Читать книгу Luisas Chance - Carola Wegerle - Страница 5

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Sie hebt einen Fladen Pferdemist nach dem anderen auf eine Schubkarre. Dreimal in der Woche macht sie das am Nachmittag. Sie ekelt sich kein bisschen. Im Gegenteil, sie liebt den Geruch von Pferdeschweiß, Mist, Heu und Stroh. Geübt hantiert sie mit der Mistgabel und arbeitet sich Box um Box voran. Die meisten Pferde sind draußen auf der Weide. Es ist still im Stall. Nur die frischgebackene Mutterstute steht im frischen Stroh und säugt ihr schwarzglänzendes Fohlen. Luisa wäre gern bei der Geburt dabei gewesen. Ob sie Tierärztin werden soll? Das ist sicher ein schöner Beruf, denkt sie. Doch dann fällt ihr Johanna wieder ein. Die möchte sie später unbedingt spielen. So eine starke Frau!

„Mir nach! Auf nach Orleáns!“, ruft sie und reckt die Mistgabel in den Himmel, weil ihr die Fahne fehlt.

„Die Duse mit der Mistgabel“, lacht jemand. Die Stimme kennt sie. Wie peinlich. Da steht er auch schon vor der Box und grinst bis über beide Ohren. Luisa wird rot.

„Tag, Daniel“, sagt sie und ärgert sich, weil sie spürt, dass sie rot geworden ist. Daniel ist der Sohn von Herrn Hauser, dem der Reitstall gehört, und schon ziemlich alt: er ist sechzehn.

„Was ist eine Duse?“, fragt Luisa ihn, als er in die Box gegenüber geht, wo das Fohlen jetzt ungeduldig seine Beine hebt. Behutsam nimmt Daniel einen Fuß des Pferdekinds nach dem anderen in seine Hände. Er prüft, ob es gesund ist. Und gewöhnt es dabei an seine Hände. Luisa gefällt, wie er mit Pferden umgeht.

„Die Duse“, sagt Daniel. „Eleonora Duse war eine große

Schauspielerin. Vor hundert Jahren oder so. Sie war damals ein Star.“

Luisa staunt. Woher weiß er das?

Daniel hat einen Frosch im Hals. Er räuspert sich umständlich, während er der Mutterstute Melasse mit Vitaminen vor die Nase hält. „Meine Mutter guckt ARTE“, es klingt fast entschuldigend, findet Luisa, „und wenn Erdnüsse auf dem Tisch stehen, diese scharfen, kennst du die? Dann guck‘ ich mit. So lange, bis sie weg sind. Die Nüsse.“ Mit sehr viel Schwung wirft er der Stute eine Decke über.

„Eleonora Duse“, wiederholt Luisa ehrfürchtig. Morgen wird sie die Bücherei durchstöbern, um alles über diese Frau zu erfahren. Bilder will sie sehen, wissen, wie sie gelebt hat. Schade, dass sie die Stimme nicht mehr hören kann. Früher war die Stimme das wichtigste für eine Schauspielerin. Sie riefen nämlich ihren Text, sangen ihn beinah. Heute würde jeder finden, dass das übertrieben und unnatürlich klingt. Aber damals hat es den Leuten gefallen. Vielleicht sollte ich Stimmübungen machen, überlegt Luisa. Daran hat sie noch gar nicht gedacht. Aber sie singt sehr gern, fällt ihr dann ein. Ob das genügt?

Sie schwingt den letzten Fladen Pferdemist auf die volle Schubkarre und stellt die Mistgabel in die Ecke, damit sie sich ausruhen kann. Die Mistgabel. Luisa ist nicht müde.

„Fertig“, sagt sie zu Daniel, der jetzt im Stroh kniet und von unten über den Bauch der Mutterstute streicht. Ganz langsam macht er das. Vorsichtig hält Luisa dem Fohlen ihre Hand hin, damit es sich an ihren Geruch gewöhnt. Neugierig schnüffelt es daran.

„Es mag dich“, stellt Daniel fest. Dass er Pferde ebenso liebt

wie Luisa, kann jeder sehen, denkt sie.

„Darf ich Racker reiten?“

Daniel nickt. „Klar. Der freut sich auf dich, hat er mir heute Morgen erzählt.“

Luisa lacht. Warum ist ihr gerade so warm geworden? Und so leicht … Fast hüpft sie, als sie Rackers Sattel und Zaumzeug aus der Kammer holt und damit auf die Weide stürmt.

„Racker!“

Das Pferd mit dem fuchsbraunen Fell hat sie schon gewittert. Es trabt auf sie zu und schnaubt aufgeregt, als es vor ihr steht. Glücklich streichelt Luisa seinen Hals und seine Nüstern, die sich anfühlen, als wären sie aus Samt, und Racker stupst sie an die Wange. Brav lässt er sich von Luisa satteln.

Dann fliegen die beiden über die Wiesen. Luisa jubelt, als Racker über einen kleinen Bach springt. Sie sitzt dabei sehr sicher im Sattel. Wie schnell sie reiten gelernt hat, freut sie sich und denkt dabei an Johanna, die Jungfrau von Orléans. Die konnte überhaupt nicht reiten, aber sie hat sich einfach aufs Pferd gesetzt.

Weiter oben am Bach machen sie Rast. Das ist Luisas Lieblingsplatz. Eine alte Weide lässt dort ihre Äste tief über den Bach hängen, weiches Moos bedeckt das Ufer. Daneben wächst ein Strauch mit blassgrünen Blättern, an dem Racker gern knabbert, und er hat noch nie Bauchweh davon bekommen. Also lässt sie ihn knabbern.

„Ach Racker“, seufzt sie, „es gibt keine Theater-AG.“ Das Pferd blickt sie aufmerksam an. „Und ich möchte doch so gern spielen!“, vertraut sie ihm an. Racker schnaubt, und der Bach gluckert tröstend. Luisa streckt sich auf dem Moos aus und blickt in den Himmel, der durch die Äste der Weide schimmert und eingerahmt vom Grün ganz besonders blau aussieht. Wenn sie draußen in der Natur ist, fühlt sie sich immer gut, selbst, wenn sie mal sehr traurig ist oder sich über jemanden geärgert hat. Sie mag es, wie der Wind in den Blättern spielt. Die erzählen dann überraschend viel, aus ihrem Baum-Leben, von den Tieren, den Menschen und der Welt. Luisa ist ziemlich sicher, dass auch Elfen und Gnome im Wald wohnen. Natürlich darf sie das in der Schule nicht erwähnen, auch nicht Verena gegenüber, die würden sie sonst alle für durchgeknallt halten. Es bleibt ihr Geheimnis. Sie lächelt und hört den leisen Geschichten der Blätter zu, während Racker sich den Bauch vollschlägt. „M-hm“, sagt sie manchmal und

„Ach je“ und „Na sowas!“ und „Das finde ich auch.“

Plötzlich fährt sie auf. Schritte! War sie eingedöst? Sie sind schon ganz nah. Luisa rollt sich auf alle Viere und greift nach einem Ast, der im Moos liegt. Sie hält den Atem an: Jemand biegt die Zweige des Strauchs auseinander, in den Racker seinen Kopf gesteckt hat. Der schnaubt empört. Tolles Wachpferd, denkt Luisa und umklammert den Ast fester.

„Luisa!“, sagt eine Stimme erstaunt, und der Stimme folgt ein Gesicht. Daniel! Erleichtert atmet Luisa aus.

„Du kennst den Platz also auch“, staunt er und lässt sich neben ihr ins Moos fallen. So unauffällig wie möglich versucht Luisa, ihre Hände von ihrer hölzernen Waffe zu lösen. Ihre Knöchel sind ganz weiß geworden, so fest hielt sie den Ast umklammert.

„Hab‘ ich dich erschreckt?“, fragt Daniel und blickt auf den Ast. Ist das peinlich, denkt Luisa und versteckt ihre verräterischen Knöchel hinter dem Rücken. Daniel guckt erschrocken.

„Entschuldige, ich wollte nicht – “

„Nö, gar nicht“, kichert Luisa. „Wie kommst du denn da drauf?“ Oh Gott, stöhnt sie innerlich, was redet sie denn da? Und warum kichert sie so schwachsinnig? Bevor sie wieder rot wird, muss sie was tun. Sie steht auf und klopft Racker auf den Rücken.

„Wo ist Felissa?“, fragt sie, um von sich abzulenken. Felissa ist Daniels braune Stute.

„Mampft den Löwenzahn auf der kleinen Wiese dort drüben“, lächelt Daniel, der sofort begriffen hat, dass sie vor ihm flüchtet. „Ich bin lieber allein, wenn ich mich ein bisschen mit den Bäumen und dem Bach unterhalten will.“

„Du machst das auch?“, fragt Luisa perplex. Ihr Herz klopft Galopp. Oder sagt er das nur, damit es ihr nicht so peinlich ist? Es hat ein bisschen wie ein Scherz geklungen … Aber eigentlich ist das vollkommen egal, Daniel ist auf jeden Fall sehr, sehr … Nun, sie mag ihn. Sie mag ihn sogar sehr. Warum ist ihr das im Reitstall noch nie aufgefallen? Sie schluckt. Ihr Mund ist ganz trocken, und ihr Kopf fühlt sich so heiß an wie ein Lagerfeuer. Plötzlich spürt sie, dass sie Brüste hat. Schnell dreht sie Daniel den Rücken zu.

Ob er etwas gemerkt hat, weiß sie nicht. Ruhig fährt er fort:

„Das hab‘ ich mir wohl bei den Pferden so angewöhnt. Ich spreche immer mit ihnen. Beim Ausreiten bin ich viel in der Natur, allein, und da hab‘ ich entdeckt, dass Bäume und Steine und sogar der Bach reden. Ist doch eigentlich klar, oder?“

„Glaubst du, dass Bäume eine Seele haben?“, überlegt Luisa.

„Bestimmt haben sie eine Seele“, erwidert Daniel nachdenklich.

Jemand, mit dem sie reden kann! Jemand, der nicht über so etwas lacht … Luisa blickt ihn mit großen Augen an. Doch dann richtet sie sich nervös auf. „Ich muss zurück! Ich hab‘ nur für eine Stunde ausgemistet, und Herr Hauser – “

„Ist mein Vater. Und heute nicht da. Wir reiten jetzt erst- mal“, sagt Daniel bestimmt und steht auf. Luisa blickt ihn unsicher an.

„Ich nehme das mit der Uhrzeit nicht so genau“, beruhigt er sie.

Glücklich lässt sich Luisa den Wind durch die verschwitzten Haare wehen. Sie reiten über Felder und einen Hang hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, sie entdecken eine Schafherde, und immer sind sie genau im gleichen Rhythmus. Sie traben gleichzeitig und galoppieren gleichzeitig und lassen die Pferde im Schritt über Felsen klettern. Die ganze Zeit hüpft etwas in ihr, hinter ihren Rippen und im Bauch, und das fühlt sich gut an. Neu. Aufregend.

Als sie am Abend nach Hause kommt, ist der Schmerz darüber, dass die Theatergruppe nicht stattfindet, zu einem sanften Ziehen im Magen geworden.

„Und wenn wir zu zweit Theater spielen?“, versucht Luisa am nächsten Morgen zwischen Bio und Mathe ihre Freundin zu überreden. Sie weiß, dass Verena keine der beiden anderen Schülerinnen war, die sich zur Theatergruppe angemeldet haben. „Wir könnten Maria Stuart und Elisabeth spielen, das ist Wahnsinn, wie die miteinander reden, oder Olivia und Viola in Was ihr wollt von Shakespeare, das ist sehr lustig, weil Olivia denkt, Viola wäre ein Mann und sie verliebt sich – “

„Luisa! Ich bin’s, deine Freundin Verena, das größte Untalent, wenn es ums Spielen geht“, lacht Verena, „ich kann mir nicht einen einzigen Satz merken, und in meiner Freizeit lese ich Speed-Champions und On the Road.“

Luisa hat nichts anderes erwartet, wenn sie ehrlich ist. Sie hat es sich nur so sehr gewünscht. Nein, Verena ist wirklich nicht die richtige Spielpartnerin. Luisa würde verzweifeln, wenn die Freundin den Text nicht behielt und ihn ablas und das so steif, dass man nicht mit ihr spielen konnte. Richtig spielen, mit dem Herzen und ganz echt.

Später blättert sie in einem Buch über Eleonora Duse. In der Bücherei hat sie einige Bände über diese große Schauspielerin gefunden, sogar einen mit Fotos. Die blickt sie jetzt sehnsüchtig an. Theater! Was für eine aufregende, geheimnisvolle Welt! Wenn sie doch nur ein Teil davon sein könnte! Nur einmal, ein einziges Mal, damit sie spüren kann, wie sich das anfühlt.

Auf der Bühne stehen …

Luisas Chance

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