Читать книгу Ardantica - Carolin A. Steinert - Страница 8

Unerwarteter Besuch

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Majik«, schrie Leyla panisch. »Sie verschwinden!«

Sie wandte sich ruckartig nach links und rannte so schnell sie konnte über die grüne Wiese. Ihre Lunge brannte und ihr Herzschlag wummerte in ihrem Ohr.

Sie musste den nächsten Riss erreichen, bevor es zu spät war. Immer kleiner und unauffälliger wurde das schwarze Flackern – und mit jedem Schritt, den sie tat, schien es sich weiter zu entfernen.

Verzweiflung stieg in ihr auf. Das durfte nicht sein. Die Übergänge konnten doch nicht einer nach dem ­anderen verblassen. Wie sollte sie wieder nach ­Naurénya kommen?

Hektisch sah sie sich um, bis sie aus den Augenwinkeln ein weiteres Flackern wahrnahm. Sofort lief sie darauf zu. Doch sie wusste instinktiv, dass sie den Riss niemals rechtzeitig erreichen würde.

»Nein!« Sie beschleunigte ihre Schritte noch einmal.

Für einen winzigen Augenblick schien es so, als würden die Grenzen zwischen den Welten durchsichtig werden. Verschwommen konnte sie Pan und Theodor erkennen, die wie erstarrt auf der anderen Seite ­standen. Ein mächtiger Schatten tauchte hinter ihnen auf.

»Passt auf!«, brüllte Leyla, doch sie konnten sie nicht hören. Der Übergang schloss sich und Leyla blieb zurück.

Vor ihr lag die Wiese des Parks der Universität Potsdam.

Kälte umklammerte ihr Herz.

Nein, nein, nein! Bestürzt grub sie die Finger in ihr rotes Haar, als sie plötzlich von hinten gepackt wurde.

»Es ist zu spät, Kleines«, flüsterte Majik in ihr Ohr.

»Lass mich los«, keuchte sie und schlug um sich. So leicht würde sie nicht aufgeben.

Ihre Hand traf etwas Hartes und ein fieser Schmerz zuckte durch ihren Arm. Sie stieß einen Schrei aus und riss die Augen auf.

Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, dass sie in ihrem alten Kinderzimmer in Ilmenau lag. Gequält stöhnte sie auf, drehte sich zur Seite und vergrub ihr Gesicht in dem dicken Kissen.

Nicht schon wieder! Wie oft würde sie so etwas noch träumen? Das war ja kaum auszuhalten. Wenn sie nur wüsste, was in Naurénya los war – wie es allen ging. Dann müsste sie sich darüber nicht ständig Gedanken machen.

Das Schlimmste war, dass sie mehr oder weniger selbst die Schuld an ihrem Unwissen trug. Sie hatte die Sigda, den Königsrat, um Bedenkzeit gebeten und war nach der Versammlung im Rathum geradezu in ihre nicht-magische Welt geflüchtet, um die ganzen Ereignisse zu verarbeiten. Der Kampf gegen Kroaas Ta‘ Vennin alias der Obsidian, die Erkenntnis, dass sie eine Ardantica war und damit Anspruch auf den Thron der magischen Welt hatte: Das alles war etwas viel gewesen.

Sie hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sich die Übergänge an der Universität in kürzester Zeit schlossen und sie hier zurückblieb. Genauso wenig ­hatte sie erwartet, dass selbst nach fünf Monaten immer noch niemand Kontakt mit ihr aufgenommen hatte, um mit ihr über mögliche Entscheidungen zu reden.

Sie seufzte, versuchte, die Bilder des Traumes und die Erinnerungen an ihre letzten Tage in Naurénya aus dem Kopf zu verbannen und setzte sich endlich auf. Helles Licht fiel durch ihr Fenster. Himmel, wie spät war es denn?

Sie griff nach ihrem Handy und sofort blitzte ihr eine neue Nachricht entgegen.

›Schau mal, Emma hat Fotos von unserem Ausflug nach Neuruppin geschickt‹, hatte Majik geschrieben.

Prompt verzog Leyla das Gesicht.

Emma. Das Mädel pappte hartnäckiger an Majik als Sekundenkleber. Gut, dass Leyla wenigstens hier in der Heimat ein wenig Ruhe vor ihr hatte. Sie wischte die Nachricht zur Seite und stellte entsetzt fest, dass es fast zehn Uhr war.

Behände sprang sie aus dem Bett, lief ins Badezimmer und nur wenige Minuten später sauste sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.

»Guten Morgen, mein Schatz. Ausgeschlafen? Du kommst genau richtig zum Frühstück«, begrüßte ihr Vater sie lächelnd.

Sie verzog kurz das Gesicht, nickte aber.

»Ist Shara schon wach?«, wollte sie wissen.

»Deine Schwester wird heute sieben. Was denkst du denn, wie lange ein kleines Mädchen an seinem Geburtstag schläft?«, rief ihre Mutter aus der Küche und der tadelnde Unterton entging Leyla keineswegs. »Wolltest du mir nicht ein wenig bei den Vorbe­reitungen helfen?«

»Tut mir leid«, entgegnete Leyla zerknirscht. »Kann ich noch irgendetwas tun?«

»Außer Kerzen anzünden ist nicht mehr viel übrig.«

»Na, das sollte ich doch hinkriegen.« Vorsichtig ­lächelte Leyla ihre Mutter an. Die seufzte ein wenig resig­niert, reichte ihr dann aber das Feuerzeug und ­widmete sich wieder der finalen Dekoration der ­Kuchen, die es für Shara und ihre Gäste zum Kaffee geben würde.

Bewaffnet mit dem Anzünder ging Leyla ins Wohnzimmer, wo nicht nur ein reich gedeckter Frühstückstisch stand, sondern auch ihre kleine ­Schwester hockte – inmitten eines großen Haufens aus Geschenk­papier.

»Na, du Zwerg«, rief Leyla bemüht fröhlich und Shara sprang sofort auf.

»Das ist so cool!«, rief sie und wedelte dabei mit dem Mosaik-Bastelset, das Leyla schon gestern Abend auf den Geburtstagstisch gelegt hatte.

»Hey, konntest du mit dem Auspacken nicht warten?«

»Du schläfst immer so lange«, verteidigte sich das kleine Mädchen und umarmte Leyla.

»Na gut, heute sei dir verziehen. Alles Gute zum Geburtstag, Zwerg.«

»Danke! Glaubst du, Elli wird …«

»Shara, welche Streusel sollen auf die Muffins?«, tönte es da aus der Küche.

Sofort legte Shara das Bastelset zur Seite und rannte an Leyla vorbei in die Küche.

»Nicht die gelben!«, krähte sie dabei fast panisch.

Leyla unterdrückte ein Grinsen, schob das Papier ein wenig zur Seite, stapelte die Geschenke, sodass es im Zimmer wieder halbwegs ordentlich aussah und wandte sich dann den Kerzen zu. Auf einer ­schwarzen Schieferplatte hatte ihr Vater mit Teelichtern eine ­große Sieben gelegt. Leyla knipste das Feuerzeug an, beugte sich vor … und zögerte.

Sie benötigte kein Feuerzeug. Sie konnte das mit ihrer Magie bewerkstelligen. Ein freudiges Kribbeln machte sich in ihrer Brust breit. Zwar war die Kraft immer noch neu für sie, doch mit jedem Tag fühlte sie sich mehr mit ihr verbunden. Sie konnte der Benutzung einfach nicht widerstehen – auch wenn Elementmagie in ihrer Welt absolut verboten war.

Sie biss sich beschämt auf die Lippen. Ganz entgegen ihrer Art hatte sie sich über dieses Verbot schon mehrmals hinweggesetzt, um heimlich zu üben. Und ihr war klar, dass sie das auch weiterhin tun würde.

Vorsichtig sah sie über ihre Schulter. Das Wohn­zimmer war leer. Wenn nicht jetzt, wann dann? Sie brauchte ja nur einen kleinen unauffälligen Feuer­funken. Ganz behutsam zupfte sie an ihrer Magieader, streckte die Hand aus und …

»Du musst schon den Anzünder nutzen«, lachte ihr Vater hinter ihr. »Nur mit Handwärme wirst du sie nicht anbekommen.«

Sie zuckte zusammen und starrte ihn entsetzt an.

»Überrascht über diese Information?«, witzelte er.

»Ähm. Ja. Ich dachte, du machst es immer so«, versuchte sie, auf den Scherz einzugehen.

Ihr Gesicht wurde heiß. Er hätte es beinahe ge­sehen! Wie war sie nur auf die dumme Idee gekommen, das hier unten auszuprobieren? Rasch zündete sie die ­Kerzen mit dem Feuerzeug an – doch der Ärger über ihre eigene Unvorsichtigkeit verflog nicht.

Schweigend saß sie deshalb wenig später am Tisch, während Shara lautstark berichtete, wer von ihren Freunden heute Nachmittag alles kommen würde, um mit ihr zu feiern.

»Wir machen doch Topfschlagen, oder, Mama?«, wollte sie wissen.

»Sicher.«

»Und Schminken?«

»Das übernimmt deine Schwester«, erklärte ihre ­Mutter und warf Leyla dabei einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Ich habe es nicht vergessen«, grummelte sie wenig begeistert. »Ich muss mir nur noch ein paar Vorlagen herunterladen. Ach, und Andy kommt nachher vorbei, um ein wenig zu helfen.«

»Wie schön.«

Dem konnte Leyla nur zustimmen. Sie war sich absolut sicher, dass sie die seelische und moralische Unterstützung ihrer Freundin heute Nachmittag noch brauchen würde.

›Download bei 97 Prozent, 3 Minuten verbleibend‹, zeigte das kleine Dialogfenster an, das jetzt schon seit geraumer Zeit auf dem alten Laptop zu sehen war.

Ungeduldig trommelte Leyla mit den Fingern auf der Abdeckung herum, woraufhin der Laptop ein schnaufendes Geräusch von sich gab. Er benahm sich gerade, als sollte er die KI für künftige Robotersysteme allein entwickeln. Dabei wollte sie doch nur diese dämliche Schminkanleitung herunterladen und ausdrucken.

Von unten drang bereits Kindergeschrei zu ihr ­hinauf. Seit etwa einer Stunde tobten Shara und ihre Freunde durch das Erdgeschoss, und dem Geräusch­pegel nach zerlegten sie dabei die halbe Einrichtung. Das konnte nachher ja heiter werden …

›Download bei 99 Prozent, 2 Minuten verbleibend‹.

Leyla knurrte leise. Das Gerät strapazierte ihre ­Nerven geradezu mutwillig.

Ein Kreischen ließ sie zusammenzucken, doch ihm folgte lautes Lachen und ein sonderbares Klopfen. Kurz darauf klingelte es zum wiederholten Mal an der Haustür. Leyla hoffte inständig, dass es Andrea war. Sie ­spitzte die Ohren, und als sie leise Schritte auf der ­Treppe vernahm, huschte ein Lächeln über ihre Lippen.

Jemand klopfte vorsichtig an ihre Zimmertür.

»Komm rein«, rief Leyla und fügte nach einem Blick auf die Desktopuhr neckend hinzu: »Du musst krank sein, Andy. Ich glaube, es ist das erste Mal seit mindestens fünf Jahren, dass du pünktlich bist. Bist du so heiß auf Kuchen?« Schwungvoll drehte sie sich auf ihrem Stuhl um. Ein Keuchen entwich ihren Lippen und ihr Herz machte einen heftigen Satz.

»Ich wusste nicht, dass es Kuchen gibt. Und im Allgemeinen bin ich immer pünktlich.«

Sie erwiderte nichts. Blut rauschte in ihren Ohren und ihr Puls raste plötzlich. Unfähig, irgendetwas zu sagen, starrte sie die Person an, die in ihrem Zimmer stand und eindeutig nicht Andrea war.

»Dein Ziehvater scheint nett zu sein. Ein bisschen laut ist es bei euch allerdings.«

Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, ver­suchte erfolglos, einen klaren Gedanken zu fassen und zu ­formulieren. Schließlich gab sie es auf und sah den ­jungen Mann einfach nur weiter vollkommen perplex an.

Er war groß, schlank, sehnig, wodurch er nicht übermäßig stark wirkte. Doch Leyla wusste aus Erfahrung, dass dieser Eindruck täuschte. Sein hellblondes Haar fiel ihm ins kantige Gesicht und seine grünen Augen blitzten fast schon … amüsiert?!

»Theo«, brachte sie endlich hervor.

Das war unmöglich. Der Gedanke allein war schon absurd, aber die Tatsache? Er konnte nicht hier sein. Sie unterdrückte den Impuls, ihn zu berühren, um festzustellen, ob sie sich seine Anwesenheit nur einbildete. Verdammt, Theodor van Raiken stand in der Tür zu ihrem Zimmer in Ilmenau!

»Was zur Hölle machst du hier?«, entfuhr es ihr.

Er zuckte die Schultern und trat nun vollends in den Raum. Leise schloss er die Tür hinter sich.

»Ich wollte mal nachsehen, wie es dir geht.«

»Na, klar. Du …« Sie brach ab, nicht sicher, ob sie laut lachen oder an seinem Geisteszustand zweifeln sollte – oder an ihrem.

Theodor begann sich derweil aufmerksam in ihrem Zimmer umzusehen. Er fasste nichts an, stand fast abwartend da, doch sie bemerkte, dass er interessiert jede Ecke inspizierte. Ein leichtes Ziehen machte sich in ihrem Magen breit. Sie wusste selbst nicht so genau, ob es Anspannung, Aufregung, Hoffnung oder Angst war. Ihr Herzschlag schien sich überhaupt nicht beruhigen zu wollen und immer noch war sie von der Situation überfordert.

Was tat er hier – und wie hatte er sie überhaupt finden können? Sie öffnete gerade den Mund, um die Fragen laut auszusprechen, doch Theodor kam ihr zuvor.

»Was ist das?«

Sie folgte seinem Blick und verzog das Gesicht, als sie das schwarze Gerät, auf das er deutete, betrachtete.

»An guten Tagen ein Drucker.«

»An guten Tagen?«

»Ja, an allen anderen ist es nur ein nerviges kleines Monster, das darauf aus ist, dir sämtliche Energie zu rauben, und versucht, all deine positiven Gedanken in Hass und Frust zu verwandeln. Diese Tage überwiegen.«

Er sah sie skeptisch an, wohl nicht sicher, was er von dieser Aussage halten sollte.

»Was macht ein Drucker?«

»Er druckt – manchmal. Das ist doch egal. Ich …« Sie merkte, dass er ihr schon gar nicht mehr zuhörte, weil seine Aufmerksamkeit nun an dem alten Fernseher hing.

»Theodor!«

»Hm?«

Er drehte sich um und schritt auf sie zu, als wollte er sich endlich ganz dem Gespräch widmen. Plötzlich stand er ganz nah vor ihr. Fast so, als wollte er sie gleich packen, um irgendwo hinzuschweben. Ihre Verwirrung musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn er zog spöttisch die Augenbrauen hoch und neigte den Kopf zu ihr runter.

»Sonderlich eloquent bist du immer noch nicht. Lernst du in deinem Studium denn nichts Vernünftiges?«

Sie funkelte ihn verärgert an. Er ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen.

»Oder liegt es an mir? Hast du mich vermisst?«

Sie setzte dazu an, ihm eine gepfefferte Antwort entgegenzuschleudern, stockte aber schon wieder. Die Wahrheit war zu ihrem eigenen Entsetzen: Ja. Sie hatte ihn vermisst. Das spürte sie jetzt allzu deutlich.

Seine Augen weiteten sich für einen winzigen ­Mo­ment, als wäre er überrascht von ihrer Reaktion. Doch nur ­einen Wimpernschlag später war seine Mimik wieder unergründlich. Sein Blick glitt über ihr Gesicht.

Prüfend? Nachdenklich? Vielleicht zählte er auch ihre Sommersprossen. Nun, damit würde er noch ein paar Tage beschäftigt sein.

Er war immer noch viel zu nah. Seine Nasenspitze berührte ihre fast. Sie konnte seinen Geruch wahr­nehmen, die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, und sie entdeckte eine kleine Narbe über der Augenbraue, die ihr bisher noch nie aufgefallen war.

»Was machst du hier?«, fragte sie endlich matt.

Er öffnete den Mund.

»Leyly!«

Die Tür wurde aufgerissen.

Leyla sprang zurück, brachte Abstand zwischen sich und Theo. Er richtete sich wieder auf.

»Oh.« Andrea blickte überrascht zwischen ihnen hin und her. »Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Ich dachte, hier wird Kindergeburtstag gefeiert und nicht einer geplant. Soll ich noch mal gehen?«

Leyla spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Andrea brachte das eindeutig zum Grinsen. Sie wickelte sich eine ihrer aktuell blau-grünen Haarsträhnen um den Finger und sah Leyla und Theodor abwartend an.

»Nein«, sagte Leyla langsam und hoffte, dass ihr Gesicht nicht so rot war, wie es sich anfühlte.

Wieso war Andrea auch zu einem Zeitpunkt hereingeplatzt, der von außen so ungünstig ausgesehen haben musste?

»Wir … Ich meine, ich …«

Andreas Grinsen wurde bei dem Gestammel nur noch breiter und Leyla verdrehte unwillkürlich die Augen. Sie konnte förmlich sehen, wie sich die Gedanken im Kopf ihrer Freundin einnisteten, und sie wusste, dass sie die da schwerlich wieder herauskriegen würde.

»Wer ist denn der Unbekannte? Willst du uns nicht vorstellen?«

Zu Leylas Überraschung ging Theodor ohne zu ­zögern auf Andrea zu und reichte ihr tatsächlich die Hand.

»Theodor.«

»Höchst erfreut. Andrea. Leute, die meiner liebsten Leyly aber so nah stehen, dürfen Andy sagen.«

»Ich bin im falschen Film.« Leyla schüttelte den Kopf.

Kurz überlegte sie, ob die Szene es wert war, ein Foto zu schießen. Der arrogante, immer gestylte Möchtegernprinz aus der magischen Parallelwelt begrüßte das Mädchen mit den bunten Haaren, dem schlabbrigen Harry-Potter-Hoodie und den Springerstiefeln.

Sie brauchte eine Sekunde, um das zu verarbeiten. Dann räusperte sie sich.

»Andy, wärst du mir böse, wenn ich dich bitte, uns doch noch mal fünf Minuten alleine zu lassen? Theo und ich müssen dringend etwas klären.«

»Gar kein Problem. Macht einfach da weiter, wo ihr aufgehört habt«, flötete Andrea.

»Und du meinst, fünf Minuten reichen uns da«, wollte Theodor mit hochgezogenen Brauen wissen.

Er schien es eindeutig zu genießen, dass sie sich in der Situation plötzlich so unwohl fühlte. Der Kommentar entlockte Andrea ein kurzes Lachen.

»Ich gebe euch auch mehr Zeit. Aber das kostet.«

»Tatsächlich? Was?«

Andrea zwinkerte verschwörerisch und Leyla wusste sofort, was sie meinte. Informationen.

»Kaffee ist fertig«, tönte es in diesem Moment von unten und rettete Leyla aus der Situation.

»Hm. Sieht so aus, als müsstet ihr euer Gespräch auf später verschieben. Ich freue mich schon den ganzen Tag auf den Kuchen deiner Ma, Leyly. Ich hoffe, deine Schwester rückt ein Stück von der herrlich bunten Einhorntorte raus, die ich unten schon erspäht habe.«

Leyla verdrehte die Augen. »Die schmeckt doch nur nach Zucker.«

»Exakt!«

Leyla unterdrückte ein Lachen und wandte sich an Theodor. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn sie das Gespräch verschob. So hatte sie die Gelegenheit, ein paar klare Gedanken zu fassen.

»Darf ich dich zum Kaffee einladen?«, fragte sie mit übertriebener Höflichkeit.

»Natürlich.«

Zielstrebig ging er auf die Tür zu. Als sie ihm folgen wollte, hielt Andrea sie kurz am Arm fest.

»Leyly! Wo hast du diesen heißen Typen aufge­gabelt? Warum weiß ich davon nichts? Und was sagt Majik dazu?«, flüsterte sie viel zu laut und Leyla ­betete innerlich, dass Theodor das nicht gehört hatte. Es ­würde ihn nicht weniger unerträglich machen.

»Später«, zischte sie nur und zog Andrea die Treppe hinunter. Gemeinsam gingen sie durch den Flur und Richtung Wohnzimmer. Leyla stieß die Tür auf und wappnete sich innerlich gegen die Lautstärke, die sofort um ein Vielfaches zunahm.

Das Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Bunte Becher waren auf dem Tisch verteilt, Malzeug und Papierfetzen lagen auf dem Boden, Unmengen von Luftballons, die ursprünglich an den Girlanden an der Decke gehangen hatten, befanden sich nun in Kinderhänden. Shara und ihre Freunde tobten durch den Raum. Fast ein wenig peinlich berührt warf Leyla einen vorsichtigen Blick auf ihre eigenen Gäste. Doch während Andrea nur lachte, verzog Theo wie immer keine Miene.

»Geht in den Wintergarten«, sagte ihre Mutter, die zwei Kuchenteller balancierend aus der Küche kam und nickte in Richtung der großen Glastüren. »Dort werden wir hoffentlich ein wenig Ruhe vor der Meute haben.«

Sie warf einen prüfenden Blick in Richtung ­Theodor und musterte das weiße Hemd und die feine, vermutlich ziemlich teure graue Hose. Fragend sah sie Leyla an.

»Ma, das ist Theodor. Theo, das ist meine Mutter Amanda«, stellte Leyla die beiden einander möglichst knapp vor.

Dabei versuchte sie, das komische Gefühl zu verdrängen, das in ihr aufstieg. Theodor ausgerechnet mit Amanda bekanntzumachen, war mehr als sonderbar. Schließlich war er es gewesen, der den Gedanken der Adoption in ihren Kopf eingepflanzt hatte – und das auch noch zu Recht.

Sie biss sich auf die Lippe. Obwohl sie sich während des vergangenen Semesters mit ihren Eltern ausge­sprochen und zudem realisiert hatte, dass sich für sie nichts ändern würde, war es immer noch komisch, ­darüber nachzudenken. Und auch wenn sie ihre Eltern nach wie vor liebte, konnte sie nicht umhin, sich seitdem zu fragen, wer ihre eigentliche – oder, wie sie es vorzog zu sagen – andere Familie war.

»Sehr erfreut«, meinte Theodor und unterbrach ­damit ihre Gedanken.

»Ebenso«, erwiderte Amanda, bevor sie sich an ­Leyla wandte. »Ich versorge nur noch schnell die ­kleinen Mäuler. Unser Kuchen ist bereits draußen. Setzt euch schon einmal.«

Leyla nickte und schob Theodor einfach vorwärts. Der Stoff seines Hemdes unter ihrer Hand war uner­wartet weich und das saubere Weiß schien in dem Durcheinander hier unten im Haus geradezu zu ­leuchten. Er ge­hörte so offensichtlich nicht hierher. Nicht in dieses Haus, nicht in diese Stadt, nicht einmal in diese Welt.

»Was willst du und wie bist du hergekommen?«, wisperte sie ihm ins Ohr.

»Später.«

Sie betraten den Wintergarten. Eigentlich war es gar kein richtiger Wintergarten, sondern die Garten­terrasse, die ihre Eltern im Winter mit Plexiglas­scheiben abtrennten. Eine kleine Heizung und zahlreiche Grünpflanzen gaben dem Ganzen aber eine gemüt­liche, warme Atmosphäre.

Leyla schloss die Fenstertür hinter sich und das Kindergeschrei wurde augenblicklich leiser. Sie wies Andrea und Theodor Plätze zu, setzte sich selbst und verfolgte stumm, wie ihr Vater Kaffee einschenkte.

»Für dich mit viel Zucker, oder, Andy?« Er schob Andrea das mintgrüne Döschen zu.

»Oh ja«, rief die und begann sofort, Unmengen ­Zucker in ihre Tasse zu schaufeln. Leyla verzog angewidert das Gesicht.

»Und für Sie?«, fragte ihr Vater an Theodor gewandt.

»Du«, sagte Leyla sofort und kniff die Augen zu­sammen. So weit kam es noch, dass ihre Eltern ­Theodor siezten.

Ihr Vater lachte.

»Da will ich einmal Anstand zeigen und du pfuschst dazwischen, Liebes.« Er zwinkerte, hob die Kanne und sah Theodor an. »Also: Für dich auch?«

Theodor zögerte.

»Gerne«, meinte er schließlich und hielt seine ­Tasse hoch.

»Mit Milch und Zucker?«

»Schwarz«, sagte Leyla, die aus Theodors Gesichtsausdruck schloss, dass er keine Ahnung hatte, was Kaffee war. Sie lächelte zuckersüß, während sie sich selbst ordentlich Milch eingoss. Dabei verfolgte sie ganz genau, wie Theodor die Tasse an die Lippen hob und vorsichtig an dem Gebräu roch und nippte. ­Seine Mundwinkel verzogen sich minimal.

Sie lachte leise, führte eine leichte Fingerbewegung vor ihren Lippen aus und sandte ihm so eine Nachricht durch die Luft, die niemand anderes hören konnte.

»Zu stark für dich?«

Er schenkte ihr nur einen kurzen Blick. Doch sie sah ein Blitzen in seinen Augen, das sie nicht deuten konnte.

»Perfekt. Danke, äh …«, sagte er an Leylas Vater gewandt.

»René.«

»Danke, René.«

Leyla schüttelte nur den Kopf, beugte sich vor und verteilte großzügige Stücke des Karotten-Walnusskuchens. Ihre Mutter trat auf die Terrasse, in der Hand einen Teller mit einem einzelnen knallbunten Kuchenstück.

»Hier, Andy.« Sie reichte Andrea den Teller. »Du hast vorhin beim Hallo-Sagen schon so auf die Torte geschielt.«

»Amanda, du bist ein Schatz!« Andreas Augen leuch­teten auf.

Leylas Mutter zwinkerte ihr zu und ließ sich auf ihren Platz fallen.

»Leyla«, sagte sie, während sie nach ihrer Kaffeetasse griff. »Magst du uns den jungen Mann an deiner Seite nicht ein wenig näher vorstellen?«

»Oh ja, bitte«, feixte Andrea.

»Ähm …« Die ehrliche Antwort wäre eindeutig Nein gewesen, aber das konnte sie ja schlecht sagen. »Das ist Theodor.«

»Ja, das wissen wir schon. Aber woher kennt ihr euch?«

Leyla wurde abwechselnd heiß und kalt. Theo ­lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und musterte sie, als wäre er ebenfalls neugierig auf ihre Antwort.

›Verdammter van Raiken‹, dachte sie. Er konnte hier doch nicht einfach auftauchen. Wieso hatten ihre ­Eltern ihn überhaupt hereingelassen? Nun, die Antwort lag auf der Hand. Bei dem Chaos, das heute herrschte, hatte ihr Vater wohl nicht lange darüber nachgedacht, ob er Theo kannte oder nicht, und ihn deshalb wohl einfach die Treppe raufgeschickt. Sie würde dringend noch einmal mit ihren Eltern reden müssen.

Andrea räusperte sich und Leyla wurde bewusst, dass alle sie anstarrten. Fieberhaft überlegte sie und begann, eine Antwort zurecht zu stottern.

»Wir kennen uns aus der Uni.«

»Ah, studierst du auch Mathe?«

»Nein. Für ein reines Mathematikstudium hätte ich mich nie entschieden. Dafür ist mein Faible für Zahlen nicht ausgeprägt genug«, entgegnete Theodor vage.

»Theo studiert eher … in Richtung … Wirtschaft und Verwaltung.«

»Auch ein recht trockenes Themengebiet, finde ich. Was willst du damit später machen?«, wollte René ­wissen und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

»Vor mir liegen ein paar administrative Aufgaben, die ich möglicherweise übernehme.«

Möglicherweise. Leylas Magen krampfte sich unangenehm zusammen. Sie wusste, was er damit sagen wollte und dass sie ein wesentlicher Faktor in ­seiner ­Zukunftsplanung war. Sollte sie für immer nach ­Naurénya gehen, würde ihr als Ardantica der Thron zustehen, nicht ihm. Der Gedanke war beängstigend. Sie wollte keinen Thron. Keine Macht.

Natürlich konnte sie das Amt auch ablehnen. Trotzdem würde sie sich dann immer noch für eine Welt entscheiden müssen. Die naurényanischen Gesetze ­waren da eindeutig. Grenzgänger wurden genauso wenig gestattet wie Magie in der nicht-magischen Welt.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Seit nunmehr fünf Monaten machte der Gedanke an die große Entscheidung sie unruhig - obwohl es ja nur eine logische Wahl gab. Sie konnte ihre Familie unmöglich verlassen.

Das Problem war, dass ein Teil ihres Herzens an Naurénya hing. Etwas zog sie dorthin. Sie wollte noch mehr von dem magischen Land sehen und die Magie, die durch ihre Adern floss und immer mehr zu einem Teil von ihr wurde, besser verstehen.

Sie wünschte, sie hätte mehr Zeit, die Optionen zu wälzen, ausreichend Zeit, um zum vierhundertsten Mal mit Majik zu diskutieren. Doch sie wusste, dass sie selbst dann zu keinem Ergebnis kommen würde. Das machte ihr Angst. Umso mehr, weil ihre Bedenkzeit offensichtlich ablief. Sie linste zu Theodor, der immer noch ziemlich entspannt wirkte.

»Wie geheimnisvoll«, sagte Andrea und Leyla ­wurde bewusst, dass sie sich wieder in das Gespräch ein­klinken musste.

»So geheim ist es nicht. Nur ziemlich langweilig«, bemühte sie sich, wieder ins Thema zu finden. »Theo wird wohl … das Familiengeschäft übernehmen. Auf so einem Gut ist einiges zu tun.« Sie hoffte, dass sie nicht rot wurde, während sie die Wahrheit derart bog. Sie war schon immer schlecht im Lügen gewesen.

»Ein Gut? Also tatsächlich ein Stück Land? In Berlin?«

»Nein, nein«, antwortete Leyla schnell und schob die Gedanken an eine bevorstehende Entscheidung endgültig zur Seite. Jetzt musste sie erst einmal Theos Anwesenheit plausibel erklären, dann konnte sie sich um die anderen Probleme kümmern.

»Er kommt nicht aus Berlin. Er ist … Erasmus-­Student und verbringt sein Auslandsjahr hier. Wir … wir sind uns zufällig auf dem Campus begegnet.« Sie griff nach ihrer Gabel und schaufelte sich ein ­großes Stück Kuchen in den Mund, in der Hoffnung, so ­weiteren Fragen zu entgehen. Doch Fehlanzeige.

»Tatsächlich? Woher kommst du denn?«, hakte nun Amanda interessiert nach.

Theodor sagte nichts. Belustigt sah er zu Leyla, die rasch schluckte und ihr Gehirn verzweifelt nach einem Ort durchsuchte, den sie nennen konnte. Es musste ­einer sein, von dem ihre Eltern möglichst wenig wussten. Und er sollte weit genug weg sein, damit sie nie auf die Idee kommen würden, einen Besuch vorzuschlagen. Irgendein Land, das ihre Mutter dank ihrer Flugangst nie erreichen konnte.

»Neuseeland«, stieß Leyla hervor.

»Neuseeland«, bestätigte Theodor.

»Und da habt ihr ein Stück Land, das ihr selbst beackert?« Leylas Vater schien diese Information nicht mit Theodors edlem Kleidungsstil überein bringen zu können. Er runzelte die Stirn.

Leyla prustete in ihren Kaffee. Die Vorstellung war zu herrlich.

»Nein«, brachte sie lachend hervor. »Theodors ­Familie entstammt einem alten Adelsgeschlecht. Sie beackern nicht selbst. Sie lassen ackern. Sie besitzen ein paar Ländereien.«

»Wow«, stieß Andrea aus.

Leyla zuckte mit den Schultern und tat, als wäre das nichts Besonderes.

»Ja, ganz nett. Aber lasst uns doch lieber essen. Der Kuchen schmeckt so unglaublich gut, Ma!«, versuchte sie, das Thema zu beenden.

»Das ist so spannend«, warf Andrea ein, ohne auf Leyla zu achten. »Wieso hat es dich denn hierher verschlagen?«

Leyla war klar, dass ihre Freundin nicht Ilmenau, sondern Deutschland an sich meinte. Sie legte sich im Kopf rasch eine weitere Geschichte zurecht, doch ­dieses Mal kam Theodor ihr zuvor.

»Hierher?«, fragte er. »Also, jetzt gerade bin ich ­genau hier, um Leyla zu fragen, ob sie mit mir wieder zurück nach Neuseeland kommen möchte.«

Kurz herrschte Stille am Tisch. Leyla starrte ihn an.

»Wieder zurück?«, echote Amanda schließlich.

Leyla fluchte innerlich.

»Ich, äh«, stammelte sie und warf einen bitter­bösen Blick in Richtung Theodor, der diesen ge­flissentlich ignorierte.

»Leyla?«, fragte ihre Mutter erneut.

Leyla seufzte. Da kam sie jetzt ohnehin nicht mehr raus.

»Ja, ich war schon bei Theo zu Hause«, gab sie verlegen zu.

Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter hätte nicht fassungsloser sein können. Leyla war klar, dass sie ihren Eltern eigentlich keine Rechenschaft ­schuldig war. Sie war schließlich zwanzig und traf ihre ­eigenen Entscheidungen. Aber ihre Eltern waren es gewohnt, dass sie ihnen fast alles erzählte. So war es immer ­gewesen – zumindest vor Naurénya. Sie ­würde sich also erklären müssen. Aber nicht vor Theo und ­Andrea.

»Ich glaube, der Kaffee ist alle.« Sie schwenkte die noch halbvolle Kanne. »Ich geh mal neuen kochen. Wo hast du die Bohnen jetzt hin geräumt?«

Ihre Mutter erhob sich fast mechanisch und verschwand wortlos im Haus. Leyla folgte ihr bis in die Küche.

»Neuseeland?«, fragte Amanda, kaum dass sie allein waren. »Du warst in Neuseeland?«

»Ja«, sagte Leyla zerknirscht. »Deshalb war ich auch so lange nicht erreichbar. Theos Familie wohnt nicht in der Stadt. Es gibt dort keinen Handyempfang. Es tut mir leid, dass ich nicht Bescheid gesagt habe. Aber nach alledem, was passiert ist … Ich musste einfach weg.«

»Und da fliegst du mit einem fremden Kerl ans andere Ende der Welt?«

»Es war schlichtweg zu viel für mich. Und mein Gefühl hat mir gesagt, dass es richtig wäre.«

»Zu viel? Aber dann redet man doch mal mit­einander! Hast du eine Ahnung, was wir durchgemacht haben, nachdem du hier weg bist? Das Adoptions­thema nicht richtig geklärt, du nicht mehr erreichbar.«

Leyla schwieg. Sie wollte sich nicht noch weiter in Lügen verstricken.

»Woher hattest du überhaupt das Geld für den Flug?«, wechselte Amanda das Thema.

»Von Theo«, log Leyla nun doch wieder, denn für ihre Reise nach Naurénya hatte sie ja kein Geld gebraucht. »Seine Familie ist ziemlich reich.« Zumindest das entsprach wieder der Wahrheit.

Ihre Mutter legte den Zeigefinger an die Nase, wie immer, wenn sie überaus skeptisch war.

»Glaubst du denn, er ist der Richtige für dich?«

»Was?«, fragte Leyla entgeistert. Die Gedanken ihrer Mutter gingen eindeutig in die falsche Richtung.

»Ich bin gerne dort«, umschiffte sie die Antwort.

»Ich will dir da auch nicht reinreden. Ich kenne ihn kaum. Aber er wirkt ein wenig … distanziert.«

Lautes Geschrei und plötzliches Weinen unter­brachen das Gespräch. Leyla und ihre Mutter ­tauschten einen Blick, dann stürmten sie aus der Küche und ins Wohnzimmer. Zwei der Mädchen saßen auf dem ­Boden. Eines von ihnen wirkte bockig, dem anderen liefen die Tränen über das Gesicht.

»Was ist passiert?«, wollte Amanda alarmiert wissen.

»Lilli hat sich den blauen Becher genommen, obwohl das doch eigentlich der von Nina war«, erklärte Shara sofort.

Leyla schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und gab sich Mühe, nicht zu lachen.

»Noch lachst du. Warte, bis du mit der Aufsicht dran bist«, drohte Amanda scherzhaft. »Gleich steht Schminken auf dem Programm.«

Sofort hörte das Mädchen auf zu weinen. »Schminken?«

»Ja! Schminken! Schminken«, krähten Shara und Elli im Chor. »Können wir damit anfangen? Jetzt? Bitte!«

Leyla sah ihre Mutter vorwurfsvoll an. Die kicherte leise, wandte sich dann aber mit neutraler Miene an die Kinder.

»Shara, deine Schwester hat ihren Kuchen noch gar nicht aufgegessen. Sobald sie fertig ist, könnt ihr mit dem Schminken loslegen.«

»Och«, murrte das kleine Mädchen und machte einen Schmollmund. »Das kann ja noch ewig dauern.«

»Schon gut. Wir können gleich starten«, erklärte Leyla und erntete damit Jubelrufe.

Sie warf einen Blick in Richtung Terrasse. Andrea, die das Gespräch durch die offene Tür mitbekommen haben musste, nickte zustimmend, erhob sich und kam herein. Theodor folgte ihrem Beispiel.

Leyla biss sich auf die Lippe. Sie hielt es kaum noch aus, nicht zu wissen, was sein wirkliches Anliegen war. Sicher war er nicht aus Sehnsucht zu ihr hierherge­kommen. Warum wollte er, dass sie mit ihm zurück nach Naurénya kam?

»Andy, ich stehe schon tief in deiner Schuld, weil du mich heute überhaupt unterstützt. Aber gibst du mir jetzt noch die fünf Minuten, die du mir eben versprochen hast?«, raunte sie ihrer Freundin deshalb zu.

»Damit du endlich mit deinem Märchenprinzen ­allein sein kannst?«

»Oh, glaub mir, er ist kein Märchen… äh …«

»Dir ist schon klar, dass ich stinksauer bin, oder? Wieso weiß ich nichts von ihm?«

»Weil es nichts zu erzählen gibt.«

Andrea verzog ungläubig das Gesicht. »Jetzt verschwinde endlich.«

»Danke!«

Leyla drehte sich zu Theodor um und gab ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er ihr wieder nach oben folgen sollte.

In ihrem Zimmer angekommen, verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah ihn abwartend an.

»Du siehst ihnen schon ähnlich«, stellte er fest. »Kein Wunder, dass du nicht bemerkt hast, dass …«

»Bist du eigentlich bescheuert?«, unterbrach sie ihn. »Noch nie in meinem ganzen Leben musste ich meine Eltern derart anlügen.«

»Was hast du ihnen denn bisher erzählt, um deine Abwesenheit zu erklären?«

»Gar nichts. Ich habe nur gesagt, dass ich Zeit brauchte, und wir hatten ohnehin genug anderes zu klären. Davon abgesehen … Verdammt, Theodor! Was soll das?«

»Was meinst du?«

Er wusste ganz genau, was sie meinte, doch sie half ihm nur zu gerne noch einmal auf die Sprünge.

»Ich bin bereit, mit meinem Wissen und Können dem Land zu helfen. Als König. Als Unterstützer. An der Seite der Ardantica«, äffte sie die letzten Worte nach, die er in ihrer Gegenwart gesprochen hatte. »Und danach bist du wie vom Erdboden verschwunden, gibst mir keine Erklärung, nichts, meldest dich fünf Monate nicht und stehst dann plötzlich in meinem alten Kinderzimmer in Ilmenau?«

»Habe ich das tatsächlich genauso gesagt?«

Sie gab einen Laut von sich, der einem verzweifelten Knurren glich.

»Davon abgesehen bin ich nicht einfach ver­schwunden. Es gab einiges zu regeln und du bist kopfüber in deine Welt geflüchtet.«

»Das ist nicht der Punkt.«

»Nicht?«, fragte er gelassen.

Sie holte tief Luft. »Was willst du hier?«

»Das sagte ich bereits. Ich wollte dich fragen, ob du mit mir mitkommen willst. Natürlich nicht nach Neuseeland, sondern nach Naurénya.«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, doch an seiner lässigen Haltung änderte sich nichts.

»Wieso?«, fragte sie leise.

»Ich dachte, vielleicht möchtest du wissen, wer deine Eltern sind. Also, deine biologischen. Wo deine Wurzeln liegen. Na, du weißt schon.«

»Was?« Vollkommen überrascht starrte sie ihn an. »Du … Wie …«

»Überlege es dir. Ich habe für kurze Zeit einen Übergang arrangiert. Er wird nicht lange offen sein.«

»Warte. Du hast was?«

»Ich bin der Thronverwalter. Nun ja, gewisser­maßen zusammen mit meinem Vater. Der Punkt ist: Ich kann so etwas bestimmen.«

»Du willst mir helfen, meine Wurzeln zu er­forschen?«

»Was überrascht dich daran?«, fragte er und in ­seinen Augen lag plötzlich ein ganz untypisches Funkeln.

Bevor sie antworten konnte, erklangen Schritte auf der Treppe.

»Leyla«, rief ihre Mutter. »Andy schminkt da unten ja wohl gerade nicht allein die Kinder?«

»Nein, nein. Ich habe nur noch die Vorlagen geholt, bin schon auf dem Weg«, rief sie hastig. »Und du kommst mit runter«, fügte sie an Theodor gerichtet hinzu.

»Hast du Angst, dass ich deine Sachen durchstöbere und dunkle Geheimnisse aufdecke?«

»Ich fürchte, dass du meine Sachen kaputt machst, weil du nicht weißt, was das alles ist, und versuchst, es auszuprobieren.«

Er schnaubte missbilligend. »Man durchsucht keine fremden Sachen. Ich habe einen gewissen Anstand.«

»Der geht dir nur leider immer ausgerechnet in ­meiner Gegenwart verloren«, konterte sie.

Noch während sie sprach, lief sie zu ihrem Drucker, in dem tatsächlich die Schminkanleitungen lagen, die sie vorhin heruntergeladen hatte. Sie griff danach, dann sauste sie an Theodor vorbei und die Treppe hinunter.

Nachdem die Kinder endlich wieder abgeholt worden waren, begann Leyla das Wohnzimmer aufzuräumen. Shara hatte sich mit ihren Geschenken verkrümelt und wo Theo war, wusste Leyla überhaupt nicht. Vermutlich mit ihrem Vater im Atelier.

Sie warf die restliche Zeitung, die von einem Spiel übriggeblieben war, in einen Karton, dann sammelte sie die Becher der kleinen Geburtstagsgäste ein.

»Danke für deine Hilfe, Andy. Ich schulde dir was«, sagte sie.

»Ach Quatsch. War doch witzig.«

»Ein bisschen«, gab Leyla lachend zu. »Aber ­dieses Chaos … Ich bring die hier mal in die Küche.« Sie deutete auf den Stapel Becher in ihrer Hand und ­wandte sich um. Obwohl die Küchentür geschlossen war, konnte sie den herrlichen Duft von Rosmarin wahrnehmen, der durch das Haus strömte und von ­einem verlockenden Brutzeln begleitet wurde. Mit dem Ellenbogen drückte sie die Klinke herunter und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Dann riss sie die Augen auf.

»Was ist hier los?«, rief sie überrascht.

»Essen ist gleich fertig«, verkündete ihr Vater, doch Leyla sah an ihm vorbei.

Theodor stand in der Küche. Offensichtlich war ihm warm, denn er hatte die ersten drei Knöpfe seines Hemdes geöffnet und die Ärmel hochgekrempelt. Ein Handtuch hing über seiner Schulter und er war gerade dabei, das Geschirr zusammenzustellen.

Leyla bemühte sich, das leichte Ziehen in ihrem Magen, das sie bei diesem Anblick überkam, zu ignorieren. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief ein.

»Was machst du hier?«, stammelte sie, immer noch nicht sicher, ob sie das, was sie gerade sah, wirklich erlebte.

»Theo hat mir beim Schnippeln geholfen«, sagte ihr Vater und füllte die Soße in eine Schale.

»Tatsächlich?« Sosehr sich Leyla auch um einen normalen Tonfall bemühte, sie merkte selbst, dass es ihr nicht gelang. Sie beobachtete, wie Theo das Geschirrtuch beiseitelegte und nach dem Stapel Teller griff.

Wie in Zeitlupe setzte sie sich endlich in Bewegung, um die Becher in die Spüle zu stellen. Dann drehte sie sich um. Sie musste hier raus. Doch in der Tür blieb sie erneut stehen und wartete auf Theodor.

»Bist du verzaubert?«, fragte sie und pikste ihm mit dem Zeigerfinger auf die Brust.

»Wäre mir neu.« Er trat noch näher an sie heran.

»Was willst du wirklich, van Raiken?«, flüsterte Leyla so leise, dass ihr Vater es unmöglich verstehen konnte.

»Kommst du mit?«

Sie drehte an dem Ohrring, der die vier ­Elemente symbolisierte und den sie von Pan geschenkt be­kommen hatte.

»Ja.«

»Gut. Wenn du die hier schon einmal aufdecken würdest.« Er drückte ihr die Teller in die Hand. Unfähig, irgendetwas zu antworten, wandte sie sich einfach um.

»Isst du mit, Andy?«, rief sie ins Wohnzimmer.

»Na klar!«

Also deckte Leyla den Tisch für sechs Personen. Das kam ihr irgendwie skurril vor – und es wurde nicht besser.

Theodor unterhielt sich während des Essens erstaunlich gut mit ihren Eltern, erkundigte sich nach ihrer Arbeit und lauschte Andreas Schwärmerei für Anime und Comics. Leyla war hin- und hergerissen zwischen Wundern und Frust. Sie wusste ja, dass Theo durchaus charmante Seiten haben konnte – das hatte sie dank Chayenne erleben können. Trotzdem irritierte sie sein Verhalten.

Je weiter der Zeiger auf der Uhr wanderte, umso stiller wurde sie. Irgendwann zückte sie ihr Handy und tippte eine Nachricht an Majik, während um sie herum weiter fleißig diskutiert und erzählt wurde.

›Quizrunde: Etwas, das so absurd ist, dass man es kaum glauben kann.‹

Es dauerte nur Sekunden und ihr bester Freund kam online.

›So was wie: Ich habe bereits mit meiner Hausarbeit für Analytische Geometrie angefangen?‹, tippte er in den Chat.

›Okay, wow. Das toppt meine Neuigkeiten.‹

›War auch nur ein Witz. Lass mich weiterraten. ­Etwas, das so fantastisch ist wie eine magische Parallelwelt?‹

›Fantastisch ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber die Richtung stimmt.‹

›Erzähl!‹

›Theodor ist hier.‹

›WAS?!?!?‹

Bevor sie antworten konnte, vibrierte ihr ­Handy und Majiks Foto leuchtete auf dem Display auf. ­Theodor entging das Geräusch nicht. Er lehnte sich zurück und musterte interessiert ihr Smartphone. Leyla drehte das Display so, dass er nichts sehen konnte, und drückte Majik weg.

›Kann jetzt nicht. Wir sitzen alle zusammen. Am Tisch. Mit meinen Eltern.‹

›Das ist noch verrückter als eine Parallelwelt.‹

Sie lächelte ein wenig kläglich.

›Ich weiß.‹

›Was will er?‹, wollte Majik wissen.

›Mich verwirren? Angeblich möchte er mir meine wahren Wurzeln zeigen.‹

›Wie, was, wo?!‹

›Ich konnte noch nicht in Ruhe mit ihm reden. Wenn ich mehr weiß, melde ich mich bei dir.‹

›Ich bitte darum!‹ Er schickte einen Smiley hinterher, der seine Fassungslosigkeit unterstreichen sollte, dann wurde er als offline angezeigt und Leyla steckte ihr Handy zurück in die Hosentasche.

Sie heftete ihren Blick wieder auf Theodor, der für einen Moment so aussah, als wollte er sie etwas fragen. Doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder René und dem Monolog über Ölmalerei zu.

Es schien Leyla ewig zu dauern, bis Andrea sich am ­späten Abend schließlich verabschiedete und ihre ­Eltern in ihrem Schlafzimmer verschwanden. Shara war schon längst im Bett. Endlich kehrte Ruhe ein.

Sie räumte die Teller in den Geschirrspüler und war sich bewusst, dass Theodor jede ihrer Regungen genau beobachtete.

»Die Übergänge sind nicht lange geöffnet. Wir ­müssen also bald los«, murmelte er.

»Erst mal beantwortest du mir ein paar Fragen«, stellte sie klar, wusch sich die Hände, bedeutete ihm, die Küche zu verlassen und schaltete das Licht aus.

Während sie über den Flur gingen, schwieg sie. Zu groß war die Sorge, dass ihre Eltern irgendetwas hören würden. Erst als sie oben ihre Zimmertür hinter Theo schloss, fühlte sie sich sicherer.

»Also, woher wusstest du, wo ich wohne? ­Wieso willst du mir helfen? Warum jetzt? Und wo genau ­gehen wir hin?«, begann sie sofort.

»Die wichtigste Frage ist eigentlich: Wie kommen wir von hier dahin, wo wir hinmüssen. Alles andere können wir auch später klären.« Er zog eine Karte aus seiner Hosentasche hervor und faltete sie auseinander.

»Willst du damit sagen, wir reisen in meiner Welt?«, fragte sie verblüfft.

»Ja.«

»Warum?«

»Na, wenn ich schon einmal hier bin …« Er brach ab und zuckte nur mit den Schultern.

Erst jetzt wurde Leyla klar, wie viel Unbekanntes Theodor heute gesehen haben musste – und wie unheimlich gut er sein Unwissen verborgen hatte.

»Also.« Er tippte mit dem Finger auf die Karte, die eindeutig Naurénya zeigte. »Welcher Ort in deiner Welt ist genau hier? Und wie kommen wir dahin?«

»Zeig her.« Sie nahm ihm das Papier ab, um es eingehend zu studieren. Dann fuhr sie ihren Laptop hoch, der gequält schnaufte, als hätte er nicht damit ge­rechnet, zu so später Stunde noch arbeiten zu müssen.

»Das kann dauern«, seufzte sie und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen.

Theodor, der neben sie getreten war, lehnte sich ­lässig an die Tischkante.

»Was machst du? Was ist das?«, wollte er wissen.

Leyla sah ihn kühl an. »Keine Infos von dir, keine Infos von mir.«

Prompt erntete sie ein spöttisches Lächeln. »Glaubst du, deine Info ist so relevant für mich?«

»Ja.«

Er kniff die Augen zusammen.

»Schön«, murmelte er nach einer Weile. »Ich bin mit unserem Peidëen hierhergekommen. Natürlich in ­meiner Welt. Du sagtest mir, dass du aus ­Ilmenau kommst. Also habe ich unsere alten Parallelkarten durchforstet. Da deine Stadt schon recht alt ist, habe ich sie darauf gefunden.«

»Parallelkarten?«

»Das hat dein Freund Pan dir doch sicher erzählt, oder? Trotz der Trennung der Welten waren Übergänge von unserer Seite noch jahrhundertelang erlaubt.«

»Und wurden dann verboten, weil …?«

»Es gab immer zu viele … Unfälle«, entgegnete ­Theodor. »Am schlimmsten war wohl, als ein verirrter Drache einen der Übergänge getroffen hat. Aber das ist schon neunhundert Jahre her, damals waren die Drachen eigentlich noch dort, wo sie hingehörten – im Norden. Nur der eine … nun ja, unglücklicher Zufall. Davon abgesehen gab es aber immer wieder Ereignisse, die auf die Anwesenheit von Elements in deiner Welt zurückzu­führen waren. Früher hat sich da in Naurénya kaum jemand drum geschert. Aber als 1511 die Sigda gegründet wurde, änderte sich das langsam. Irgendwann gab es dann das endgültige Verbot, weil Übergänge als zu gefährlich galten und sich die Welten immer unterschiedlicher entwickelten. Egal. Jedenfalls habe ich eine Karte gefunden, auf der deine Stadt eingezeichnet war. Ich bin mit Tahl, unserem Peidëenpfleger, hierher, wo ich einen Übergang habe erschaffen lassen. Tahl ist dann mit den Peidëen zurück nach Hause und ich bin durch den Übergang. Dann musste ich nur noch dich finden. Das war zugegebenermaßen nicht ganz so leicht. Aber Dryska ist hier wohl ein recht bekannter Name.« Er grinste überheblich.

»Du bist zu Majiks Familie gegangen und hast nach mir gefragt?«

»Ja, ich denke, es war eine Dienerin, die mir öffnete.«

»Haushälterin. Wir haben hier keine Diener«, korrigierte Leyla sofort.

Theodor machte eine wegwerfende Geste. »Wie auch immer. Ich habe sie gefragt und sie hat sofort gewusst, wer du bist und mir den Weg beschrieben.«

Leyla runzelte die Stirn. Alles, was er sagte, sorgte bei ihr nur für neue Fragen.

»Warum hast du Tahl mit den Peidëen wieder weggeschickt? Mit denen wären wir sicherlich schnell am Ziel gewesen.«

»Er weiß nicht, dass wir hierhin wollen«, erwiderte Theodor und tippte auf die Karte.

Leyla kniff die Augen zusammen. Solche Umstände, nur um ihr einen Gefallen zu tun?

»Die Sigda schickt dich«, mutmaßte sie und ihr wurde wieder mulmig, als sie an die ausstehende Entscheidung dachte. Doch zu ihrer großen Überraschung schüttelte Theodor den Kopf.

»Die Sigda weiß nicht, dass ich hier bin.«

»Wirklich?«, hakte sie misstrauisch nach.

»Sie sind viel zu beschäftigt, um an dich zu ­denken. Das Chaos, das Kroaas Ta‘ Vennin angerichtet hat, muss beseitigt werden. Sie entwickeln zum Beispiel Methoden zur Entsteinerung. Das geht alles recht langsam und nur Stück für Stück.«

»Sie hätten mich zu Hilfe holen können.«

»Auch du kannst nicht einfach die komplette Universität entsteinern. Denk daran, wie viel Kraft dich schon die Schimmerelfen gekostet haben.«

Er hatte recht.

»Ich – beziehungsweise meine Familie – hat nach deiner Bedenkzeitforderung erst einmal die Ver­waltung übernommen«, ergänzte Theodor. »Niemand mit den richtigen Prioritäten hat aktuell Zeit, sich um die eventuelle Krönung einer Ardantica zu kümmern oder sich mit deinem Gefühlswirrwarr auseinanderzusetzen. Deswegen hat dich auch niemand kontaktiert. Du wärst jetzt nur im Weg.«

»Oh, wie nett du das wieder formuliert hast.«

»So ist es nun einmal. Derzeit müssen Leute mit Erfahrung handeln«, fuhr er unbeirrt fort, schnappte sich ein Headset von ihrem Tisch und begutachtete es interessiert.

Leylas Laptop summte und sie wandte sich langsam dem Gerät zu. Theo hatte vermutlich recht. Sie gehörte da einfach nicht hin. Und trotzdem …

Sie seufzte und tippte ihr neues Passwort Gestaltwandler*P1 ein. Dann erklärte sie Theodor leise, was es mit dem Laptop auf sich hatte.

»Das ist ein Computer. Hierauf erledigen wir verschiedene Arbeiten. Wir lesen, schreiben, rechnen, recherchieren damit und machen noch eine ­Menge anderer Dinge. Es gibt sogenannte Programme, mit denen man allerhand anstellen kann. Bilder be­arbeiten, Musik erstellen und schneiden, dauerhaft speichern. Und es gibt das Internet.« Sie hielt inne und überlegte, wie sie das möglichst kurz und verständlich erläutern sollte. »Hier können Menschen auf der ganzen Welt Informationen abrufen, eintragen und miteinander kommunizieren.«

Sie registrierte, dass Theo sich bemühte, einen neutralen Blick aufzusetzen, um sich seine Faszination auf keinen Fall anmerken zu lassen.

»Es ist eine Art großes Lexikon. Aber man muss nicht in eine Bibliothek gehen, um es zu lesen.«

»Interessant.«

»Du nimmst das alles ziemlich gut auf«, stellte sie fest. »Es muss doch eine große Umstellung sein, sich in meiner Welt aufzuhalten. Autos, Busse, Ampeln, Geschirrspüler. Wenn ich daran denke, wie ich mich am Anfang in Naurénya gefühlt habe …«

Ein leichtes Lächeln zuckte über Theodors Gesicht.

»Ich bin nicht du«, sagte er ruhig. »Es gibt hier wohl einiges, was interessant ist, aber ich fokussiere mich eben auf das Wesentliche. Also, wie hilft uns dieses ­komische Lexikon?« Er deutete auf den Laptop.

»Nun, man kann damit auch Karten analysieren.« Während sie sprach, öffnete sie eine Karte und verglich die Ausschnitte immer wieder mit der von Theo. Dann zoomte sie hinein und deutete auf einen Flecken.

»Wir müssen nach Amsterdam.«

Theodor stieß sich vom Schreibtisch ab, stellte sich hinter sie und beugte sich über ihre Schulter, um den Bildschirm genau zu fixieren.

»Geht das noch genauer?«

»Klar.«

Augenblicklich zoomte Leyla noch weiter in die Karte hinein. Theodor sah eine Weile darauf, dann wieder auf seine Karte und zurück auf den Bildschirm.

»Ungefähr da ist unser Übergang.« Er zeigte auf eine Stelle östlich der Stadt. »Wir müssen in ­spätestens ­sechzig Stunden dort sein, ansonsten schließen die Schimmerelfen ihn. Das habe ich sicherheitshalber so organisiert.«

Leyla stutzte. »Da ist jetzt schon ein offener Übergang? Und wenn da aus Versehen jemand hindurchläuft?«

»Mach dich nicht lächerlich«, entgegnete er abfällig. »Der Übergang ist wie an der Uni nur halb durchlässig.«

»Das heißt«, sagte Leyla ganz langsam, »nur ich kann hinüber, weil ich eine Ardantica bin. Ich muss dich mitnehmen. Wenn ich das nicht tue, bleibst du in meiner Welt und kannst nicht zurück.«

Plötzlich waren seine Augen wieder kalt und hart. Da war er also wieder, der alte Theo.

»Das wagst du nicht, sonst …«, zischte er leise.

»Keine Sorge«, unterbrach Leyla ihn. »Die Vorstellung, dich für den Rest meines Lebens in meiner Welt zu wissen und dich dadurch vielleicht immer sehen zu müssen, ertrage ich nicht.«

In Gedanken klopfte sie sich für diese Anmerkung auf die Schulter. Vor nicht ganz einem Jahr hätte sie sich nicht getraut, Theodor so etwas zu sagen. Bevor er etwas erwidern konnte, öffnete sie schnell die Bahn­seite und suchte nach passenden Zugverbindungen.

»Wir müssen über Köln fahren.« Sie warf einen Blick auf Theos Karte, stutzte und deutete auf eine Stadt, in deren Nähe ein kleinerer Ort verzeichnet war, dessen Name ihr mittlerweile bekannt war: Behfin. Dann ließ sie den Finger über das Pergament gleiten, auf der ­Suche nach der Bezeichnung des Ortes, der an der Stelle lag, wo sich in ihrer Welt Amsterdam befand. Doch es gab keinen Namen.

»Theo, wo genau fahren wir hin?«

»Zur toten Lagune.«

»Zur toten Lagune?!«

Das war doch der Ort, von dem Aikim ihr geraten hatte, sich fernzuhalten. Der Name, den Jules Umber, Kapitän der Aquarati, nicht aussprechen wollte, weil er Unglück brachte. Ein ungutes Gefühl stieg in Leyla auf. Was genau tat sie eigentlich hier? Sie hatte ihre Familie.

Aber sie wollte Antworten auf Fragen. Und sie ­wollte vor allem eines: zurück nach Naurénya.

»Fünf Stunden bis nach Köln, noch einmal drei bis nach Amsterdam. Der Zug fährt …« Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf. »Über­morgen früh.«

Ardantica

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