Читать книгу Leichenstille - Carola Clasen - Страница 9

2. Kapitel

Оглавление

Telefonklingeln durchbrach die Stille im Forsthaus am Ende der Stromleitung. Sonja Senger schrak aus dem Ohrensessel hoch, das offene Buch rutschte von ihrem Schoß, landete auf dem Fußboden und schlug zu. Kater West starrte von der Fensterbank aus mit einem seiner gelben Augen verwundert auf das Buch.

Wieder klingelte es.

Sonjas Füße glitten vom Hocker, ächzend stemmte sie sich hoch. Es war noch hell draußen, noch lag kein Abendlicht über den Feldern, die Scheiben ihres Autos, das vor dem Haus parkte, waren beschlagen. Sie musste eingeschlafen sein. Sie hatte nach dem Mittagessen ein Viertelstündchen lesen wollen, in Die Giftköchin von diesem finnischen Autor, dessen Name sie sich nicht merken konnte, weil er für hiesige Gewohnheiten unaussprechlich war. Sie stieg über das einsame, rote Holzhaus am Ufer des dunkelblauen Fjords. Ihr rechter Fuß war eingeschlafen.

Wieder Klingeln.

West ließ den Kopf auf die Pfoten sinken und seufzte. Sonja humpelte zum Telefon, das neuerdings öfter stumm in seiner Ladeschale steckte, als ihr lieb war. Alle hatten immer so viel zu tun. Sonja hatte aufgehört, den wenigen Bekannten hinterherzutelefonieren und beschlossen abzuwarten, bis es im Forsthaus klingelte.

Die einzige, die sich regelmäßig meldete, war Frieda. Frieda Stein, ihre Nachfolgerin in der Mordkommission Euskirchen. Auch wenn es nur war, um kurz Hallo zu sagen und auf die Frage: Lebst du noch? die unwirsche Antwort zu bekommen: Nein.

»Frieda?«, rief Sonja ins Telefon.

»Hallo Omilein! Ich bin’s!«

Omilein? Sonja nahm das Telefon vom Ohr und blickte es ungläubig an. Wie bitte? Träumte sie? Im nächsten Moment war sie schlagartig wach, nichts tat mehr weh, nichts war mehr zu mühsam, nichts zu dunkel, nichts mehr öde.

»Omilein!«, plärrte es weinerlich aus dem Lautsprecher.

Unfassbar! Sie hatte schon befürchtet, es träfe sie nie. Aber nun! Selig lächelte sie auf das Display, das eine unbekannte Mobilfunknummer anzeigte. Endlich bekam auch sie einen dieser berüchtigten Anrufe. Schnell presste sie das Telefon wieder an ihr Ohr und kritzelte nebenher mit einem stumpfen Bleistift die Telefonnummer auf den Kölner Stadt-Anzeiger, Ausgabe Eifel, Seite 5, wo ein Trinkgelage in Euskirchen für alle Beteiligten im Krankenhaus endete.

»Wer ist denn da?«

»Rate doch mal!«

»Mein Lieblingsenkel?«, fragte sie prompt, ein Leben lang ledig und kinderlos, aber auf der Höhe und nicht verschlafen.

»Genau, Omi, ich bin’s.«

Wie hießen Kinder heutzutage, überlegte sie fieberhaft. »Warte, ich komm nicht auf deinen Namen. Hab ja lange nichts von dir gehört.« Sie checkte die Telefonnummern gegen, ergänzte die beiden fehlenden Zahlen. »Du bist der … der … der Max, stimmt’s?«

»Ja, genau, dein kleiner Max.«

Sie hätte auch Simon oder David sagen können. Ihr Lieblingsenkel wäre einverstanden gewesen. »Das ist aber schön, Max, dass du dich mal meldest. Wo bist du denn gerade?«

»In … in …«, Max musste nachdenken und zog schluchzend die Nase hoch.

»Bist du erkältet?«

»Nein.« Schluchz. Schnief. »Das ist es nicht.«

»Aber du hörst dich schlimm an.«

»Mir geht es auch echt nicht gut.«

Ob er Geld brauche, wollte Sonja schon fragen, biss sich aber im letzten Moment auf die Lippen. Nichts überstürzen. »Was hast du denn, mein Kleiner? Ärger mit Mama und Papa?«

Schluchz. Schnief. »Woher weißt du das?«

»Na, ich kenn doch meine Tochter«, antwortete Sonja. Sie hätte auch meinen Sohn sagen können, es spielte keine Rolle. Max widersprach nicht. Und sie hatte weder die eine noch den anderen.

»Ich habe ein Problem«, seufzte er. »Ein großes sogar.«

»In der Schule?«

Stille im Telefon. Sonja sah ein klägliches, rotznäsiges Jungengesicht vor sich. »Soll ich mal mit deinen Eltern reden?«

»Nein! Nein«, wehrte er entsetzt ab. »Ich … ich … weiß nicht, ich trau mich gar nicht, dich zu fragen.«

Wie rührend. Sonja wurde langsam ungeduldig. Nun, komm schon, sag es.

»Aber es wäre mega, wenn du mir helfen würdest.«

»Mach ich, mein Junge, aber wie denn nur?«

»Wenn du mir … ein wenig … ein wenig Geld leihen könntest.«

Ha! Sonja triumphierte. Jetzt wurde es interessant.

»Nur ganz kurz und du bekommst es auch garantiert wieder. Ich schwöre es dir.«

»G e l d?«, fragte sie und ließ ihre Stimme geriatrisch zittern. »Wozu denn?«

»Ach, es ist alles so furchtbar. Oskar wurde doch angefahren.«

War Oskar jetzt ihr Sohn oder Schwiegersohn? Keine falschen Fragen. Sonja wartete ab.

»Mein süßer, kleiner Oskar, er ist doch noch ganz jung, hat sich nur losgerissen, weil er spielen wollte und ist auf die Straße gelaufen. Ich hab ihn natürlich sofort zum Tierarzt gebracht. Der hat ihn stundenlang operiert.«

»Ach je«, stöhnte Sonja auf. Das hörte sich nach einem Hund an. »Geht’s ihm denn jetzt wieder gut?«

»Er muss noch mal operiert werden.«

»Aber der Mann, der ihn angefahren hat, muss das doch zahlen. Der war schuld.«

»Das war er auch, aber der ist einfach weitergefahren.«

»Oh nein! Auch das noch. Hast du sein Nummernschild notiert?«

»Nein, ich hab mich nur um meinen Oskar gekümmert. Er war voller Blut und heulte und jammerte und strampelte und schrie wie am Spieß.«

»Das hast du gut gemacht«, lobte Sonja ihn. »Das war Fahrerflucht oder wie man das nennt.«

»Genau, Omilein.«

»Warst du bei der Polizei?« Sonja unterdrückte ein Kichern.

»Nein, ich bin sofort zum Tierarzt. Ich konnte an nichts anderes denken.«

Gut gekontert. »Dann müssen deine Eltern alles zahlen.«

Max heulte los. »Das ist es ja. Aber die wollten ihn einschläfern lassen, stell dir vor.«

»Oh nein! Der arme Oskar! Das ist ihnen wohl zu teuer, was? Ja, meine Tochter war immer ein Geizhals.«

Sonjas Polizistenherz schlug ihr bis zum Hals. Insgeheim begann sie zu ermitteln: Zeugen, Name des Tierarztes … aber dann rief sie sich zur Ordnung, wollte es nicht verderben, die Angelegenheit war delikat.

»Deswegen hab ich Oskar ja auch heimlich operieren lassen. Ich hab mir das Geld geliehen. Aber es reicht nicht. Und jetzt will er das Geld auch noch zurück.

»Wer?«

Schweigen.

»Wer?«, Sonjas Frage klang schärfer.

»Ich dachte, er wäre mein Freund.«

»Bei Geld hört die Freundschaft auf«, betete ihm Sonja vor. »Warum hast du dich nicht eher bei mir gemeldet?«

»Ehrlich gesagt, ich hab mich nicht getraut.«

»Aber ich bin doch deine Oma«, erinnerte Sonja ihn. »Dazu sind Omas doch da. Wie viel brauchst du denn? Ich habe leider nicht viel im Haus.«

»Wie viel hast du denn da?« »Da muss ich erst nachsehen.«

»Ich brauche mindestens …« Max verschluckte die Zahl.

»Wie viel?«

»Tausend.«

»Tausend?«, wiederholte Sonja entsetzt. »Die zweite Operation wird kompliziert.« »Hör zu, Max, das kriegen wir irgendwie hin«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen.«

»Ich muss es aber morgen früh abliefern«, quengelte Max weiter. »Punkt acht Uhr.«

»Wie stellst du dir das vor? Heute ist Sonntag, alle Banken haben zu, was machen wir denn da?«

»Am Automaten kann man doch abheben, oder?« »Ja, aber hier bei mir im Ort gibt es keinen Automaten. Ich müsste nach Gemünd fahren.«

»Hast du kein Auto?« »Doch.«

Jetzt musste Sonja schlucken. Max war dreist, geschult, zielsicher, verhandlungsstark. Und sie war nicht sein erstes Opfer. Er war ein Profi-Trickbetrüger. Beeindruckend. Entsetzlich traurig, fand Sonja. Wie hatte es so weit kommen können?

»Wenn ich nicht zahle, macht der mich fertig.« Max schniefte herzzerreißend. »Und was soll dann aus Oskar werden?«

»Um Himmels willen, Max, wer ist das denn, der dich so fertig macht?«, rief Sonja aufgelöst.

»Das darf ich nicht sagen.«

»Okay. Komm sofort zu mir, mein Junge, hörst du? «

»Ja.« Schluchz. »Omi.« Schluchz.

»Ich fahr in der Zwischenzeit schnell zur Bank und bin in einer halben Stunde zurück.«

»Danke.« Schluchz.

Sonja wollte das Gespräch beenden, als er sagte: »Warte mal, bitte rede mit niemandem darüber. Versprichst du mir das? Vor allem nicht mit Mama und Papa. Sie würden mich …«

»Mach ich nicht.«

»Ehrlich nicht?«

»Versprochen. Ich schweige wie ein Grab.«

»Und noch was.«

»Was denn jetzt noch?«, fragte sie ungeduldig.

»Wundere dich nicht, aber ich kann nicht selbst kommen.«

Sonja brauchte drei Sekunden, ehe ihr einfiel, dass Max wirklich jeden Trick aus der Kiste holte.

»Omilein? Bist du noch dran?«

»Ja klar, bin ich noch dran. Ich finde es nur schade, ich hätte dich so gern noch einmal wiedergesehen. Du musst ganz schön gewachsen sein, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Wie alt bist du jetzt?«

»Rate doch mal.«

Schon wieder. »Acht?«

»Genau.«

Der Junge am Telefon war noch nicht im Stimmbruch, aber acht Jahre war er auch nicht mehr. Er konnte nicht wissen, dass Sonja im Laufe ihrer Dienstjahre ein sicheres Gespür für Stimmen entwickelt hatte. Sie schätzte Max auf zehn bis zwölf Jahre. Normalerweise waren Enkeltrickbetrüger deutlich älter. Diese Bande hier musste es irgendwie geschafft haben, einen erstaunlich jungen Gehilfen zu rekrutieren. »Warum kannst du denn nicht selbst kommen?«

»Aber ich bin doch in Wiesbaden.«

»In Wiesbaden?«, tat Sonja entsetzt. »Was machst du denn in Wiesbaden?«

»Ich bin hier in der Tierklinik. Ich kann Oskar keine Sekunde allein lassen. Er braucht mich jetzt, verstehst du?«

»Ich verstehe.«

»Kai kommt zu dir, er wohnt in deiner Nähe.«

»Kai?«, fragte Sonja langsam. »Wer ist denn Kai?«

»Mein bester Freund.«

»Woher weiß ich denn, dass er es ist. Und nicht irgendein … Betrüger?«

Max antwortete ungerührt. »Ich beschreib ihn dir: Ganz einfach, er trägt ein schwarzes Käppi, Jeansjacke und Jeans und Turnschuhe. Er hat hellbraune Haare, ganz kurz. Und als Erkennungszeichen einen roten Fleck über der rechten Augenbraue. Er ist genauso alt wie ich. Und er ruft mich auf seinem Handy an, sobald er bei dir ist und du kannst dann mit mir sprechen, okay? Er heißt Kai.«

»Ich weiß. Und wie kommt das Geld bis morgen früh zu dir nach Wiesbaden?«

»Kai fährt die ganze Nacht durch.«

»Mit dem Zug?«

»Mit dem Auto.«

»Ich denke, er ist so alt wie du.«

Max räusperte sich. Sonja stellte viele Fragen. Zu viele?

»Nein, natürlich nicht, ein Freund fährt ihn.«

Der Freund vom Freund dessen Freund, dachte Sonja. »Hoffentlich klappt das auch alles.«

»Natürlich!«, rief Max im Brustton der Überzeugung. »Danke, Omilein. Du bist die Allerbeste. Das vergesse ich dir nie. Bis gleich. Wir telefonieren. Hab dich lieb.«

Klick.

»Ich sag dir gleich Omilein«, brummte Sonja und schob das Telefon in eine der ausgebeulten Taschen ihrer Strickjacke.

Für den Fall, dass Max und Kai und sein Fahrer sie beobachteten, zögerte die Hauptkommissarin a. D. nicht lange und machte sich auf den Weg zu ihrer Hausbank. Sie verstaute einen Brustbeutel im Dekolleté und steckte ihre Pistole in ihre Handtasche. Eine Walther P6, die sie nach ihrer Pensionierung ordnungsgemäß erworben und die ihren Stammplatz im Nachttisch hatte, während die Munition sich an einem anderen Ort befand, wie es sich gehörte, in einer Box unter dem Bett. Sonja lud die Pistole und kontrollierte die Sicherung. Auch ihr Handy, ein Smartphone, wanderte in die Handtasche.

Zwei Jahre zuvor, als sie einen Tatverdächtigen in einem Mordfall für Frieda Stein ablenkte und in Schach hielt, »überließ« dieser ihr das Smartphone, in Unkenntnis der misslichen Lage, in der er sich befand, und in der Hoffnung, ein gutes Geschäft zu machen. Es hatte ihm nicht genützt. Sie lieferte ihn trotzdem aus.

So vorbereitet stieg Sonja in ihr neues Auto, das im Vorgarten am Ladekabel gehangen hatte.

Nach langen Überlegungen und Nachforschungen und beeindruckt von der Bewegung Fridays for future war sie von ihrem uralten, dieselfressenden Passat auf ein kleines e-Auto umgestiegen. Offizieller Name seiner Farbe: Olympiablau. Zeitgleich war sie zu einem Anbieter von Ökostrom gewechselt, der ihr auch eine Ladestation verkaufte. Hinzu kam der selbst erwirtschaftete Strom ihres Windrades, das ein wenig an die Mühlen des Don Quichotte erinnerte. So ausgestattet hatte Sonja jedes Mal ein sauberes Gefühl und reines Gewissen, wenn sie irgendwo das Licht einschaltete, durch die Weltgeschichte googelte oder auf den Straßen der Eifel unterwegs war.

Während der Fahrt fiel ihr im Rückspiegel kein Auto auf, das auf bedenkliche Art und Weise hinter ihr herzockelte. Sonja Senger war Kundin der Volks- und Raiffeisenbank Nordeifel, die eine Filiale in Gemünd betrieb. Auf dem Parkplatz auf dem Marienplatz waren nur wenige Plätze belegt, in keinem der Autos saß jemand. Sie fröstelte. Als sie die Dreiborner Straße überquerte, vermied sie es, sich umzublicken. Schließlich war sie ein Profi. Auszahlungsautomaten und der Drucker für die Kontoauszüge lagen diskret hinter den Eingangstüren. Tausend Euro war die Höchstsumme, die an einem Tag ausbezahlt wurde. Hatte Max deswegen tausend Euro gefordert? Sonja ließ es bei den Kontoauszügen bewenden und verstaute sie im Brustbeutel.

Sie verwahrte ein wenig Bargeld in der Schublade des Esstisches auf, wo auch Post und Rechnungen darauf warteten, eines Tages geordnet und abgeheftet zu werden. Darunter befand sich ein flaches Fach, ein Geheimfach, wo ein paar hundert Euro in krumpeligen Scheinen als eiserne Reserve lagerten. Morgen kam neues Holz für den grünen Kachelofen, das musste sie bar bezahlen.

Auch die Rückfahrt war unauffällig. Als das Handy in ihrer Handtasche klingelte, bog Sonja gerade am Tönnishäuschen von der B 265 links Richtung Wolfgarten ab. Sie schaffte es bis zum Wanderparkplatz linker Hand. Es war Frieda.

»Ja?«, fragte sie ein wenig atemlos. Eine Sekunde lang überlegte sie, Frieda von ihrem Experiment zu berichten, es brannte ihr auf den Nägeln, aber dann hätte sie sofort die Polizei am Hals.

»Wo bist du?«, fragte Frieda.

»Im Auto. Unterwegs. Ich war in Gemünd, am Bankautomaten.«

»Um diese Uhrzeit?«

»Warum nicht?«, fragte Sonja zurück. »Ich hatte kein Geld mehr im Haus.«

»Alles okay bei dir?«

»Natürlich.«

»Ich wollte heute Abend vorbeikommen.«

»Oh, das geht nicht«, wiegelte Sonja schnell ab. »Heute nicht. Leider. Morgen vielleicht.«

»Was hast du denn vor?«

Frieda übertrieb es mit ihrer Fürsorge, wenn man sie nicht ausbremste. Sonja schwieg, ein sicheres Mittel, um sie darauf aufmerksam machen.

An der Kermeterschänke bog Sonja ab und folgte der einzigen Straße, die durch Wolfgarten verlief, bis zum Ziegenbendgesweg, der in den Feldweg mündete, vorbei am blauen Hühnerwagen, in dem es leise gackerte. Kein Auto stand vor dem Forsthaus.

Die Kontoauszüge verschwanden in der Schublade des Esstisches. Pistole und Handy wanderten zurück in die ausgebeulten Taschen ihrer Strickjacke. Sie war bereit für den Fall ihres Lebens.

Sie stellte sich ans Fenster, legte eine Hand auf den runden Rücken ihres alten, zahnlosen Katers, der auf der Fensterbank döste, und blickte hinaus. Nebel zog heran. In dünnen, weißen Schwaden schwebte er wie vom Winde verweht über die Anhöhe. Der Feldweg, den man gewöhnlich bis ins Dorf verfolgen konnte, verschwand nach wenigen Metern im Dunst. Alles schien die Farbe zu verlieren. Ihr olympiablaues Auto erschien eher gletschergrau. Außer dem Forsthaus schien es auf der Welt rundherum nicht mehr viel zu geben. Und im Forsthaus gab es nur einen uralten, zahnlosen, einäugigen Kater und eine pensionierte Kommissarin, die sich eine Betrügergang als Opfer ausgesucht hatte.

West genoss schnurrend das Streicheln. Nach einem Schlaganfall war er halbseitig eingeschränkt und konnte nur noch das linke seiner beiden gelben Augen öffnen. Er humpelte und verschlief die meiste Zeit des Tages, aber zu einer Schale Senior-Premium-Gold-Select sagte er nicht nein. Er habe keine Schmerzen, hatte der Tierarzt versichert. Sie solle ihn verwöhnen. Als ob Sonja das nicht sein ganzes Leben lang getan hätte.

»Wir bekommen Besuch«, murmelte sie. »Kai kommt.«

Wests linkes Ohr zuckte.

Mit jedem neuen Enkeltrick, der während ihrer Dienstzeit und danach durch die Presse gegangen war, hatte Sonja sich geschworen, sollte sie jemals einen dieser Anrufe erhalten, was Gott nicht verhüten möge, würde sie auf jeden Fall nicht das tun, was im Programm Polizeiliche Kriminalprävention – kurz ProPK – des Landes NRW stand:

[…] Seien Sie vorsichtig, wenn Sie jemand telefonisch um Geld bittet.

Legen Sie einfach den Telefonhörer auf, sobald Ihr Gesprächspartner, häufig ein angeblicher Enkel, Geld von Ihnen fordert.

Vergewissern Sie sich, ob der Anrufer ein Verwandter ist. Rufen Sie ihn zurück.

Übergeben Sie niemals Geld an Ihnen unbekannte Personen.

Informieren Sie sofort die Polizei, wenn Ihnen ein Anrufverdächtig vorkommt: Notrufnummer 110!

Wenden Sie sich auf jeden Fall an die Polizei, wenn Sie Opfer geworden sind, und erstatten Sie eine Anzeige. Bei Fragen helfen Ihnen die im Opferschutz besonders geschulten Beamtinnen und Beamten Ihrer örtlichen Polizei gerne. […]

Diese Ratschläge waren natürlich sinnvoll, und die Bevölkerung sollte sie unbedingt befolgen, wenn ihr Hab und Gut und Leib und Leben lieb waren. Im Falle Sonja Senger lagen die Dinge anders.

Sie war die Polizei. Auch wenn sie inzwischen im Ruhestand war, konnte sie nicht die Finger davon lassen. Ihr Herz gehörte der Mordkommission der Kreispolizeibehörde Euskirchen. Und würde es immer tun. Außerdem wollte sie Max oder Kai nicht loswerden, sondern das Gegenteil: Sie wollte sie anlocken, anfüttern, herausfinden, was sie dazu trieb, alte, arme, einsame Frauen aufzuspüren und um ihre Ersparnisse zu bringen. Sie wollte nicht in die alte Leier einstimmen, dass so etwas früher nicht hätte geschehen können, als die Welt noch in Ordnung war, das Zusammenleben der Generationen noch funktionierte. Sie wollte etwas dagegen unternehmen. Jeder Mensch braucht eine Mission. Sonja hatte diese zu ihrer erkoren. Ihr Bauch knurrte, als wäre sie hungrig. Ihre Hände kribbelten, als wüssten sie nicht, was zuerst tun.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie ahnte einen Fall, der anders sein würde als jeder andere. Das war ihre Chance.

Nur in einem verschwindend kleinen Teil ihres Bewusstseins gestand sie sich ein, dass sie auch den Kollegen und der ganzen Welt beweisen wollte, dass sie nicht zum alten Eisen gehörte. Aber das war absolut nachrangig. Letztendlich wollte sie diese vermeintlichen Enkel wieder auf die Spur bringen, damit sie sich nicht den Rest ihres Lebens verdarben. Er war kurz genug.

Aber kein Kai tauchte aus dem Nebel auf. Sonja wandte sich seufzend ab und wanderte in der Wohnküche umher. Sie stellte sich einen Haufen Fragen. Woher hatte Max ihre Telefonnummer? Woher wusste er, wo sie wohnte? Er hatte nicht nach ihrer Adresse gefragt. Wie kam er auf die Idee, dass sie einen leibhaftigen Enkel hatte?

Sonja Senger stand nicht im Telefonbuch. Er musste sie ausspioniert haben. Alte Frau, alleinstehend, Haus, Garten, neues Auto – Beuteschema erfüllt? War er über das Kfz-Kennzeichen an ihren Namen gekommen? War er im Haus gewesen und hatte herumgeschnüffelt? Hatte er Fotos von Frieda Stein gesehen und geglaubt, sie sei Sonjas Tochter? Hatte er die Nachbarkinder gesehen, die Sonja im Sommer manchmal in ihren Garten ließ, und denen sie im Winter Geschichten von bösen Männern erzählte, die sie gefangen hatte? Hatte er sie für ihre Enkel gehalten? Es waren zwei Jungen darunter, die etwa acht Jahre alt waren, die voller Ehrfurcht nach ihrer Pistole fragten.

Hatte er in Wolfgarten herumgefragt? Das konnte nicht sein, man wusste im Ort, dass die Frau im Forsthaus am Ende der Stromleitung Polizistin war.

Nein, es musste für die mit dem Internet aufgewachsene Jugend andere Wege geben, Telefonnummern und die dazugehörigen Adressen herauszubekommen.

Sonja rief die Telefonnummer an, die sie in Eile während des Gesprächs mit Max auf den Kölner Stadt-Anzeiger gekritzelt hatte. Es tutete verheißungsvoll. Aber dann behauptete die blecherne Automatenstimme, dass diese Nummer nicht existiere. Sonja hatte sich nicht verschrieben. Sie hätte darauf wetten können, dass diese Nummer zu einem Prepaid-Handy gehörte, das auch kein Fachmann in der KTU jemals würde orten können. SIM-Karten wurden in gewissen Kreisen häufiger gewechselt als die Socken. Es gab einen Markt dafür, es gab für alles einen Markt.

»Machen wir uns nichts vor, West«, sagte Sonja. »Unser Landrat Rosenke hätte seine helle Freude. Es ist alles wie aus dem ProPK

Nur, dass Kai nicht kam.

Leichenstille

Подняться наверх