dem sich die Malwerkstatt befand, musste sie lächeln. Das Tor war zweiflüglig, grau gestrichenen, verbeult und mannshoch. Sie hatte nicht ahnen können, dass sich dahinter eine neue Welt für sie auftat.
Erst drei Tage vorher hatte Nadine die Klinke zu diesem Tor vorsichtig heruntergedrückt. Aber es war verschlossen. Sie sprang hoch und erhaschte einen Blick auf einen gepflasterten Hof und ein niedriges Gebäude dahinter. Keine Staffeleien, keine Farbtöpfe, keine Leinwände. Der Hof war leer und aufgeräumt. Eine Klingel gab es nicht. Ob das angrenzende Fachwerkhaus dazugehörte, wusste sie nicht. Sie hätte dazu die Eingangsstufen hochgehen und auf das Namenschild sehen müssen, das kam ihr aufdringlich vor.
Sie kehrte zurück zur Ahrstraße und überquerte sie, um zum Lühberg zu gelangen, wo sie in der Pension Schmidt ein Zimmer gebucht hatte. Ein gelbes Haus, Geranien, Sprossenfenster, Spitzengardinen, ein Hinterhof als Parkplatz für Gäste, es war nach 15 Uhr und sie wurde erwartet. Frau Schmidt, die Mutter der Malerin, stand in der offenen Eingangstür. Eine freundliche, gepflegte Dame vielleicht Ende sechzig, ohne Brille, mit grauem Kurzhaar. Sie trug keine der berüchtigten, bunten Kittelschürzen, sondern ein schönes Strickkleid, das weich fiel und ihr bis zu den Waden reichte, von einem bemerkenswerten Blau.
Frau Schmidt zeigte ihr, wo sie im Hinterhof parken konnte, und übergab ihr die Schlüssel zu ihrem Zimmer, das über eine steile Treppe zu erreichen war.
Es war wie erwartet in bäuerlicher, geblümter, wollener Gemütlichkeit eingerichtet, vielleicht 15 qm groß, verfügte aber auch über den obligatorischen Flachbildschirm. Das Duschbad war renoviert und vom kleinen Balkon aus konnte man einen Ausschnitt der Burg Blankenheim erspähen. Es war perfekt, wie ein Bild in einem Kunstdruckkalender. Van Goghs Zimmer in Arles, in fahle Märzsonne getaucht. In diesem Raum, in diesem Bett mit seinem dunklen, geschwungenen Holzgestell aus den Dreißigern würde Nadine keine Angstzustände bekommen.
Nadine holte ihren Mini vom Parkplatz am Ortsrand, parkte im Hinterhof und richtete sich in ihrem Zimmer ein. Als alles an Ort und Stelle lag, überlegte sie, wen sie anrufen könnte, um zu sagen, dass sie gut angekommen war. Aber niemand fiel ihr ein, außer Mann und Sohn. Das musste sich ändern, so konnte es nicht weitergehen. Ihr war klar, dass es zum großen Teil an ihr selbst lag, sie musste sich ein wenig Mühe geben und auf Leute zugehen. Dieser Malkurs war wie gemacht dafür.
Es war nach 18 Uhr, als Nadine die Brasserie an der Ahr betrat, wo ein erstes gemeinsames Abendessen zum Kennenlernen stattfinden sollte. Sie durchquerte den Windfang und betrat den Gastraum. Im Hintergrund gab es eine lange Tafel, an der fünf Frauen und ein Mann saßen. Eine der Frauen saß an der Stirnseite, das musste die Kursleiterin sein, Anna Jordi. Sie ähnelte ihrem Foto im Internet. Ein Stuhl am Ende der Tafel war noch frei. Nadine würde mit dem Gesicht zur Wand sitzen müssen und wünschte, sie wäre früher gekommen, aber sie hatte sich zweimal umgezogen. Jetzt würden gleich alle Augen auf ihr ruhen.
Sie bahnte sich einen Weg und wünschte einen Guten Abend, ging von Hand zu Hand. Man stellte sich mit dem Vornamen vor, sie konnte sich – außer Anna, der Kursleiterin – nur den des Mannes merken: Burkhard, ein Rentner oder Pensionär. Die Frauen schienen zwischen vierzig und fünfzig zu sein, wirkten sympathisch und aufgeräumt. Die Speisekarten gingen herum.
Als sie spät am Abend in die Pension Schmidt zurückkehrte, war Nadine mit sich im Reinen. Es war besser gelaufen, als sie dachte. Sie wurde beneidet um die Zeit, die sie hatte, und um die Freiheit, keinen Beruf ausüben zu müssen, ebenso um ihr Atelier im Dachgeschoss mit Nordlicht. Sie alle konnten nicht ahnen, wie sie darum gekämpft hatte. Und wie leer sich ihr Leben trotz allem anfühlte, wie bedrohlich ihr die Jahre vorkamen, die noch vor ihr lagen.
Bis vor einem Jahr hielt diesen begnadeten Raum Elisabeth besetzt, ihre Schwiegermutter, und Nadine hatte im Souterrain ihr kleines Reich gehabt, wo sie begonnen hatte, kleine, zaghafte Bilder zu malen, die sie niemandem zeigte und oft genug in kleine Schnipsel riss und vernichtete, weil sie sie für stümperhaften Schund hielt.
Die chronisch kränkelnde Elisabeth zu versorgen, außerdem Felix, einen vielbeschäftigten Ehemann, der Leiter eines Architekturbüros war, und dazu noch Florian, einen halbwüchsigen Sohn, das war eine tagesfüllende Beschäftigung. Erfüllend war es nicht. Aber Nadine sah sich in der Pflicht.
Florian, genannt Flo, war 16 Jahre alt, groß und schlaksig, hatte ein hageres Gesicht, eine schmale Nase, einen vollen Mund, der immer leicht missmutig verzogen war. Er hatte rötlichblondes, dichtes Haar wie seine Mutter, das er lang bis auf die Schultern trug. Blaue Schatten lagen unter seinen hellen Augen, die nicht strahlten, sondern immer trübe aussahen. Er war anstrengend für seine Umgebung, pendelte ständig zwischen Euphorie und Melancholie. Flo besuchte die zehnte Klasse der Gesamtschule in der Martin-Luther-Straße und schrieb entweder eine Eins oder eine Sechs. Seine einzige Leidenschaft galt seiner Band. Er spielte Saxofon seit seinem zehnten Lebensjahr. Ansonsten schien er nicht viel mit seinem Leben anfangen zu können, hatte keine Ahnung, was er werden wollte, vielleicht nichts, auf jeden Fall nicht so ein Spießer, wie seine Eltern es in seinen Augen waren. Die Mitglieder seiner Band waren seine Freunde, Nadine kannte sie nur, weil sie durchs Haus gingen, um in Florians Zimmer zu verschwinden, um dort zu proben. In letzter Zeit hatte Florian eine Freundin, ein verblüffend unattraktives, schüchternes, pummeliges Mädchen, das ihn anhimmelte. Seiner Mutter gegenüber war er abweisend und verschlossen, als wäre sie nicht von dieser Welt. Seine Freundin fand das cool und tat es ihm gleich. Nadine wusste nicht einmal ihren Namen.
Bekannte meinten, sie solle froh sein, dass ihr Sohn keine Drogen nehme und keine kriminellen Neigungen zeige. Aber konnte Nadine denn sicher sein? Sie wusste doch kaum, wie er seine freie Zeit verbrachte.
Nach Elisabeths Tod vor einem Jahr empfand Nadine nichts als Erleichterung. Während sie ihren Mann tröstete, richtete sie in Gedanken schon das Dachgeschoss ein. Im Namen ihres vor Trauer wie gelähmten Ehemannes Felix organisierte sie die Beerdigung und kümmerte sich um den anstehenden Papierkram. Er erbte einen unerwartet hohen Betrag, der angelegt werden musste. Auch das erledigte Nadine und ließ sich vom Anwalt seiner Firma beraten. Felix musste nur noch unterschreiben. Im Hinterkopf das Atelier, machte es ihr nichts aus, das alles zu tun, als wäre sie seine Sekretärin.
Felix hatte gerade ein Großprojekt übernommen, ein mehrstöckiges Gebäude mit Ladenzeile im Erdgeschoss in Zülpich. Er war der Hauptverantwortliche, und es gab natürlich Probleme. Mit der Statik, dem Wegerecht, der Unteren Wasserbehörde und mit dem Kreis Euskirchen.
Elisabeth war einen Monat unter der Erde, als Nadine begann, mit ihrer Familie darüber zu sprechen, wie man das Haus umräumen könnte. Sie war entsetzt, als Florian erklärte, er wolle unbedingt aus seinem Zimmer im ersten Stock raus und ins Dachgeschoss ziehen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte doch schon jeden Quadratzentimeter nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Sie hatte doch lange genug gewartet. Sie hatte sich das Atelier wirklich verdient.
»Gute Idee«, hörte sie ihren Mann sagen, während ihr fast die Sinne schwanden.
»Nein!«, entfuhr es ihr mit verzweifelter Stimme.
Sie standen im Wohnzimmer. Nadine rannte ans Fenster und blickte hinaus in den Garten, den sie allein bewirtschaftete, bis auf das Rasenmähen, dass sich Felix und Florian teilten. Der Sommer ging dem Ende zu. Wie oft hatten sie zusammen auf der Terrasse gesessen? Nadine konnte die Gelegenheiten an einer Hand abzählen.
Sie wandte sich um. Felix und Florian starrten sie entsetzt an.
»Flo, das Zimmer im Souterrain ist doch ideal für dich. Ich versteh dich nicht. Es ist ideal zum Musikmachen. Es hat einen eigenen Eingang. Auch die Fenster liegen hinter dem Steingarten. Niemand kann dich beobachten. Du kannst da unten machen, was du willst. Wenn du oben wohnst, dann … du bist doch sowieso nie da!«
Florians Blicke irrten zwischen Nadine und Felix hin und her. »Okay«, sagte er schließlich und gab nach. »Wenn dir so viel daran liegt. Das wusste ich nicht. Kein Problem, ich bleibe unten.«
Nach und nach breitete Nadine sich mit ihren Farben, Leinwänden, Bildern, Rahmen, Töpfen, Papierrollen, Keilen, mit Leim und Firnis im Dachgeschoss aus und stellte die Staffelei ins geliebte Nordlicht. Sie war am Ziel ihrer Träume. Sie war angekommen. In ihrem Element. Endlich.
Das Atelier war ein nahezu quadratischer Raum ohne Zwischenwände in den Maßen der Grundfläche des Reihen-Mittelhauses, in dem Nadine seit fünfzehn Jahren mit ihrer Familie wohnte. Die Fensterfront Richtung Süden war mit naturweißen Leinenrollos verhängt, wie Nadine es in den Museen der Welt gesehen hatte. Wenn die Dämmerung einsetzte und allmählich zur Nacht wurde, schaltete sie die abgeblendete Beleuchtung ein und flutete den Raum mit künstlichem Tageslicht, das keinen Schatten warf. Aber am Tag, da hatte das Atelier Nordlicht. Es war das Licht der großen Maler.
Das alles war jetzt sechs Wochen her. Nadine hatte den Ortskern von Blankenheim längst hinter sich gelassen, wich nach wenigen Metern von der breiten Fahrspur ab, die in den Wald führte, stapfte kreuz und quer ins Unterholz hinein, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle. Es wurde stiller mit jedem Schritt, da war nur noch hin und wieder ein Knacken und Knistern und ein einzelner warnender Vogelschrei. Es ging bergauf, Nadine begann zu schnaufen und blickte sich um. Den Ort ihrer Vision schien es nicht zu geben.
Aber dann tat sich doch vor ihr ein kleiner, sonniger Platz auf, nicht viel größer als ein Zimmer, oval, umringt von hohen, eng aneinander stehenden, nackten Baumstämmen, die in bewachsene Wipfeln mündeten, dunkle Fichten, die im Wind leise schaukelten. Über ihnen öffnete sich das Wolkenspiel, und ein Stück blanker Himmel zog auf. Lächelnd strich sie über einen Baumstamm. Hier war es.
Sie bückte sich und legte eine Hand auf den feuchten Waldboden. Sie hätte sich besser eine Decke mitgenommen. Ihr Mantel würde später voller Flecken sein, Fichtennadeln und brauner Blätter. Die feuchte Kälte eines Märzmorgens in der Eifel würde ihr in die Knochen und Muskeln kriechen. Sie würde Kopfschmerzen bekommen und sich die Haare waschen müssen, bevor sie zum Frühstück ging. Wenn sie überhaupt wieder hochkam nach der Zeit, die sie brauchte. Wenn sie da nicht schon ein Stück eingefroren war. Es konnte nicht viel wärmer sein als drei oder vier Grad.
Der bemooste Baumstumpf konnte ihr als Kopfstütze dienen. Nadine legte das Skizzenbuch ab und machte eine Liegeprobe. Der Blick nach oben entschädigte sie für alles, alles. Sie öffnete die Schachtel mit den Ölkreidestiften und zog den blauen Stift hervor. Dieser Himmel. Ob sie jemals an dieses unvergleichliche Blau herankam?
Aber während der Stift über das Papier glitt, liefen Nadines Gedanken davon. Welch ein Glück, dass sie hier lag, dass ihr Anna Jordi und deren Malwerkstatt begegnet waren. Es hätte auch anders kommen können.
Als sie begann, sich für eine Malreise zu interessieren, stellte sie fest, wie unübersichtlich riesig der Markt für Kunstreisen war, wie populär, wie hip. Es wurden Reisen in die halbe Welt angeboten: nach Mallorca, Italien, Griechenland oder Österreich, auf deutsche Nordseeinseln. Dort wurde in traumhafter Umgebung auf einfachen Bauernhöfen oder Fincas, aber auch in luxuriösen Hotels alles gelehrt, was das Herz der Kreativen begehrte, eine unglaubliche Auswahl: Bildhauerei, Stein oder Holz, Zeichnen – Freiluft oder Atelier, Malen in Öl, Aquarell oder Acryl, Modellieren, Töpfern, Schmieden, Spinnen, Weben, Filzen … aber nicht nur die bildende Kunst war Ziel der Begierde, auch die Kunst der Meditation, der Kräuterkunde, das Vegane Kochen, Heilfastenwandern …
Aber Nadine, die seit ihrer Hochzeit nicht mehr allein verreist war, wollte lieber in Deutschland und in der Nähe bleiben und landete so bei Pandora-Reisen mit Sitz in Koblenz, dem offensichtlich führenden regionalen Anbieter von Kreativreisen in der Eifel. Das Unternehmen hatte hervorragende Bewertungen im Netz und bot günstige Konditionen. Die Alternativen erschienen blass und bieder dagegen.
Es kostete Nadine Überwindung, ihre beiden Männer für einige Tage sich selbst zu überlassen, in der Gewissheit, sie kämen ohne sie nicht klar, würden nichts zu essen finden, nicht nach der Post sehen und alles sähe aus wie nach einem Einbruch, wenn sie zurückkam.
Sie wählte »Acryl für Anfänger«, der von der Künstlerin Anna Jordi geleitet wurde, der Inhaberin der Malschule Malwestt, weil ihr das Foto und die Vita gefielen. Anna Jordi hatte in Köln Kunst studiert, den Beruf der Lehrerin nur kurz ausgeübt, ehe sie sich selbstständig gemacht hatte. Ganz ähnlich wie Nadine, die nur bis zu Florians Geburt in Köln unterrichtet hatte, nicht Kunst, sondern Deutsch und Geografie in der Oberstufe des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums, sich aber nicht selbstständig gemacht hatte, sondern als Ehefrau und Mutter von der Bildfläche verschwunden war.
Anna Jordi konnte eine Reihe Ausstellungen vorweisen, sogar den Preis einer Stiftung. Ihre Werke waren Großformate, es gab im Internet Ansichten von drei Gemälden. Sie sprachen Nadine an, ja, so wollte sie auch malen können: wild, abstrakt, hell, sonnig, klar und inspirierend, vage genug, um die Gedanken auf unterschiedliche Wege zu bringen.
Der Kurs sollte vom 3. bis zum 9. März stattfinden und war auf mindestens fünf und maximal acht Personen ausgelegt. Mittag- und Abendessen konnte Nadine zusammen mit den anderen Seminarteilnehmern in einem der Restaurants in Blankenheim einnehmen. Der Kurs endete am Nachmittag um 15 Uhr. Dann wurde das Atelier nicht geschlossen, sondern stand den Teilnehmern zum »Freien Malen« bis 22 Uhr zur Verfügung. Malen bis zum Umfallen, dachte Nadine selig, und konnte es kaum erwarten.
Felix sagte sie es am späten Abend, nachdem er das Licht ausgemacht, sich auf den Rücken gelegt und ihr seufzend Gute Nacht gewünscht hatte. Sie hatten kurzen, routinierten Sex gehabt. Sie verschwieg den Malkurs und sprach von einer kleinen Auszeit, die sie dringend brauche. Sie musste einfach einmal ein paar Tage allein sein. Nach allem. Das sagte sie nur für den Fall, dass er auf die absurde Idee kam, sie zu begleiten. Es hörte sich auch nicht an, als wäre die Reise schon gebucht. Felix sollte das letzte Wort haben. Wie erwartet, war er einverstanden. Es schien ihm egal zu sein.
Florian hatte anders reagiert. Er hatte sie ausgefragt und fand es toll, dass sie allein etwas unternahm. Er schien stolz auf seine Mutter zu sein. Es gab keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Warum hatte sie es trotzdem?
Am Abreisetag gab es nur die Nachbarin, die alte Frau Gerber, die gegenüber wohnte und die Gardine beiseitegeschoben hatte, um zu sehen, was in dem Haus der Dürkheims vor sich ging, als Nadine hin und her lief, das Auto packte und davonfuhr, und sicher fiel ihr auch auf, dass das Auto am Abend nicht zurückkam, aber …
Nadine wurde das Skizzenbuch mit roher Gewalt aus der Hand gerissen. Sie starrte in den Lauf einer Pistole. Angst übermannte sie wie eine heiße Welle, ihr Herz stolperte und setzte aus, ihr Atem stockte, ihr Nacken erstarrte. Das Gesicht, das wütend auf sie herabblickte, hatte sie mal irgendwo und irgendwann gesehen. Aber wie der Mann hieß, daran konnte sie sich nicht erinnern. Ein Knall und ein nie gekannter Schmerz setzte all ihren Überlegungen ein Ende.
Was folgte, war Stille.
Leichenstille.