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„Heimgang mal anders“

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Die letzten Tage hatte Jan in einer Art Trance erlebt. Nachdem die Schreckensmeldung über Brittneys Tod ihn erreicht hatte, hing er fest in seinem seelischen Mauseloch. Selbst die Tatsache, dass seine Nagelentzündung weniger dramatisch war als zuerst angenommen, konnte ihn nicht wirklich aufheitern. Im allerletzten Moment hatte Dr. Gutbein nämlich noch eine zündende Idee gehabt: „Wir könnten vielleicht eine ganz neue Tinktur auftragen, mein junger Freund. Alternativ zum Nagelziehen. Das wäre dir doch sicher recht? Allerdings müsstest du noch ein bisschen Zeit dafür einplanen. Und regelmäßig in die Praxis kommen. Die abgestorbenen Zellen müssen von Zeit zu Zeit abgetragen werden, verstehst du?“

Jan verstand. Für ihn hieß das übersetzt: Heimaturlaub in der Verlängerung. Außerdem sollte er den Nagel regelmäßig in einer Seifenlauge baden und erweichen. Aber auch das nahm er liebend gerne in Kauf. Nicht zu vergessen, seine Mutter kochte ziemlich gut. Wenn sie denn mal da war… Er wusste zwar nicht genau, was sie eigentlich machte und mit wem sie ständig unterwegs war. Aber so richtig interessierte ihn das in diesen Tagen auch nicht. Er hatte mehr als genug mit sich zu tun.

Zwar vermisste er Lina, war er aber auch froh, gerade jetzt in Hamburg zu sein. Er würde sie ja sowieso nur nerven. Sie hatte einfach kein Verständnis für ihn. Am Valentinsabend noch hatte er bei ihr angerufen und sie schniefen gehört. War sein Valentinsgeschenk etwa doch eine Nummer zu groß ausgefallen? Der Brief, den er Tage zuvor noch voller Inbrunst geschrieben hatte, schien jetzt wie von einer anderen Galaxie. Er konnte sich nicht einmal mehr hineindenken. Die Stimmung für Auld Lang Syne war wie weggepustet…

Brittneys plötzlicher Tod hatte ihn aus der Bahn geworfen. Ihn in seinem Urvertrauen erschüttert. Aber das konnte er ja keinem erzählen. Kurz angebunden war er zu Lina gewesen, das hatte er selbst bemerkt. Doch ihr gegenüber hatte er es einfach auf die Schmerzen in seinem Fuß geschoben. So konnte er sich bequem wieder in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, ohne sie zu verletzen. Wo sie sich doch so sehr über diese Valentinsüberraschung gefreut haben dürfte. Offensichtlich zu sehr…

Und wahrscheinlich noch mehr über die von ihm geäußerte Absicht, das ganze noch verbleibende Leben mit ihr verbringen zu wollen. Noch mehr Galaxien... War es überhaupt eine gute Idee gewesen, Lina seine Gedanken so frei mitzuteilen? Jan Johannsen war komplett daneben.

Und das gerade heute, wo der Trauergottesdienst für Brittney sein sollte. Zum Glück war seine Mutter wieder einmal abgezwitschert, wohin auch immer. So hatte er wenigstens seine Ruhe.

„Die Trauerfeier fängt wohl später an“, stellte Jan fest, als er am Abend die ganz in Weiß gekleideten Damen des Gospelchores sah, die fröhlich singend und klatschend auf dem Bildschirm erschienen waren. Und eine richtige Kirche war das doch auch nicht. Oder doch?

Es erinnerte doch eher an den Wulff’schen Klinkerbau, der jetzt ständig im Fernsehen gezeigt wurde. Langsam wurde ihm jedoch klar, dass genau dieses frohe Beisammensein in der Klinkerkulisse die offizielle Trauerfeier von Brittney Texas sein sollte. Fassungslos starrte Jan auf die klatschende Meute und wusste nicht, was ihn mehr irritierte: die weißen Gewänder, das Klatschen oder die fetzigen Lieder? Was war das denn für eine Abschiedsparty? Merkwürdige Sitten... Außerdem hieß das Ganze auch nicht Trauerfeier, wie die Kommentatorin erklärte, sondern „Homegoing Service“. Wohl so eine Art „Escort-Service ins Jenseits“… Jan war schon wieder verwirrt. Die letzte Beerdigung, die er miterlebt hatte, war die seines Vaters gewesen. Aber das war jetzt über zwanzig Jahre her und in mehrfacher Hinsicht ein echtes Trauerspiel gewesen. Seitdem hatte er sich von Beerdigungen und ähnlichen Veranstaltungen immer erfolgreich gedrückt. Die Musik war einfach zu grauslich für seinen Geschmack.

Es folgten die offiziellen Begrüßungen und Reden der Reverends, Politiker und Promis aus dem Showbiz. Einfach alles, was Rang und Namen hatte, war erschienen. Und jeder, der sich dazu berufen fühlte, und das waren nicht gerade wenige, rief lautstark „Yeah“ und „Amen“, gerne auch dazwischen, und immer standen irgendwelche Leute einfach auf, um ihre Ergriffenheit zu demonstrieren. Sie alle klatschten und jubelten, wann immer Gottes unendliche Güte gelobt wurde. Irgendwie eine Megashow. Wow!

Zwar wurde im Vatikan ja auch immer allerhöchste Perfektion geboten, aber hier bekam Jan doch eine Gänsehaut nach der anderen. Wenn die Menschen, die Brittney verabschiedeten, so dermaßen gut drauf waren, warum war er dann eigentlich so traurig? Anscheinend lief bei ihm alles nicht so recht nach Plan. Er hatte jedenfalls nichts, woran er sich hätte klammern können. Nicht einmal einen festen Glauben. Er glaubte nur seinen Kontoauszügen, denn diese Wahrheit war ihm gewiss: Miese Zahlen.

Wann ging er schon einmal zum Gottesdienst? Am Heiligen Abend. Und das war’s dann fürs ganze Jahr. Aber die Pfarrer hierzulande waren vielleicht auch nicht ganz so begeisterungsfähig wie der Reverend auf dem Bildschirm, der gerade kurz vorm Ausflippen war.

Jan kannte nur Pfarrer der Marke Baldrian. Bislang hatten die ihn nie überzeugen können. Aber dieser Reverend, das war schon eine imposante Erscheinung, und er predigte voller Inbrunst, dass alles, was Gott getan hatte, wohlgetan war. Davon war dieser Mann felsenfest überzeugt und zeigte es mit jeder Geste seines Körpers. Er war beseelt und ergriffen, von dem, was er verkündete. Er lebte Gottes Wort vor und dieser Funken schien direkt auf die Trauergäste überzugreifen.

Dann sprach der Reverend den Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zu frischen Wassern. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. Amen.“

Jan liefen die Tränen herunter. Vorbei war es mit der hanseatischen Contenance. Ein Wechselbad der Gefühle… Eine Gratwanderung zwischen Weinen und Lachen, jedoch alles zu seiner Zeit. Das verwirrte ihn noch mehr.

„Wir wollen unsere Brittney heute nicht nur verabschieden“, predigte er weiter, „sondern sie begleiten, sie nach Hause geleiten zu Gott. Ins ewige Land. Und wir wollen nicht nur das tun. Nein, wir wollen heute auch ein ganz besonders Leben feiern: Das Leben der wunderbaren Brittney Texas. Wir danken für die Gaben, die sie für ihr Leben bekommen hat. Und womit sie so vielen Menschen auf der ganzen Welt Freude bereitet hat.“

Das Leben feiern! Wer würde einmal sein Leben feiern? Das Leben von Jan-Oluf Johannsen, dem unbekannten, erfolglosen Maler aus Hamburg-Eppendorf? Das fragte er sich und merkte in diesem Moment, dass er schon lange nicht mehr über das Leben und den Tod, oder besser gesagt, sein Leben und seinen Tod nachgedacht hatte.

Woraus bestand sein Dasein heute? Seine Gedanken stiegen in die Achterbahn ein: Er war ein heimatloser Künstler, lebte mit der Frau, die er liebte, in Frankfurt. Frankfurt liebte er jedoch nicht. Aber Hamburg war auch nicht mehr das für ihn, was es einmal war. Wo war seine Heimat? Wohin würde der Escort-Service ihn bringen, wenn sein Lichtschalter mal ausgegangen war? Und wer um alles in der Welt sollte das überhaupt für ihn organisieren? Eigene Kinder waren eher unwahrscheinlich, und bislang hatten er und Lina in dieser Sache trotz einiger Anstrengungen auch kein Glück gehabt. Irgendwie, so fand er, war es jetzt auch schon ein bisschen spät für Windeln und Babybrei. Viele Verwandte hatte er auch nicht mehr, und von den wenigen, mit denen er noch Kontakt hatte, konnte er in dieser Hinsicht sicher keine Dienste erwarten. Also nix mit dem Last-Escort-Service…

Und wahrscheinlich würde es nicht mal weiter auffallen, wenn er tot war. Es sei denn, Lina wäre noch am Leben, was statistisch gesehen sogar wahrscheinlich war. Aber eigentlich konnte ihm das auch egal sein, wenn er erst einmal ein Aschehäufchen war.

Er fühlte sich wirr. Die Frage, ob er noch alle Latten am Zaun hat, war wohl nicht unbegründet? Höchstwahrscheinlich hatte er sogar richtig einen an der Waffel! So hätte es Lina zumindest treffend formuliert.

Er versuchte, sich krampfhaft wieder selbst auf die Reihe zu kriegen und beruhigte sich mit so einleuchtenden Dinge wie: „Eigentlich hatte ich doch bislang ziemliches Glück. Ein paar kleine Wehwehchen, na gut. Vaters Tod, das war heftig, keine Frage. Aber richtige Katastrophen? Keine Ahnung, wie sich das anfühlt. Noch mehr Glück gehabt. Millionen Menschen leiden und ich sitze hier auf einem warmen Sofa, knabbere Nüsse, und heule einer Sängerin aus dem fernen Amerika nach. Seelische Wohlstandsblähungen, Luxusproblemchen auf höchstem Niveau?“ Aber so ganz klappte es nicht mit der Selbstberuhigung. Es war ihm alles zuviel. Er selbst, das Leben und die Welt an sich. „Naja, vielleicht erledigt sich alles am 21. Dezember auch von selbst, wenn das mit dem ablaufenden Maya-Kalender denn stimmt.“

Er schniefte erneut ins Tempo, und mittlerweile türmten sich die verschneuzten Taschentücher neben ihm schon auf. Aus irgendeinem Grund war er komplett von der Rolle. Doch war der Tod der Diva wirklich der Auslöser dafür? Oder gab es die Krise schon vorher? Er versuchte, seine Misere zu analysieren: Niemand wollte mehr seine Bilder kaufen, selbst übers Internet lief es mau. Und ja, es hatte ihn mitgenommen, vielleicht mehr als er zugeben wollte, dass die junge Russin Ekatarina Tartakowskaja vor kurzem die Hälfte seines Unterrichts übernommen hatte. Fast einfach so…

Sie war eine studierte Kunstmalerin, verfügte über eine erstklassige Ausbildung und hatte sich eines schönen Tages auf gut‘ Glück in der Frankfurter Malschule vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit hatte sie sowohl ihre russischen Modelmaße auf High Heels, als auch einige ihrer hervorragende Stillleben und Landschaftsmalereien in altmeisterlicher Lasurmalerei präsentiert. Was Herrn Thielmann, dem Inhaber und Leiter der Schule, ausgesprochen positiv ins sonst so kritische Auge gefallen war. Die Waffen der Frauen…

Anschließend hatte die attraktive Frau Tartakowskaja mit dem roten Schmollmund und zwei weiteren schlagenden Argumenten direkt einen Lehrerjob in der Tasche. Oder besser gesagt: einen Teil von Jans Job. Doch musste ihn das so aus der Bahn werfen? Ihm fiel keine Antwort ein…

Er musste auf einmal an den Keltenberg denken. Dort malte er am allerliebsten. In der Wetterau, nicht weit von Frankfurt. Wie gern wäre er jetzt dort gewesen. Oder in seinem Atelier, seiner Künstler-Oase. Eigentlich war es nur das ehemalige Hauswirtschaftszimmer in der Bornheimer Altbauwohnung. Aber es war groß und hell. Für Leinwände und Staffeleien und seine Hamburger Lieblingsmöbel: den alten Buffetschrank, wo er seine Farben und Pinsel unterbringen konnte und einem uralten Esstisch, der schon allerhand erlebt haben musste. Nicht zu vergessen, seinen gemütlichen Ohrensessel, der schon mehrfach neu gepolstert und bezogen worden war und der Jan zum entspannten Zurücklehnen diente, wenn er seine Gemälde im Werden begutachtete. Trocknen und Lagern war Kellerraumsache. Alles in allem also genug Platz für ein Künstlerdasein. Ein mehr oder weniger gewinnfreies...

Sein Vater hatte seine Mutter nach seinem frühen Tod gut versorgt hinterlassen. Die Weinhandlung und das gut sortierte Lager hatten nach dem Tod von Oluf Johannsen hohe Verkaufspreise erzielt, und einen nicht unerheblichen Teil an wertvollen Weinen und Jahrgangswhiskeys aus der umfangreichen Sammlung seines Vaters hatten seine Mutter und er behalten und bei einem befreundeten Händler einlagern können. Die Wertsteigerung konnte eines Tages einmal erheblich sein. „Gut Ding‘ will Weile haben“, erinnerte er sich an einen Spruch seines Vaters.

Obwohl Jan also im Prinzip nicht gänzlich pleite war, musste er sich doch ziemlich knapp halten, um Lina nicht allzu sehr auf der Tasche zu liegen. Sie finanzierte nämlich den Großteil ihres gemeinsamen Lebens. Seine Mutter steckte ihm zwar auch oft ein paar Scheine zu, wenn er in Hamburg war. Aber eigentlich war ihm das schon ein bisschen peinlich, immer noch eine Art Taschengeld zu bekommen. Noch so ein Luxusproblemchen à la Jan! Denn im Grunde wollte er seiner Mutter gar nicht sagen, dass er meist klamm war. Aber wahrscheinlich ahnte sie…

Doch über das leidige Geld wollte er sich jetzt keine Gedanken mehr machen. Hier ging es schließlich um Leben und Tod: die Bilder aus dem Klinkerbau zogen ihn wieder in ihren Bann.

Meine Güte, beim Blick auf die Uhr registrierte Jan, dass das ganze heilige Spektakel fast geschlagene vier Stunden gedauert hatte.

„Du liebe Zeit“, dachte er, „in Amerika sind nicht nur die Hot Dogs viel länger.“ Er war müde und ganz schön verheult und wollte nur noch in sein Hamburger Bett. Eine Nacht darüber schlafen konnte da bestimmt nicht schaden. „Morgen ist ein neuer Tag“, tröstete er sich selbst.

Seine Mutter war offenbar noch nicht wieder von ihrer Tour zurückgekehrt. Auch Hamburger Nächte konnten lange sein.

Und der automatische Homegoing Service von Gisela Johannsen war anscheinend auch außer Betrieb…

Der Van Gogh vom Keltenberg

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