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„Alstereis und Valentin“
ОглавлениеDer Sonntagmorgen in Hamburg hatte noch harmonisch begonnen. Jan wollte auf die zugefrorene Alster gehen. Eigentlich! Das letzte Alstereisvergnügen war immerhin 1997 gewesen. Denn das Eis muss dazu mindestens zwanzig Zentimeter dick sein, was nicht oft der Fall war. Damals waren noch Buden auf der Alster selbst erlaubt. Doch dieses Mal durften die Stände lediglich an den Ufern aufgebaut werden. Bei einem früheren Alstereisvergnügen hatte es doch hier und da verdächtig im Eis geknackt, als es zu größeren Menschenansammlungen vor den Glühweinständen gekommen war. Ähnliches wollte man diesmal seitens der Stadtverwaltung unbedingt vermeiden.
Schon am frühen Sonntagmorgen füllte sich die Eisfläche, und nach und nach wimmelte es nur so von dick eingemummelten Menschen, die auf die Alster wollten. Aus dem ganzen Hamburger Umland kamen die Leute zu diesem Spektakel. Man rechnete tatsächlich mit Hundertausenden – am Ende könnte sogar die Millionenmarke geknackt werden. Wahnsinn, und das alles wegen gefrorenem Alsterwasser!
Jan war das ganz egal, mittlerweile. Seit er früh morgens die Nachricht vom Tode seiner Lieblingssängerin vernommen hatte, war die Stimmung so trübe wie der Himmel über Hamburg an diesem Tag. Seine Mutter Gisela kannte ihn so gar nicht, war er doch eigentlich eher ein fröhlicher Mensch, den so schnell nichts aus der Bahn werfen konnte. Aber seit er vor über sechs Jahren nach Frankfurt gezogen war, um dort mit Lina ein neues Leben unter einem gemeinsamen Dach zu beginnen, hatte seine Mutter natürlich nicht mehr so den Überblick über seine Gefühlszustände.
Über die Jahre war eine enge Bindung zwischen ihnen entstanden, denn seit dem frühen Tod seines Vaters, Jan war gerade einmal Mitte zwanzig, gab es einfach keine Notwendigkeit für ihn, aus der großzügigen Alstervilla auszuziehen. Wollte er doch seine Mutter ungern dort zurücklassen, nachdem Oluf Johannsen innerhalb weniger Monate an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war. Gisela haderte in dieser Zeit schwer mit Gott und der Welt. Da konnte er sie doch nicht im Stich lassen!
Aber so ganz ungelegen kam ihm diese familiäre Notgemeinschaft auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht: Immerhin konnte er auf diese Weise sehr entspannt seinem Kunstpädagogikstudium nachgehen und musste nicht – wie die meisten seiner Kommilitonen – anstrengende und oft schlecht bezahlte Nebenjobs erledigen, um Leben und Studium finanzieren zu können. Kurzerhand hatte er damals das Büro seines Vaters zum Atelier umgebaut, um mehr Platz für seine Gemälde, Farben und Staffeleien zu haben. Wer hätte eine solche Chance nicht wahrgenommen?
Seine Mutter indes war froh gewesen, nach dem Tode des Vaters nicht ganz auf sich allein gestellt zu sein. Heute nannte man sowas neumodisch „Win-Win-Situation“…
Als er dann Lina, die damals wegen eines Kongresses in Hamburg war, kennengelernt hatte, konnte Gisela Johannsen unschwer ahnen, dass dieser schicksalhafte Hundebiss auch für sie eines Tages Folgen haben würde. So, wie Jan vom ersten Moment an für diese junge Frau aus Hessen geschwärmt hat… Es war die große Liebe, die ihr Sohn gefunden hatte – das musste seine Mutter wohl einsehen. Und sie war sich darüber im Klaren, dass ihre Mutter-Sohn-Zweieridylle nicht für die Ewigkeit bestimmt war. Denn eines Tages – das war eben der Lauf der Dinge – wäre Jan sowieso ausgezogen. Dass es dann aber gleich nach dem ersten gemeinsamen Silvester soweit sein sollte, das hatte seine Mutter zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht wahrhaben wollen… Auch nicht, dass Lina auf gar keinen Fall nach Hamburg kommen wollte, weil sie einen sehr gut bezahlten Job in Frankfurt hatte. Und den wollte sie partout nicht aufgeben. Nicht einmal für Jan. Aber in ganz stillen Stunden, das musste Gisela sich selbst nach einiger Zeit eingestehen, war sie froh darüber gewesen, dass Jan tatsächlich aus dem Hause war. Endlich konnte sie ihren Gefühlen einmal freien Lauf lassen und sich ganz ihrer geliebten Klassik hingeben.
Jahrelang hatte sie nur Tannhäuser, Schubert oder Dvoráks Musik aus der Neuen Welt gehört – wenn es ganz schlimm war Strawinsky. In diesen Momenten war sie ihrem verstorbenen Oluf ganz nah. Und lange konnte sie auch nur diese schweren Töne ertragen, denn die waren genauso dunkel wie ihre Stimmung. Aber irgendwann erwachte die Lust auf Leben wieder in ihr, und sie musste zugeben, sie hatte sich nur nicht getraut – weil Jan noch bei ihr war.
Doch dann sang Zarah Leander „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“ im Radio und Gisela Johannsen kam auf Ideen… Und dank der guten alten Bekanntschaftsanzeige war es nicht bei einem Verhältnis geblieben. Nein, zeitweise herrschte schon reges Treiben in der Alstervilla… Ein schlechtes Gewissen war aber kein Thema für die Witwe Johannsen – sie hatte jung geheiratet und war ihrem Mann immer treu gewesen. Warum sollte sie da – nach einer überaus angemessenen Trauerphase – nicht noch ein bisschen Spaß an der Liebe haben? Sieben Jahre in Sack und Asche, das erschien ihr mehr als ausreichend. Und schnell erkannte sie auch die Vorzüge einer sturmfreien Bude. Frau Johannsen jedenfalls konnte mit dem Begriff noch so einiges anfangen…
An diesem Sonntagmorgen stellte sie jedoch fest, dass es offensichtlich doch viel Unbekanntes an ihrem Sohn gab. Zuerst war er ihr noch ganz fidel und unternehmungslustig erschienen, hatte einen Riesenhunger an den Tag gelegt und neben Rührei auch noch eine große Schale Müsli mit Sahne verspeist, was extrem gute Laune verkündete.
Bis plötzlich die Meldung kam, dass seine große musikalische Liebe verstorben ist. Ab diesem Moment war sein Gesicht wie versteinert gewesen. Und auf der Terrasse hat er dann eine nach der anderen geraucht. Am frühen Morgen!
Das gefiel seiner Mutter nun gar nicht. War doch ihr Sohn offiziell Nichtraucher. Gut, gelegentlich konnte er schon mal zur Zigarette greifen, in beruflichen Stresssituationen oder zum reinen Feierabendgenuss – aber doch nicht wie ein richtiger Suchtbolzen. So einer war ihr Jan doch nicht!
Kurz darauf hat er dann mit Lina telefoniert. Dabei konnte sie ihn – ganz zufällig – aus einem bestimmten Winkel im Spiegel beobachten. Irgendwas war da im Busch! Nicht nur, dass er traurig war – auf einmal wirkte er fast wütend und ein bisschen böse. Ziemlich schnell hat er dann das Telefonat beendet. „Naja“, dachte sich Gisela, „vielleicht läuft es nicht rund – mit Lina.“
Irgendwann würde sie es vielleicht erfahren, außerdem musste sie als Mutter doch auch nicht alles von ihrem Sohn wissen. Umgekehrt war ihr das schließlich auch mehr als recht. Beunruhigt war sie aber dennoch. War die große Liebe zwischen Lina und Jan etwa dem verflixten siebten Jahr zum Opfer gefallen?
Auf jeden Fall wollte sie aber zum Alstereisvergnügen gehen. Auch wenn Jan nicht mit käme, was sie beim Telefonat mit Lina aufgeschnappt hatte. Natürlich rein zufällig. Nein, sie würde sich jetzt nicht ihre glänzende Sonntags-Alstereis-Laune verderben lassen. Und immerhin war sie mit ihren einundsiebzig Jahren durchaus in der Lage, sich einen schönen Sonntag alleine zu gestalten – wenn der Sohnemann schon in Trauer war.
Verständnis für sein Verhalten hatte sie jedoch nicht. Bewunderung empfand sie nur für ihren Mann Oluf, zu Lebzeiten und auch über den Tod hinaus. Und ansonsten ließ sie sich selbst ganz gerne von ihrem Umfeld bewundern. Dazu bestand, ihrer Meinung nach, auch jeder Anlass. Schließlich hatten es die Johannsens im Leben zu etwas gebracht. Jans Mutter war also zu Recht stolz auf ihre Lebensleistung. Noch heute war die Weinhandlung Johannsen und Söhne ein Begriff in Hamburg.
Und versteckten brauchte sie sich schon gar nicht. Auch im fortgeschrittenen Alter war sie noch immer attraktiv. Mit eigenem Stil, unabhängig von Trends, aber immer sehr chic. Ihre Figur ließ das auch zu, sie hatte ihre schlanke Linie ein Leben lang behalten – dafür aber auch eine Menge getan. Gehen lassen? Das war nicht ihr Ding. Diese Nachkriegsgeneration hat noch immer Biss! Schlappmachen? Kam für Gisela Johannsen nicht in Frage. Was geplant war, wurde durchgezogen. Egal wie…
Und so war es auch an diesem Sonntag. Frau Johannsen aus Hamburg-Eppendorf zog das pralle Leben der virtuellen Scheinwelt vor. Also schminkte sie sich perfekt, frisierte ihr kastanienbraunes Haar noch einmal in Form und zog sich dann einen ihrer langen Pelzmäntel an. Es folgte ein sehr zufriedener Blick in den Spiegel.
Jan bekam nicht einmal mit, dass sie fort ging. Aber auch das berührte sie nicht weiter. Sie wollte nichts von Trauer wissen. Davon hatte sie in ihrem Leben genug gehabt. „Aber sensible Künstlerseelen schwingen da offensichtlich anders“, erkannte Gisela Johannsen ganz richtig und marschierte entschieden los Richtung Alsterufer.
Eine besondere Stille lag in diesem Morgen. Die Stimmung war friedlich, doch die Luft bitterkalt. Von weitem hatte man den Eindruck, auf ein Wintergemälde aus dem 19. Jahrhundert zu blicken. Menschen aller Generationen gingen auf der Alster ihrem eisigen Vergnügen nach. Und genau das hatte Gisela Johannsen jetzt auch vor. Sie lief hinüber zu ihrem Lieblingshotel an der Außenalster, plauschte ein wenig hier und da und wärmte sich in der schönen Lobby bei einem vorzüglichen Darjeeling auf. Auch sie hatte eine ganz besondere Beziehung zum Hamburger Atlantic. Unzählige Male war sie mit ihrem Mann in der legendären Atlantic Bar gewesen. Die Atmosphäre dort ist ganz besonders. Man atmet den Duft der großen weiten Welt ein – zwischen schweren Ledersesseln, leichten Klavierklängen und erstklassig gemixten Cocktails.
Oluf Johannsen hatte diesen Ort zeitlebens geliebt. Genau wie seine Frau. Ein paar Stunden später – zurück in der Alstervilla – war ihr dann schnell klar geworden, dass es sich bei ihrem Sohnemann noch keinesfalls ausgetrauert hatte. Er starrte noch immer in den Fernseher. Sondersendungen en masse… An diesem Tag war anscheinend nichts weiter mit ihm anzufangen. Das besagte schon der Blick, den er ihr zugeworfen hatte und der mindestens genauso eisig war wie die zugefrorene Alster.
„Ich lege mich ein bisschen hin, Jan.“ Er hatte nicht einmal den Kopf zu ihr gedreht. Ungewöhnlich, so eine Teilnahmslosigkeit, fand Gisela. Ob sie ihm mal ihre Johanniskrauttabletten anbieten sollte?
Am Dienstag in aller Herrgottsfrüh, es war der Valentinstag, klingelte es an Linas Tür. Nachdem nicht sofort geöffnet wurde, klopfte jemand ungeduldig. Das konnte nur Frau Fieg von nebenan sein. Die Königin des Treppenhauses, die „Bernemer Babbelschnut“. Bei Lina, Jan und den Bornheimer Nachbarn hieß sie allerdings nur „Drebbehäusje“. Denn das Treppenhaus war ihre Hauptwirkungsstätte. Im Sommer nannte man sie wahlweise auch „Wasserhäusje“, denn bei schönem Wetter wurde alles, was in der Nachbarschaft so zu besprechen war, gleich an der frischen Luft geklärt.
Tatsächlich war direkt gegenüber noch eines dieser letzten Original Frankfurter Wasserhäuschen. Hier trafen sich Alt und Jung, Arm und Reich und kauften das, was man eigentlich auch in jedem x-beliebigen Laden in Frankfurt hätte kaufen können: Wasser, Limo, Bier, Zigaretten, Zeitungen und Zeitschriften, Fertiggerichte, Toilettenpapier, Windeln und vieles mehr. Alles, sogar Tiernahrung! So ein Wasserhäuschenbesuch war jedenfalls immer ein außerordentliches Einkaufserlebnis. Da holte man auch nur Kleinigkeiten, die gerade fehlten und pflegte dabei einen Schwatz mit Leuten, an denen man sonst nur wortlos vorbeigelaufen wäre. Doch leider sah man diese typischen Frankfurter Kioske immer seltener.
„Schade, dass man sie noch nicht zum UNESCO Kulturerbe erhoben hat“, bedauerte Lina oft. Sie hatte den Treffpunkt gleich um’s Eck‘ mehr als liebgewonnen. Denn dort gab es so viel mehr als nur Wasser…
„Ei, mache Sie dochemaa uff, Frolleinsche!“ Na, sowas konnte Lina ja gerade leiden: Einmal klingeln, drei Sekunden später schon an die Haustür poltern und im nächsten Moment die verbale Mundart-Kanone zünden! „Fängt ja prima an, der Valentinstag“, ging es ihr durch den Kopf. Sie öffnete genervt die Tür.
„Guten Morgen, Frau Fieg. Was gibt es denn so Dringendes um die Uhrzeit?“ Lina konnte sich einen spitzen Unterton nicht verkneifen, sie mochte solche Überfälle nicht und auch das „Frolleinsche“ fand sie nicht besonders putzig. Jedenfalls nicht vom Drebbehäusje...
Nur Jan durfte sie scherzhaft Frollein Siebenborn nennen. Aber doch nicht eine Frau Fieg! Die ältere Dame, schon Mitte achtzig, war eines der letzten noch lebenden Frankfurter Originale. Irgendwie liebenswert, auf eine spezielle Art zumindest. Die „Griee Sooos“ zum Beispiel, also die traditionelle Frankfurter Grüne Soße, rührte Frau Fieg ausschließlich nach dem Rezept von Goethes Frau Mutter selbst an – und außerdem nur an „Grieedonnersdaaach“, also dem Gründonnerstag vor Ostern. Das erzählte sie in jedem Frühjahr wieder und wieder. Und zwar jedem, egal ob er wollte oder nicht. Das war halt Drebbehäusje live! Hauptsache, es war erst mal raus, was sie loswerden wollte! Und jedes Mal klang es, als hätte die gute Frau Mama eines gewissen Johann Wolfang von Goethe das Rezept an sie persönlich vermacht.
„Ei, isch habb‘ hier was von Ihne-Ihrm Bekannde, dess hat der mir schon gegewwe, bevor der fodd nach Hambursch iss, gell? Isch habb aach nedd einei geguggt. Der Arme krischd doch den Fuß obberierd. Hawwese dann schon ebbes von em geheerd?“ Frau Fieg übergab Lina zeitgleich ein kleines Päckchen, das nach CD aussah, und einen Brief. Multitasking à la Drebbehäusje…
„Eindeutig von Jan“, Lina hatte es sofort erkannt. An der gemalten Rose auf dem Briefumschlag.
„Oh, danke, sehr nett von Ihnen. Vielen lieben Dank, Frau Fieg. Ich bin jedoch in Eile, muss gleich ins Büro. Und, ja – ich habe etwas von ihm gehört. Noch ist er nicht operiert, aber er muss noch ein bisschen in seiner alten Heimat bleiben. Einige Arzttermine stehen noch an, vielleicht kann man die Sache auch ohne Operation in den Griff bekommen.“
Lina freute sich riesig über das Päckchen. Ihr Liebster hatte also vorgesorgt und ihr sicherheitshalber über Frau Fieg etwas zum Valentinstag zukommen lassen. Der Post traute er wohl nicht, am Ende wäre das Geschenk noch einen Tag zu spät angekommen. Oder überhaupt nicht. Auf Frau Fieg dagegen war Verlass! Mit dem Drebbehäusje konnte man bei sowas immer auf Nummer sicher gehen.
Etwas enttäuscht war die Gute dann doch, dass sie von Lina nicht hereingebeten wurde, nachdem sie den Nachbarschaftsdienst so gewissenhaft ausgeführt und sich auch noch so nett nach dem Befinden des Erkrankten erkundigt hatte. Insgeheim wäre sie nämlich zu gern noch auf ein Tässchen Kaffee geblieben. Und hätte dabei mal so richtig schön die Neugier eingenommen…
Doch Frau Fieg machte auf bescheiden und verständnisvoll: „So, dann will isch Sie ja nedd uffhalde, Frollein! Also, da wünsch‘ ich ihne noch en scheene Daach! Unn guude Besserung für Ihne-Ihrn Bekannde!“ „Wenigstens hatte sie jetzt das „sche“ am Ende weggelassen“, bemerkte Lina, „wenn es denn schon Frollein heißen musste.“
Aber Frau Fieg konnte da nicht über ihren Schatten springen. In dem Alter kriegt man so etwas aus den Leuten ja nicht mehr raus. Unverheiratete bleiben da lebenslängliche Frolleins – und ein Freund, Partner oder Lebensgefährte, das war halt ein „Bekannter“. Irgendwie fand Lina das schon wieder goldig und musste darüber schmunzeln.
„Wer weiß, wie lange es überhaupt noch Leute gibt, die einen siezen oder „Ihne-Ihrm Bekannde“ sagen?“ Mittlerweile, das war Lina in letzter Zeit besonders aufgefallen, duzten sie die meisten Menschen außerhalb des Jobs einfach so – beim allerersten Kontakt! Na, wenn das mal Frau Fieg mitkriegen würde…
Als das Drebbehäusje dann wenig später enttäuscht treppab gegangen war, musste Lina sich wirklich sputen. Jetzt konnte sie den Brief unmöglich noch lesen – so zwischen Tür und Angel. Nein, sie wollte ihr Valentinsgeschenk lieber ganz in Ruhe genießen. Abends auf ihrem Sofa. Mit gemütlichen Kuschelschlappen an.
Und so wurde aus dem Valentinstag erst einmal ein ganz normaler Bürotag. Herr Hein war auf Dienstreise und arbeitstechnisch war es eher ruhig. Weder Tagungen noch sogenannte Incentive-Reisen, die besonders erfolgreiche Drogeriemarktleiterinnen und deren Bezirksleiter für gute Umsatzzahlen belohnen sollten, mussten organisiert werden. Eine Stille, wie man sie nur selten in diesen Räumen erleben konnte, hatte sich breit gemacht. Hauptsache, es lief alles reibungslos, auch wenn der Boss unterwegs war. Lina nutzte solche Zeiten immer für die Ablage oder andere ungeliebte Arbeiten. Und nicht zuletzt war es auch für sie stressfreier, wenn nicht alle fünf Minuten das obligatorische „Frau Siebenborn! Kommen Sie doch bitte mal rein!“, aus dem Chefbüro ertönte.
Irgendwann an diesem Morgen war dann die Zeit für einen Cappuccino mit ihrer Lieblingskollegin Ines gekommen. Mittlerweile war es bei der HansaFra auch kein Geheimnis mehr, dass Lina und Ines beste Freundinnen waren. Man konnte sie regelmäßig zusammen in der Mittagspause sehen. Und des Öfteren machten sie nach Feierabend einen Abstecher in die Stadt, gingen irgendwohin, wo man in Ruhe über all das sprechen konnte, was im Büro nicht möglich war. Wer würde da an Tratsch denken? Nein, Tratsch war die Kernkompetenz vom Drebbehäusje. Lina und Ines jedoch, sie tauschten sich lediglich aus…
Und wenn sie dann den einen oder anderen Kollegen trafen, den es nach Feierabend auch auf die Fressgass‘, die kulinarische Verlängerung der Einkaufsmeile Zeil, gezogen hatte, genügte ein kurzer Blick und die Damen wechselten spontan die Örtlichkeit – oder wie man heute so schön auf Neudeutsch sagt, die Location. Denn niemand sollte hören, was die beiden zu lachen hatten.
An diesem Valentinsdienstag kam Ines also auf einen kurzen Schnack und einen Cappuccino zu ihrer Kollegin. Wobei sich Ines darüber beschwerte, dass ihr Göttergatte, der schöne Lars Ochs, auch in diesem Jahr wieder einmal keinerlei Anstalten gemacht hatte, einen Beitrag zur Arbeitsplatzsicherung der hessischen Floristen zu leisten. „Stell‘ dir vor, es ist wie jedes Jahr an Valentin: Keine Blumen! Nada. Nichts. Ich bin schon wieder völlig am Ende – meine armen Nerven!“, stöhnte Ines. Dabei war ihr Angebeteter der Sohn und Juniorchef einer Steinfurther Rosenschule – mit angeschlossenem Im- und Export. Und deshalb wohl der Meinung, dass er schon mehr als genug mit Blumen zu tun hatte. Und zwar tagtäglich! Der Valentinstag war für ihn nur einer von zwei Großkampftagen im Jahr. Mit Überstunden und Nachtschicht inklusive. Ines hatte wohl schon befürchtet, dass er es auch in diesem Jahr wieder vergessen würde, ihr ein paar Valentinsblümchen mitzubringen. Entsprechend enttäuscht war ihre Stimmung.
„Aber weißt du eigentlich, was der Gipfel der Frechheit ist? Dass Lars regelmäßig zwei, drei Tage nach Valentin mit mehreren XL-Blumensträußen ankommt und diese in den Flur stellt. Wortlos! Nein, ich korrigiere mich. Er sagt etwas dazu. Nämlich, dass man die Blumen ja jetzt eh nicht mehr verkaufen könnte. Und jedes Jahr macht er mich darauf aufmerksam, dass ich die Blumen unbedingt im Flur stehen lassen soll. Da würden sie länger halten! Weil es da kühler wäre…“
Dabei rollte sie die Augen und ein paar Tränchen waren auch dabei gewesen. Deshalb erzählte Lina ihr auch gar nichts von Jans Geschenk und dem morgendlichen Überfall durch Frau Fieg. Vielleicht sähe die Welt für Ines morgen auch schon wieder ganz anders aus…
Und der Valentinstag – und die bevorstehende Nacht – konnten ja unter Umständen noch lange werden. Lars Ochs, dessen war sich Lina sicher, musste jedenfalls über irgendwelche Qualitäten verfügen, die Ines eher nachts verzeihen ließen, was er tagsüber versäumte…
Relativ früh für Linas Verhältnisse, so gegen halb sechs, verließ sie dann ihr schickes Vorzimmer bei der HansaFra und steuerte ihren Benz Richtung Bornheim. Vorbei an der Frankfurter Skyline, die immer höher und größer zu werden schien, nahm sie den Nachhauseweg entlang des Mains, gegenüber des Sachsenhäuser Museumsufers. Hier sollte in ein paar Tagen der Neubau des weltberühmten Städel eröffnet werden. 34 Millionen Euro sollte allein der Neubau des Kunstmuseums gekostet haben, der jetzt unter dem Garten des Museums lag und runde Oberlichter hatte. Die sahen aus wie Bullaugen im Städelgarten. Jetzt hatte Frankfurt auch seinen „Grünen Hügel“. Der Rasen wies nämlich eine gewisse Wellung auf, die sich zu einem kleinen Hügel erschloss.
Lina hatte gerade erst gelesen, dass die Sanierung des alten Städelbaus sowie der Neubau für die zeitgenössische Kunst nach 1945 allein durch das Zusammenwirken von öffentlicher Hand, Banken, Unternehmen und privaten Spendern möglich gewesen war. Hunderte wertvoller Gemälde und Fotografien aus den Kunstsammlungen der großen Bankhäuser waren gespendet worden. Jans Kommentar dazu: „Seit langer Zeit das Sinnvollste, was Banker zustande gebracht haben…“
Ach, ob ihr Liebster jemals den Sprung in ein solches Museum schaffen könnte? Bislang hatte er nur kleine Ausstellungen gehabt und mit einigen wenigen Galerien zusammengearbeitet. Jedoch der große Durchbruch, würde er jemals kommen? Das fragte sie sich immer öfter. Naja, wenigstens bekam er durch die Malschule im Holzhausenviertel ein regelmäßiges Einkommen, wenn auch ein bescheidenes. Die paar Privataufträge, die er übers Internet ergattern konnte, waren auch eine eher seltene Erscheinung geblieben. Manchmal kamen noch Kunden aus Hamburg auf ihn zu, aber das wurde mit der Zeit auch immer seltener.
Lina wusste, dass er deshalb oft niedergeschlagen war – er fühlte sich erfolglos und von ihr abhängig. „Mit dem blöden Euro und der dämlichen Krise hat das Übel doch erst angefangen!“, schimpfte sie laut vor sich hin. Doch ein kurzes Hupen, da sie bei Grün noch immer an der Ampel stand, riss Lina unsanft aus ihren Gedanken. Ausnahmsweise war an diesem Abend mal überhaupt kein Stau – und von der üblichen Rush Hour, die sonst ab dem frühen Nachmittag schon einsetzte, war auch nichts zu spüren.
Die Straßen von Frankfurt waren für derartige Massen nämlich einst nicht gebaut. Unzählige Pendler und Touristen fielen tagtäglich in das „deutsche New York“, also Mainhatten, ein. Aber Lina hatte sich mittlerweile damit abgefunden.
Und im Gegensatz zu früher, als sie noch jeden Tag von Büdingen in die Stadt fahren musste, war der beschauliche Weg von der Bürostadt Niederrad im Südwesten bis nach Bornheim, das im Nordosten lag, ein „Pups mit Öhrchen“, wie ihr Chef, Herr Hein, zu derartigen Kinkerlitzchen zu sagen pflegte.
Endlich zuhause! Regenerieren war angesagt – und Abendessen! Sie hatte sich bei der HansaFra etwas einpacken lassen: Die Kantinenfrau, Madame Monique, eine Französin mit unwiderstehlichem Akzent, hatte ihr heute wärmstens das Tagesgericht, Haspel mit Kraut, empfohlen: „Madame Lina“, hat sie geschwärmt, „Sie müssen unbedingt den Aspelle nehmen!“ Doch die war nicht begeistert, denn der Haspel war ihr nun wirklich zu fett. „Aber Madame Lina“, war Moniques zweiter Versuch gewesen, „wir Französinnen essen alles Fett der Welt und trinken Rotwein den ganzen Tag. Trotzdem sind wir die schlanksten Europäerinnen, laut Statistik! Und der Aspelle ist auch ganz mager…“ Doch auch das konnte Lina nicht von dem Aspelle überzeugen. Letztendlich überredete Madame Monique sie dann zu einer Portion Hähnchenbrust (noch magerer und dazu noch völlig unpaniert!) mit Krautsalat. Nach der wirklich mageren Pause recherchierte Lina dann umgehend „Schlankste Europäerinnen“ – und musste frustriert feststellen, dass diese wundersamen französischen Geschöpfe anscheinend von Natur aus keinen Kalorienzähler eingebaut hatten. Wie konnten sie nur die dünnsten Frauen Europas sein? Wo sie doch nachweislich die meiste Zeit mit Essen und Trinken verbringen und zusätzlich auch noch das meiste Geld in Lebensmittel investierten? Zwei Croissants zum Frühstück sind für sie sozusagen nur eine Art Auftakt für den Tag – und nicht die Überschreitung der erlaubten Fettmenge um das Doppelte!!! Die Welt ist einfach ungerecht! Und Europa stoffwechseltechnisch offenbar noch nicht vereint…
Irgendwann am Abend, nach einer halben Portion Hähnchenbrust, war Lina dann bereit für die ganze Portion Valentin. Mit zitternden Fingern hat sie den Brief in ihren Händen gehalten, und ein bisschen Herzklopfen war auch dazu gekommen:
Geliebte Lina,
braucht man einen Valentinstag, um „Ich liebe dich“ zu sagen? Eigentlich könnte man es doch an jedem einzelnen Tag des Jahres ebenso tun. Nun, ich hoffe, ich habe es im vergangenen Jahr nicht allzu oft versäumt… Aber wäre es nicht einfach ein Brechen mit einer liebgewonnenen Tradition und würde nicht irgendetwas sehr Wichtiges fehlen, wenn ich diesen Tag so einfach übergangen hätte?
Leider kann ich in diesem Jahr zum ersten Mal nicht bei Dir sein. Zuerst wollte ich Dir einfach den obligatorischen Valentinsstrauß schicken, aber das fand ich dann wirklich nicht so originell. So möchte ich Dir so etwas wie eine bleibende Erinnerung schenken an unsere eigentlich noch „jungen, gemeinsamen Zeiten“. Wie schnell sind sie in die Ferne gerückt, die Momente, als noch alles zwischen uns so neu und unbekannt war? Wie gerne erinnere ich mich an den Moment, als ich dich das erste Mal beim Joggen an der Alster sah. Und obgleich es diesen klitzekleinen Vorfall gab, als Nele (sie hatte einen wirklich exquisiten Geschmack!) Dir damals einen kleinen – nennen wir es mal wohlwollend „Biss“ –zugefügt hat, so war es doch Deine Art, die mich von Anfang an fasziniert hat. Wer sonst flucht schon so herzerfrischend, wenn er beim Joggen von fremden Hunden angeknabbert wird? Und wie schön war erst die Zeit danach. Keine Sekunde davon habe ich vergessen, keinen noch so kleinen Moment möchte ich jemals missen. Noch immer denke ich gerne daran zurück, was wir in den ersten Wochen unserer Liebe alles erlebt haben. Wie wusste schon der gute Herrmann Hesse: Denn jedem Anfang wohnte ein Zauber inne…
Aber ich wollte Dir noch etwas anderes schenken: For Auld Lang Syne, das ist wohl schottischer Dialekt, bedeutet „der guten alten Zeiten wegen“. Was ich Dir damit sagen will? Nun, ich sehe noch den verträumten Ausdruck in Deinen Augen, als dieses Lied einmal während einer rührenden Filmszene (Du weißt schon, Deine Lieblingsserie mit Carrie und Co.) zum Jahreswechsel erklang, wo es traditionell gesungen wird. Wann immer Du diese wunderbare Melodie nun hören wirst, sie möge Dich an das erinnern, was wir bisher an guten Zeiten hatten.
Mein liebes Linchen, ich hoffe, wir erschaffen uns noch viele gemeinsame Erinnerungen. Damit wir irgendwann einmal auf sie zurückblicken können. Wäre das nicht schön? Für alle Zeiten, die da kommen.
In Liebe,
Dein Jan
Lina musste kurz schniefen. Das war ja echt zu viel für einen fast normalen Valentins-Dienstag! Sie betrachtete sich die CD noch einmal genauer: Die Namen auf dem Cover hier sagten ihr absolut nichts. Aber dann legte sie Mairi Campbell und Dave Francis auf und bekam eine Gänsehaut nach der anderen. Sanfte Klänge und eine engelsgleiche Stimme. Es fühlte sich an wie von einer anderen Welt. „Das ist doch tausendmal besser als ein Blumenstrauß“, fand sie.
Auld Lang Syne. Auf die alten Zeiten!
So was konnte sich nur ihr Jan einfallen lassen.
Doch dann hielt sie einen Moment inne. Und kam sich plötzlich ganz schön schäbig vor – denn die letzten Tage war er für sie doch nur ein Mimösjen gewesen: ein „Little Jan“, der sich mimosenhaft anstellt, nur weil irgendeine Diva tot im Pool liegt und sein Zehennagel vielleicht raus muss…
Aber eigentlich war er doch ihr persönlicher Mr. Big-Valentine!