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„Wie Hein will“

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Das Fastnachtswochenende stand vor der Tür und Jürgen-Ronald Hein war nach einigen Tagen Dienstreise auch wieder im Büro. Es gab einiges für ihn zu tun. Lina hatte bereits alles sorgfältig nach Prioritäten sortiert. So war es nun einmal ihre Art, und sie wollte gerne vor dem Wochenende noch reinen Tisch machen. Allerdings verspürte ihr Chef offensichtlich keine besondere Lust, irgendetwas Produktives zu tun oder dringend notwendige Entscheidungen zu treffen. Das alles hatte Lina ihm schon beim „Guten Morgen“-Gruß an der Nasenspitze angesehen. Sie kannte ihren Pappenheimer inzwischen gut genug. In den letzten Jahren war von seinem buchstäblichen Elan ein Großteil entschwunden. Nicht mehr vorhanden, irgendwo verschwunden im Energie-Nirvana.

Als Lina damals bei HansaFra angefangen hatte, da war Jürgen Hein noch ein drahtiger, dynamischer Manager auf der Höhe seiner Kraft gewesen. Gerade mal Mitte vierzig, voller Tatendrang und Energie. Kein Arbeitstag konnte ihm lange genug sein. Im Büro war er morgens der erste und abends der letzte. Müde wurde er so gut wie nie, er brannte eben für das Drogeriemarkt-Geschäft, das damals noch in den Kinderschuhen steckte. Und er hatte sich in die Idee verbissen, diesen noch jungen Geschäftszweig der HansaFra zum Marktführer zu machen. Dieses Brennen, das erwartete er jedoch auch von allen anderen Mitarbeitern, besonders von seiner Assistentin, Frau Siebenborn.

Nachdem er nämlich einige (und es waren nicht gerade wenige!) Chefsekretärinnen verschlissen hatte, weil es ihm keine recht machen konnte, war er froh, in ihr endlich eine adäquate Hilfe gefunden zu haben, die ebenso belastbar war wie er selbst. Herr Hein konnte früher keine Sekunde stillsitzen. Immer musste er etwas tun. War er gerade nicht im Büro, dann joggte er in jeder freien Minute durch die Gegend. Entlang des Mains oder der Nidda, das waren seine Lieblingsstrecken. Oder durch die weitläufigen Wälder des Taunus. Und wo immer er auf Geschäftsreise war, die komplette Läufermontur war stets dabei. Er war fit wie der berühmte Turnschuh, rauchte nicht und trank nur ganz selten mal ein Gläschen Sekt, wenn jemand Geburtstag hatte und einen ausgab. Oder wenn ein neuer Drogeriemarkt gleich am Eröffnungstag überragende Verkaufszahlen meldete. Das waren aber die absoluten Ausnahmen! Denn ihr Chef war damals ein Asket, drahtig und durchtrainiert. Mit beneidenswerten null Gramm zuviel auf den Rippen…

Aber das war damals. Da standen in seinem Büro sogar noch Pokale: Berlin, Hamburg, Frankfurt, Hongkong, New York, Paris und San Francisco. Anscheinend war er ganz schön herumgekommen mit seinem Tennisverein. Er war wohl mal eine richtig große Nummer im Tennis gewesen, als jüngerer Mann. Und darauf war er ziemlich stolz. Jeder musste sich die unglaublichsten Geschichten dazu anhören. Angeblich kannte er Björn Borg sogar persönlich. Lina wusste nie, ob sie ihm das wirklich glauben sollte…

Heute standen die zahlreichen Pokale jedenfalls irgendwo bei ihm zuhause rum – vermutlich in einer unbeachteten Ecke. Wahrscheinlich gleich neben dem Altpapier. Er wollte auch gar nicht mehr darauf angesprochen werden. Denn heute ging nichts mehr in Sachen Leistungssport. Jürgen Hein war nicht mehr in der Lage, auch nur einen klitzekleinen Lauf zu absolvieren. Das jahrelange Tennisspielen war ihm auf die Gelenke geschlagen. Doch er wollte unbedingt laufen, sich bewegen. Irgendwann hatte ihm einer seiner Orthopäden zum Nordic-Walken geraten. Das hat er auch ein paar Mal praktiziert. Aber es war nicht sein Ding.

Zum Schluss kam dann der letzte Versuch: Golf! Aber auch das ging nur im Schneckentempo und unter Schmerzen. Da musste er wohl oder übel einsehen, dass der Leistungssport ihn seine Knochen gekostet hatte.

In den kommenden Jahren war Herr Hein dann ein anderer geworden. Die ständigen Schmerzen hatten ihn zermürbt. Und sein Zustand wollte sich auch nach vielen Therapien und einer völlig erfolglosen Knieoperation nicht bessern. Es half alles nichts. Heute war er fast sechzig und mindestens einen halben Zentner schwerer als zu seinen aktiven Läuferjahren. Der fehlende Sport hatte ihn unzufrieden und träge gemacht. Das Gefühl, nicht mehr das tun zu können, was ihm immer Spaß und Ausgleich außerhalb seines Berufslebens beschert hatte, hatte ihn offenbar schneller altern lassen. Hin und wieder ging er zwar immer noch zu einer speziellen Krankengymnastik, doch das konnte man mit dem Sport, den er bislang betrieben hatte, absolut nicht vergleichen. Und so ein bisschen Tennis im Seniorenclub? Das wäre nicht seine Sache gewesen! Selbst, wenn er es mit seinen kaputten Knien noch gekonnt hätte. Nein, ein Mann wie er war für die obere Liga gemacht…

Irgendwann hatte er dann begonnen, hobbymäßig zu kochen und Gourmetkochkurse bei renommierten Köchen absolviert. Wahrscheinlich inspiriert von den unzähligen Kochshows im Fernsehen, die er erst kennengelernt hatte, seit er gewaltsam zur Ruhe verdonnert worden war.

Immer intensiver widmete er sich auch seinem gut sortierten Weinkeller. Askese war von nun an Vergangenheit! Für seine bislang durchtrainierte Figur war das alles aber nicht ohne Folgen geblieben. Böse Zungen bei HansaFra behaupteten, dass mit jeder Entlassung, die Herr Hein zu verantworten hatte, auch ein Kilo Hüftgold für immer bei ihm gelandet war. Und jeder wusste, dass J.R., wie ihn viele heimlich nannten, immer dann zuschlug, wenn ihm plötzlich die Nase von irgendeinem Mitarbeiter nicht mehr passte.

Das mit dem Hüftgold hatte Ines ihrer Lieblingskollegin Lina einmal bei einem kleinen Feierabendbierchen gesteckt. Die hatte es aber auch nur irgendwo aufgeschnappt, denn durch ihre freundschaftlichen Kontakte ins Vorzimmer des Chefs war sie vom Flurfunk mehr oder weniger ausgeschlossen, wenn es um den Geschäftsführer Hein ging. Zu groß war wohl die Angst der Kollegenschaft, dass alles, was sie Ines erzählten, gleich zum Chef durchdringen würde.

Jeder wusste ja im Prinzip, wie die Kommunikationskette in einer Firma so funktioniert. Am besten mit dem Zusatz „streng geheim“. Dann konnte man ziemlich sicher sein, dass es überall ankommen würde. Und es ging so in der Regel auch am schnellsten rum.

Herr Hein konnte seine vielen Geschäftsreisen jedenfalls immer unbesorgt antreten. Denn auf Lina, seine geschätzte „Frau Siebenborn“, wie er sie auch nach vielen Jahren noch ganz förmlich nannte, war Verlass. Er wusste, wenn sie im Büro war, ging nichts verloren. Und in dringenden Fällen war er jederzeit für sie zu erreichen. Lina schrieb Emails und Briefe in seinem Namen und er vertraute ihr. Auch darauf, dass sie immer den richtigen Ton traf. Sei es mündlich oder schriftlich. So hatte sich in den mittlerweile über zwölf Jahren der Zusammenarbeit ein echtes Vertrauensverhältnis aufgebaut. Das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn Lina schätzte ihren „Heini“, wie sie ihn nannte, sehr. Nur manchmal, da konnte er zum regelrechten Fiesling werden. Aber hat nicht jede Medaille ihre zwei Seiten?

Fakt war, dass er allein die HansaFra Drogeriemarktkette wieder ganz nach oben gebracht hatte. Tiefschwarze Zahlen, brummende Geschäfte! Aber jetzt war seiner Meinung nach anscheinend die Zeit gekommen, sich auf den wohlverdienten und hart erarbeiteten Lorbeeren auszuruhen. So dachte es sich Lina zumindest. Denn bei ihm war ganz schön die Luft draußen…

„Frau Siebenborn, kommen Sie doch mal bitte rein“, tönte es an diesem Freitag ziemlich unwirsch aus dem Lautsprecher an ihrem Telefon. Lina sprang sogleich auf und ging in Richtung Chefbüro.

„Herr Hein?“, sie klopfte kurz an und betonte die Anrede wie eine Frage. „Also, ich würde sagen, Sie rufen jetzt mal den Sexy-Burger an und sagen ihm, wir klären die Sache mit der Dame aus Mannheim nächste Woche. Dem Weimann sagen Sie am besten auch gleich ab für heute. Ist ja nix Eiliges, brennt ja nix an. Heute passt es mir nämlich absolut nicht. Sagen Sie irgendwas, das mir dazwischen gekommen ist. Kurzfristig! Sie wissen schon, lassen Sie sich einfach was einfallen. Wie immer. Müssen ja nicht gleich jedem auf die Nase binden, dass ich dringend den Rücktritt des dappigsten Präsidenten aller Zeiten mit verfolgen will…“, und grinste sich dabei in seinen nicht vorhandenen Bart. „Das sieht ihm ähnlich! Sowas hätte es vor ein paar Jahren noch nicht gegeben“, dachte Lina, ließ sich aber nichts anmerken. „Und dann lassen Sie keinen mehr zu mir rein! Ich hab‘ diese Woche genug geackert für die geldgeilen Hanseaten. Die können da oben im Norden doch den Rachen nicht voll genug kriegen.“ Da musste Lina unwillkürlich an Jan denken. Denn das traf auf ihn auch zu. „Was Freitag nicht entschieden ist, hat auch noch bis Montag Zeit. Manches erledigt sich sowieso von alleine. Heute läute ich jedenfalls mal schon den Sabbat ein. Schließlich tritt nicht jeden Tag ein Bundespräsident zurück.“ Als Lina schon wieder hinausgehen wollte, schaltete er den großen Flachbildschirm an und schob noch kurz nach: „Nur alle zwei Jahre.“

Als sie schon wieder in ihrem Vorzimmer war, hörte sie ihn noch hinterherrufen: „Ich bin nur für das Hugolein da, sonst lassen Sie keinen rein!“ Wie immer betonte er dabei das „U“ besonders und machte einen Singsang aus dem Spitznamen des Vorstandes Hugo Foth.

„Beim Heini ist aber wirklich die Luft draußen“, sagte Lina stumm zu sich selbst und schüttelte dabei den Kopf. Inzwischen kam es nämlich immer öfter vor, dass er spontan das Büro verließ und, wie er vorgab, dringend in die Stadt musste oder zu irgendeiner Besprechung – wovon Lina aber meist gar nichts wusste. „Naja, auch Chefs haben eben ihre Geheimnisse.“ Sie war äußerst diskret, das gehörte für sie zur Berufsehre der persönlichen Assistentin. Nie fragte sie nach oder kommentierte gar sein Verhalten. Lina war professionell durch und durch und stellte ihren Vorgesetzten nach außen hin immer vollkommen korrekt dar, so dass niemand ahnen konnte, was sie schon seit längerem wusste: Herr Hein verschwand nämlich immer mal wieder zwischendurch ins Bahnhofsviertel, wo er anscheinend seinen speziellen Neigungen nachging. Dazu war im Frankfurter Rotlichtviertel an 365 Tagen im Jahr und 24 Stunden am Tag jede Möglichkeit gegeben. Meetings der besonderen Art. Kommunikation auf einer anderen Ebene...

Mit der HansaFra Drogeriemarktkette hatte das auf den ersten Blick nichts direkt zu tun. Eher im übertragenen Sinne. Gewisse Artikel aus dem Drogeriesortiment kamen dort sicherlich sehr regelmäßig zum Einsatz. Und so gesehen, würde das im Endeffekt sogar zur Gewinnsteigerung des Konzerns beitragen. Man konnte ja fast allem etwas Positives abgewinnen, wenn man sich nur etwas Mühe gab, fand Lina.

Jürgen Hein kehrte nach diesen praktischen Produkterprobungen in Event-Atmosphäre, immer mit einem wirklich sehr entspannten Gesichtsausdruck zurück ins Büro. Wenn er überhaupt kam. Also, ins Büro zurück kam…

An diesem Freitag jedoch nahm er seine Auszeit direkt am Schreibtisch. Was in jedem Fall weniger kostenintensiv war als auf der Kaiserstraße, kalkulierte Lina blitzschnell. Offiziell wusste sie ja nicht, wo ihr Boss seine Schäferstündchen verbrachte. Aber seit Jan ihn einmal vom Asia-Wok aus ganz zufällig beobachtet hatte, wie er ein einschlägiges Etablissement der Lack- und Lederszene, das Dark Paradise, aufgesucht hatte, war ihr klar, um welche Außer-Haus-Termine es sich eigentlich handelte. Kein Wunder, dass er in diesen Zeiten auch für seine Sekretärin nicht zu erreichen gewesen war.

Und mehr wollte Lina darüber auch gar nicht wissen. Wie ihr direkter Vorgesetzter nun genau aussah, wenn er von einer peitschenschwingenden Domina an Halsband und Leine durch schummrige Kellergewölbe geführt wurde und vielleicht noch bellen musste wie ein getretener Hund, sofern die Herrin es ihm gnädigerweise erlaubte? Nein, das musste Lina Siebenborn als seine Sekretärin sich nicht wirklich vorstellen. Dafür wurde sie schließlich nicht bezahlt.

Jan, der gelegentlich gerne mal den einen oder anderen Abstecher ins Frankfurter Bahnhofsviertel machte, weil es ihn ein bisschen an die Reeperbahnatmosphäre von Hamburg erinnerte und er die bunte Mischung unterschiedlichster Menschen gerne bei einem gemütlichen Asia-Snack beobachtete, nannte Linas Chef seitdem nur noch kurz und knapp: „Peitschen-Heini“. Und Lina erzählte oft von ihm. Herr Hein bot auch immer reichlich Stoff zum Tratschen. Denn, je älter er wurde, desto weniger Lust zum Arbeiten hatte er ja. Und irgendwie wurde er mit zunehmendem Alter und Gewicht auch immer fieser und fieser. Insbesondere zu Leuten, die ihm ein Dorn im Auge waren. Warum auch immer.

Manchmal fragten sich Lina und Jan, ob es nicht auch etwas damit zu tun hatte, dass sie ihm fast alles abnahm. Ihn entlastete, wo immer es möglich war. Und durch ihre weit gesteckten Kompetenzen war da einiges möglich. Herr Hein konnte nämlich weder flüssig diktieren noch korrekte Sätze formulieren. Nicht einmal seine Reden konnte er selbst schreiben. Vielleicht hatte er dazu auch einfach keine Lust… Aber er hatte Talent für tiefschwarze Zahlen. Was ihn letztendlich auch an die Spitze des Unternehmens gebracht hatte. Und bis heute dort gehalten. Der Rest war Linas Mission… Sie konnte sich selbst in komplexe geschäftliche Vorgänge hineindenken und war für Herrn Hein zur Ghostwriterin geworden. Denn schnell hatte er gemerkt, dass dadurch viel Zeit zu gewinnen war. Und die konnte er doch problemlos anderweitig und viel angenehmer verplanen. So lief im Büro, dank Lina, meist alles wie am Schnürchen. Die Umsätze waren tip-top.

Außerdem hatte Herr Hein allerbeste Verbindungen nach oben. Sein ganz spezieller Spezi, Hugo Foth, der zwar der Boss war, aber eigentlich noch viel zu „klein“ dafür, war das jüngste Vorstandsmitglied des Konzerns. Das Vorstandsküken also. Aber für Linas Chef war er schlicht und ergreifend nur das „Hugolein“. Mit Betonung auf dem „U“. Lina hatte nie ganz verstanden, was die beiden eigentlich verband, aber Herr Hein schien durch diese Verbindung ziemlich fest im Sattel zu sitzen. Er bestimmte nur noch Inhalte, Fakten und Zahlen. Und trug letztendlich die Verantwortung. Alles andere war Linas Sache. Für die Chefin vom Vorzimmer, wie er seine Frau Siebenborn gerne mal scherzhaft nannte. Er wusste schon, was er an ihr hatte! Lina musste natürlich jedes Mal innerlich grinsen, wenn Herr Hein, ihr Vorgesetzter, sie mit „Chefin“ ansprach, aber im Grunde war sie auch ein bisschen stolz darauf. Er tat das natürlich nur, wenn sie alleine waren. So etwas hätte sonst schnell die Runde gemacht und wer weiß, was dann noch alles mit hochgekocht wäre.

Lina Siebenborn fühlte sich überaus wohl in ihrem Job. Sie genoss das Ansehen, das sie sich aufgrund ihrer verbindlichen Art und ihrer absolut korrekten Arbeitsweise erworben hatte. Sie wusste genau, was sie konnte – und Gehaltserhöhungen und Prämienzahlungen für überdurchschnittliches Engagement versüßten ihr das Arbeitsleben zusätzlich.

Selbst Marlene Hein, die Gattin des Chefs, rief mit schöner Regelmäßigkeit bei ihr im Büro an, um einfach einen kleinen Plausch zu halten oder ihr zu sagen, dass ihr Mann ohne ihre Hilfe doch gar nicht mehr zurechtkäme. Sowas geht doch runter wie Öl… Außerdem bat sie bei diesen Gelegenheiten Lina immer öfter um Hilfe, um sich im weltweiten Netz der unbegrenzten Möglichkeiten, dem Internet, zurechtzufinden. Es endete jedoch meist damit, dass Lina selbst die gewünschten Informationen für Frau Hein heraussuchte. Doch sie half ihr gerne. Auch das gehörte für sie ganz selbstverständlich zu ihrem Job als persönliche Assistentin. Die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben waren da ja eher fließend.

Hin und wieder wurden Lina und Jan sogar zu den Heins nach Hause eingeladen. In den letzten Jahren sogar häufiger, denn Herr Hein mochte Jan mittlerweile sehr gerne und unterhielt sich mit ihm immer angeregt über seinen Weinkeller. Das war für Jan eine Leichtigkeit, als Sohn eines Weinhändlers… Und außerdem, was der ganzen Sache an sich nicht abträglich war: Jan trank auch gerne mal einen über den Durst. Jürgen Hein war jedenfalls immer wieder begeistert von ihm. Der junge Mann hatte – genau wie er – Sinn für die schönen Dinge des Lebens. Und so einen freischaffenden Künstler, der sicher um jeden Euro kämpfen musste, unterstützt man doch gerne! Jan hatte schon einiges für Herrn Hein gemalt: je zwei Gemälde von Monet und Renoir, die Jan auf seine ganz eigene Art kopiert hat. Aber auch Van Goghs Sonnenblumen hing bei den Heins – und ein „richtiger“ Johannsen: Hausboote auf der Nidda bei Frankfurt-Höchst. Dieser Stil passte in die Villa Hein am Waldrand von Friedrichsdorf bei Bad Homburg. Jan hatte sich immer gefreut, für Herrn Hein arbeiten zu dürfen.

Ihm lag die impressionistische Maltechnik sehr. Sie war auf zügiges Arbeiten ausgerichtet, weil sie aus der Freilichtmalerei – dem Arbeiten in der Natur selbst – kam. Die Alla-Prima-Malerei, bei der die Ölfarben zum Teil sogar auf der Leinwand selbst gemischt wurden, war seine Lieblingstechnik. Ein Gemälde pro Tag war somit kein Problem. Weil schnell, dick und übereinander aufgetragen wurde, für lange Trocknungsprozesse war im Freien keine Zeit. Damals, nach Erfindung der Farbtuben, konnten die Maler endlich ihre Ateliers verlassen und unter freiem Himmel malen. Vorher waren sie nur zum Skizzieren ins Freie gegangen, denn sie mussten ihre Farben mühselig aus vielen Pigmenten zusammenmischen. Und das ging draußen nicht.

Doch diese neumodischen Farbtuben hatten damals auch das Ende der altmeisterlichen Technik eingeläutet, die überwiegend in dunklen Tönen gehalten war und unzählige Trocknungsphasen brauchte. Denn die vielen Farbschichten wurden nach und nach übereinander aufgetragen, um letztendlich die gewünschten Lasur- und Lichteffekte zu erzielen. Das war nur etwas für ganz große Meister und die Impressionisten hatten nicht so viel Geduld. Jan auch nicht…

Monets Gemälde „Impression soleil levant“ aus dem Jahre 1872, das den Sonnenaufgang über dem Hafen von Le Havre als flüchtigen Eindruck zeigt, gab dem neuen Stil damals den Namen: Impressionismus. Farbenfroh, verrückt, fröhlich. Eben modern!

Doch kein Mensch wollte diese neue Malerei! Sie galt in weiten Kreisen als Schmiererei. Niemand wollte sie ausstellen, was die befreundeten Impressionisten, allesamt mehr oder weniger arme Schlucker (bei manchen traf das ganz besonders zu!), auf die Idee gebracht hatte, ihre Werke auf eigene Faust auszustellen. Wer hätte damals damit rechnen können, dass genau diese Schmierereien viele Jahrzehnte später einmal Millionenpreise erzielen würden?

Jan jedenfalls war seit seiner ersten Begegnung mit diesen farbenfrohen Meisterwerken aus Licht und Schatten so fasziniert gewesen, dass er nach dem Besuch einer Ausstellung, da war er vielleicht zehn, nur noch malen wollte wie die französischen Impressionisten. Und irgendwann hatte er es geschafft! Seine Kopien waren nahezu perfekt. Herr Hein war jedenfalls immer sehr zufrieden mit seinen Arbeiten…

Im Chefzimmer saß Jürgen Hein an diesem Freitagmorgen schon vor elf Uhr vor laufendem Fernsehgerät und kippte sich zur Feier des Tages einen doppelten Cognac in seinen Kaffee. Lina war sich sicher, dass dies nicht der letzte sein würde. Er hatte so seine speziellen Fächer in seinem Aktenschrank (für alle Fälle!). Und in einem dieser Fächer stand auch einer seiner Lieblingssprüche, schick eingerahmt: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem! Was immer Du tust, tue es klug, und bedenke das Ende!“

Schon oft hatte Lina gehört, dass er Leute mit diesem Spruch belehrte. Insbesondere, wenn sie einen Fehler gemacht hatten oder kurz vor der Kündigung standen. Wirklich passend! Dann kramte Herr Hein regelmäßig seine bei den Römern geklaute Weisheit heraus. Aber er selbst war auf diesem Ohr ziemlich taub…

Als Lina wenig später noch einmal hineinging, um eine Unterschrift in einer eiligen Sache zu bekommen, war er total relaxed und sah so aus, als würde er für den Rest des Tages auch tatsächlich bei diesem Gebräu bleiben.

„Endlich isser weg. Kurz und schmerzlos war’s. So ein Dabbes! Und, Sie hätten das mal sehen sollen, Frau Siebenborn, diese schlecht frisierte Blondine war fast noch schneller verschwunden als ihr Mann. Ganz schön forsch ist die abgetrabt! Und immer dieser Jung-Mädchen-Pferdeschwanz. Wahrscheinlich denkt die immer noch, dass das Leben ein Ponyhof ist. Da sind ja meine Drogeriemarktdamen besser gestylt!“ Herr Hein fand die Situation in den letzen Wochen langsam unerträglich. Wulff, Wulff und nochmals Wulff. Keiner konnte es mehr hören. Schon mehr als zwei Monate beherrschte das Thema sämtliche Medien. Nur der Untergang der Costa Concordia hatte das Präsidententhema kurzfristig auf Platz zwei verdrängen können.

„Der hat zwar nix anderes gemacht als alle anderen auch, aber er hat sich einfach zu dusselig angestellt. So einer kann nicht im Amt bleiben. Lässt sich der Kerl aber auch bei jeder Gelegenheit erwischen. Kein Fettnäpfchen war vor ihm sicher. Aber jetzt kann er ja endlich in sein verklinkertes Eigenheim einziehen, dass ihm die ganze Scheiße eingebrockt hat. Und seine reichen Freunde können ihn ja dann dort mal besuchen und vielleicht auch für lau bei dem pennen. Die haben ja bestimmt noch was gut bei dem.“ Lina sagte dazu gar nichts. Sie hatte keine Lust auf irgendwelche Diskussionen unter Cognac-Einfluss. Außerdem hatte Herr Hein ungern nicht das letzte Wort. Im Prinzip konnte sie es sich auch an den fünf Fingern abzählen, was als nächstes kam: Ein kleiner Termin in der Stadt! Und dann, Stunden später, der übliche Anruf mit der Frage, ob es denn unbedingt nötig sei, dass er heute noch mal wieder ins Büro käme – und anschließend „Schönes Wochenende!“, verbunden mit den herzlichsten Grüßen an Herrn Johannsen, wie Herr Hein ihren Liebsten immer ganz förmlich nannte.

So fing es immer an, und so würde es auch heute enden. Es war schließlich Wochenende und der Arbeitstag war um zwölf Uhr mittags im Prinzip auch schon gelaufen. Also, zumindest HansaFra-technisch. Für Herrn Hein.

Lina hatte jedenfalls noch eine Menge zu tun: Termine absagen und Leute beruhigen, die „dringend zum Chef rein mussten“. Es blieb ihr wenig anderes übrig, als sich deren Probleme geduldig anzuhören und zumindest so tun, als würde sie das wirklich brennend interessieren. Entscheiden konnte sie ja rein gar nichts, aber irgendjemand musste den enttäuschten Menschen einfach zuhören und ihnen das Gefühl geben, sie seien wirklich richtig wichtig.

Meist erzählten die Enttäuschten dann aber auch noch ihr halbes Privatleben: von Urlaubsreisen, die allesamt supi waren. Bei „supi“ ging Lina schon der Kamm hoch, besonders, wenn ältere Herren dies im Brustton der Überzeugung von sich gaben…

Andere berichteten von geglückten oder völlig danebengegangenen Hausrenovierungen (letzteres eher selten!), Wochenendaktivitäten (das Ausgefallenste vom Ausgefallenen!) oder neuentdeckten Restaurants (natürlich nur die geheimsten Geheimtipps!).

Nicht immer konnte sie die Geschichtenerzähler stoppen, manche störten sich nicht einmal daran, wenn das Telefon auf Linas Schreibtisch klingelte. Geduldig warteten sie, bis das Gespräch beendet war. Hörten einfach zu, was Lina ziemlich dreist fand, oder setzten sich auf den Stuhl, der für Besucher da stand. Schließlich konnte man auf diese Art und Weise vielleicht interessante Informationen mit aufnehmen. Manchmal half da nur die gute alte Holzhammermethode. Rauswerfen! Heute hoffte sie nur, dass niemand vom Vorstand bei ihr anrufen und dann am Ende auf eigene Faust versuchen würde, Herrn Hein unterwegs auf dem Handy zu erreichen. In Frankfurt keinen Mobilfunk-Empfang zu haben, das kam als Ausrede nämlich ganz schlecht. „Obwohl“, wenn Lina es sich so recht überlegte, „in irgendwelchen Sado-Maso-Kellerverließen tief unter der sündigen Kaiserstraße konnte das tatsächlich ein Problem sein mit dem Empfang…“

Jan war immer noch im Hamburg. Es gab zwar keine Komplikationen, aber die Behandlung schien doch einiges mehr an Zeit in Anspruch zu nehmen als ursprünglich geplant. „Naja, wenn der Nagel gerettet werden kann“, hatte Lina ihren Liebsten beruhigt. Sie hatten ein paar Mal telefoniert, aber er fehlte ihr. Auch wenn sie die Tage als Teilzeit-Strohwitwe genießen konnte (es war fast wie früher in ihrer ersten eigenen Wohnung). Tun und lassen können, was man wollte… Aber als Dauerzustand? Sie vermisste Jan wirklich. Und außerdem wollte sie ihren Mr. Big-Valentine endlich in die Arme schließen.

Lina überlegte, ob sie nicht spontan nach Feierabend gen Norden starten sollte, um ihrem Allerliebsten einen Krankenbesuch abzustatten. Aber die Staumeldungen vom Freitagnachmittag ließen sie nicht gerade optimistisch sein, Hamburg noch vor Mitternacht zu erreichen. Das würde einfach zu stressig werden. Herr Hein war erwartungsgemäß außer Hause verblieben. Und hatte telefonisch ein schönes Wochenende gewünscht. Wie immer!

„Das werde ich haben, schließlich verpasse ich so garantiert die Frankfurter Fastnacht!“, freute sich Lina insgeheim. Bald schon wäre sie im garantiert faschingsmuffeligen Norden… In den letzten Jahren konnte sie sich nicht mehr dafür begeistern. Die Prunksitzungen, die jetzt fast täglich im Fernsehen liefen, waren zum Teil ja noch ganz witzig, ähnelten aber im Grunde dem üblichen Ganzjahres-Comedyprogramm. Im Prinzip nichts Neues also.

So richtig auf den Geist gingen ihr in diesem Jahr aber die Bilder vom Straßenkarneval – insbesondere der Weiberfasching vom Donnerstag hatte sie wieder einmal ungläubig staunen lassen. „Wo halten sich diese überaus netten, lustigen und freundlichen Menschen, die sich so selig in den Armen liegen und fröhliche Lieder zum Besten geben, eigentlich das restliche Jahr über versteckt?“, hatte sich Lina dabei gefragt. „Waren das etwa dieselben Menschen, die im Restjahresverlauf üblicherweise mit dem Drei-Tage-Regenwetter-Miesepeter-Gesicht herumliefen?“ Jedenfalls sahen einige dieser Leute absolut nicht so aus, als hätten sie außer diesem Taube-Nuss-Gesichtsausdruck noch viele Alternativen in petto...

Und es fiel ihr immer stärker auf, dass die wenigsten Menschen noch „Bitte“ und „Danke“ im Alltag benutzten. Wenn man jemandem die Tür aufhielt, egal, ob es sich um eine Dame oder einen Herrn handelte, dann war es äußerst selten, dass sich diese Person mal kurz bedankte. Von einem kleinen, völlig kostenfreien Lächeln ganz zu schweigen… Aber an den tollen Fastnachtstagen! Kaum hatten die sonst so Ausdruckslosen eine rote Nase auf dem kalten Schnäuzchen sitzen und diverse wärmende Schlüpferstürmer intus, schon wurden die stummsten Fische plötzlich leutselig und schunkelten ausgelassen mit wildfremden Leuten, die sie sonst nicht mal gegrüßt hätten.

„Von mir aus“, dachte Lina, „sollten sie doch alle machen, was sie wollen. Auf Heucheleien oder Bierseligkeiten mit Fremden habe ich ganz bestimmt keine Lust. Da lache ich lieber mein Spiegelbild an, so wie es das Apothekenmagazin empfohlen hat. Und mache zur Abwechslung mal ein richtig langes Gesicht an Fasching. Ich gehe einfach als Miesepetra.“ Doch diese Rolle lag ihr nicht. Nicht mal an Fasching. Aber der war für sie ja sowieso gehalten. Morgen ging es hoch nach Hamburg und ihren Jan besuchen. Überraschung!!!

Die Kasseler Berge waren in ihren Gedanken schon zum Greifen nah. Und ein gewisser Duft von Fischbrötchen lag auch in der Luft…

Der Van Gogh vom Keltenberg

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