Читать книгу Tuvalu - Carolin Philipps - Страница 7
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ОглавлениеDie Großmutter stand allein an der Feuerstelle vor der Kochhütte und rührte in einem ihrer großen Töpfe. Als sie Tahnee sah, lächelte sie. »Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte sie und umarmte Tahnee.
Früher hatte es Tahnee manchmal erschreckt, wenn die Großmutter Dinge zu wissen schien, die sie eigentlich gar nicht wissen konnte. Sie besaß die Kraft ihrer Vorfahren, in die Zukunft zu sehen.
Tahnee klammerte sich an ihre Großmutter und fing an zu weinen. Lange standen sie da, fest umschlungen, bis Tahnee sich losmachte. Schließlich war sie hergekommen, um die Großmutter zu trösten. »Morgen kommen sicher auch Vater und Petala, um dein Haus wieder aufzubauen«, sagte sie, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht rieb.
Großmutter nickte. »Gut so. Ich hoffe, auch dein Onkel Wawe und die Leute vom Dorf werden kommen, damit es schneller geht. Denn ich werde hierbleiben. Hier ist mein Zuhause, auch wenn Großvater nicht mehr zurückkommt.«
Tahnee schluckte. Dann riss sie sich zusammen und versuchte, sich und ihrer Großmutter Mut zu machen. »Er kennt das Meer und vielleicht befindet er sich längst an Bord eines dieser großen Fischfangboote. Er …«
Die Großmutter schaute sie an. »Wir wissen doch beide, dass sein Boot nur eine winzige Kokosnussschale war, mitten in den Wellen, so hoch wie der Kirchturm in eurem Dorf«, sagte sie leise. »Aber du hast recht, man soll die Hoffnung nie aufgeben.«
Schweigend saßen sie anschließend am Feuer und aßen Großmutters paw paw, ein Bananenbrei, der hier bei ihr am besten schmeckte.
»Lass uns schlafen gehen«, meinte die Großmutter nach dem Essen. »Die Männer werden morgen sehr früh hier sein und wir müssen die Mahlzeiten für sie vorbereiten.«
Sie hatte bereits einige der Schlafmatten aus dem zerstörten Haus in die Kochhütte getragen und so schliefen sie eng aneinander gekuschelt auf dem Boden ein.
Am nächsten Morgen wachte Tahnee vom Gegacker der Hühner auf, die draußen frei herumliefen. Die Großmutter bereitete vor der Kochhütte das Frühstück vor und graue Rauchwolken zogen zu Tahnee herüber. Tahnee sprang auf, schöpfte Wasser aus dem Eimer neben der Regentonne und wusch sich das Gesicht.
Dann nahm sie eine der leeren Kokosnussschalen und kletterte auf den Kokosnussbaum neben dem Haus, so wie sie das seit Jahren jeden Morgen machte, wenn sie hier war. Großvater hatte Stufen eingeschnitzt, sodass Tahnee schnell vorankam bis zur Spitze in zehn Metern Höhe. Dort hing eine ausgehöhlte Kokosnussschale, die den toddy genannten weißen, dickflüssigen Saft aus der eingeritzten Rinde auffing. Großmutter machte daraus Marmelade oder, wenn er gegoren war, Palmwein für die Erwachsenen.
Nach einem schnellen Frühstück, zu dem es neben den Resten vom gestrigen Abendessen Großmutters neuen Lieblingssalat aus Tomaten und Zucchini gab, machten sie sich auf den Weg zum Grundstück der Familie.
Jede Familie auf dem Atoll besaß hier auf Lakena ein Grundstück mit Obstbäumen und pits, riesigen mit kompostierter Erde aufgefüllten Gruben. Sie waren über Generationen ausgeschachtet worden bis zur Süßwasserlinse hinunter, die unterhalb der Insel lag, und waren der kostbarste Besitz einer Familie. In diesen pits wurden Taro und Pulakaknollen angepflanzt, die zu jeder Mahlzeit gehörten.
Als Tahnee und ihre Großmutter die pits erreichten, trafen sie auf Tahnees Urgroßonkel, der mit seinem Sohn Malaki gekommen war, um ebenfalls beim Hausbau zu helfen.
Tahnee zuckte zusammen, als Malaki so plötzlich vor ihr stand. Seit dem Sturm war nicht eine Minute vergangen, in der sie nicht an ihn gedacht hatte. Ging es ihm gut? Hatte er sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können? Und nun stand Malaki da und lächelte sie an. Am liebsten wäre sie zu ihm gelaufen und hätte ihn in den Arm genommen. Malaki, der das wohl ahnte, schüttelte warnend seinen Kopf. Darum nickte sie ihm nur kurz zu und begrüßte dann ihren Urgroßonkel, der aufgeregt auf die Großmutter einredete und sie kaum beachtete.
»Das Wasser in den pits ist salzig geworden. Salzig wie das Meer!«, sagte er.
»Es ist immer ein bisschen salzig. Die Pulakas vertragen das«, meinte Großmutter.
Aber er schüttelte den Kopf. »Es ist zu viel Salz. Das Meerwasser steigt jetzt schon durch den Boden bis nach oben. Wenn das so weitergeht, werden alle Pflanzen sterben. Und was essen wir dann? Schau dir die Bananen an!« Er zeigte auf eine große Staude, bei der sich die Spitzen der Blätter bereits braun gefärbt hatten. »Man kann ihnen beim Sterben zusehen, so schnell geht es.«
»Ich bin froh, dass ich meinen neuen Gemüsegarten habe«, sagte die Großmutter und lächelte Tahnee zu. Tahnee hatte ihr schon in den letzten Ferien aus dem Schulgarten Setzlinge von Tomaten, Bohnen, Salat und Zucchinis mitgebracht. Gemeinsam mit Onkel Wawe hatten sie ein Hochbeet gebaut, wo Großmutter ihr Gemüse nun salzfrei mit Regenwasser aus der Tonne züchten konnte.
Während der Urgroßonkel Großmutters kleinen Handwagen mit frischen Pulakaknollen füllte, lief Tahnee zu den Brotfruchtbäumen, um mithilfe einer langen Stange die Früchte abzuschlagen, die Großmutter zu Gemüsemus verarbeiten wollte.
Malaki folgte ihr, ebenfalls mit einer Stange in der Hand. Als sie ihn erschrocken ansah, meinte er nur: »Keine Angst! Deine Großmutter hat gesagt, ich soll dir helfen, weil sie eine Menge Früchte für die nächsten Tage braucht. Es werden viele Helfer für den Wiederaufbau ihres Hauses kommen …« Er zögerte kurz, dann fügte er leise hinzu: »Wann fährst du zurück?«
Tahnee zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es noch nicht. Wenn Großmutters Haus fertig ist. Ich kann sie jetzt nicht allein lassen.«
Sie schaute sich etwas ängstlich nach ihrer Großmutter und Malakis Vater um. Aber die beiden waren in ihr Gespräch über die Versalzung der pits vertieft und beachteten sie gar nicht.
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte sie leise.
»Mach dir keine Sorgen. Niemand hat bis jetzt etwas bemerkt und das wird auch so bleiben.«
Die lauten Stimmen hinter ihnen hatten aufgehört. Als Tahnee sich umdrehte, sah sie, wie die beiden zu ihnen herüberschauten. Sie bückte sich hastig und fing an, die Brotfrüchte aufzusammeln.
Auf dem Rückweg zum Haus gingen Malaki und sein Vater vorweg, schwer bepackt mit Bananen und Brotfrüchten, während Tahnee und die Großmutter den Handwagen mit den Pulakaknollen zogen.
Tahnee war froh, dass die Großmutter keine Fragen stellte, denn sie wollte ihr keine Lügen erzählen. Vielleicht machte sie sich auch zu viele Gedanken, dass sie und Malaki aufgeflogen sein könnten. Mehr als ihre Rücken hatten die beiden nicht gesehen. Wenn sie in ihren Gesichtern hätten lesen können – ja, dann hätten sie jetzt ein großes Problem.
Als sie zurück zu Großmutters Haus kamen, waren bereits viele Helfer aus dem Dorf dabei, das alte Haus auseinanderzunehmen und alles, was noch zu gebrauchen war, auf einen Haufen zu legen.
Viel war es nicht. Daher mussten mehrere Bäume für neue Balken gefällt und Palmblätter für das Dach geschnitten werden, die von den Frauen dann zu dichten Matten zusammengeflochten wurden.
Auch ihre Eltern, ihr großer Bruder und andere Verwandte von den übrigen Inseln waren gekommen. Es war selbstverständlich, dass man nach einem Sturm den anderen half, sobald man mit der Reparatur seines eigenen Hauses fertig war.
Onkel Wawe und die Männer aus dem Dorf waren schon am frühen Morgen fischen gegangen und brachten Körbe mit frischem Fisch und Krebsen mit. Tahnee setzte sich zu den anderen Frauen, die dabei waren, neue Fuß- und Fenstermatten aus Palmwedeln zu flechten.
Sie unterhielten sich leise über Großvaters Verschwinden und die Hoffnung, dass er lebendig wiederkommen würde. Tante Haufia erzählte gerade von einem Mann, der nach vier Wochen in seinem Boot auf der Insel Samoa mehr als Tausend Seemeilen entfernt angeschwemmt worden war. Halb verhungert und verdurstet, aber lebendig.
Solange Großvater vermisst wurde, konnte man sich vorstellen, dass er noch lebte. Alles andere wurde ausgeblendet. Es machte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, solange auch nur eine Spur Hoffnung bestand. »Stellt euch nur vor, wie er sich freuen wird, wenn er sein neues Haus sieht!«, meinte Tante Haufia, die wie immer fröhliche Stimmung zu verbreiten versuchte, was ihr an diesem Tag aber nicht so ganz gelang.
Am Abend standen bereits die Grundpfeiler des neuen Hauses, und die ersten Bretter für die Plattform waren auch schon genagelt. Da die Kochhütte mit Lebensmitteln gefüllt und kein Platz zum Schlafen übrig war, gingen auch Tahnee und ihre Großmutter mit ins Dorf zurück, wo alle Helfer in den verschiedenen Häusern unterkamen, Tahnee und ihre Eltern im Haus von Onkel Wawe.
Als Tahnee am nächsten Morgen aufwachte, hörte sie lautes Rufen und Lachen von draußen. Einige Männer waren dabei, Fische für den neuen Tag zu fangen. Auch Malaki half mit. Während zwei Männer das riesige Netz im flachen Wasser quer zum Strand gespannt im Wasser hielten, trieben andere mit lautem Geschrei und viel Lärm die Fische ins Netz, indem sie mit den Händen auf das Wasser schlugen.
Tahnee setzte sich in den warmen Sand und schaute ihnen zu. Am liebsten hätte sie mitgemacht, aber ihre Mutter und ihre Tante sahen es gar nicht gerne. Fischefangen war Männersache.
Sie schaute auf das kristallklare, blaue Wasser, das in der Sonne geheimnisvoll glitzerte, die Palmen am Ufer, deren Wedel im Wind tanzten. Ein Paradies. Sie konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben.
Und doch konnte sich dieses Paradies innerhalb von Minuten in einen Albtraum verwandeln. Aus den kleinen Wellen wurden Monsterwellen, vom Sturm getrieben, die alles überschwemmten und mit sich rissen. Die das Trinkwasser in den Brunnen versalzten und die Ernte vernichteten.
»Gott ist böse auf uns«, hatte die Mutter ihr früher erklärt, als Tahnee fragte, warum auf einmal die Monsterwellen kamen. »Wir haben ihn verärgert.«
»Und was können wir machen?«
»Wir müssen noch mehr beten. Er wird uns erhören, wenn wir unsere Taten bereuen, und dann wird die Natur wieder unser Freund wie früher«, hatte die Mutter gesagt.
Tahnee war sich sicher gewesen, dass sie nichts getan hatte, was Gott so sehr verärgern konnte, dass er Monsterwellen schickte.
Der Vater hingegen hatte eine ganz andere Geschichte erzählt. Er fuhr damals noch auf den großen Containerschiffen als Seemann durch die Welt und brachte jedes Mal, wenn er Urlaub hatte, nicht nur unbekannte Dosennahrung und Süßigkeiten, sondern auch spannende Geschichten mit, von denen Tahnee nicht genug hören konnte.
Nur eine Geschichte machte ihr Angst. Sie handelte von dem riesigen Eisberg, der eines Tages vor seinem Schiff aufgetaucht war. Der Vater erzählte, dass das Eis im Süden der Erde am Schmelzen war und viele solcher Eisberge durch das Meer schwammen, langsam schmolzen und als Wasser ins Meer flossen. Und weil das eine unfassbar große Menge Wasser war, stieg der Meeresspiegel an. Und dann wurde es gefährlich für Inseln, die nur knapp über dem Meeresspiegel lagen wie Nanumea.
Es war damals nur eine Geschichte, die Angst machte, aber mit ihrem Leben auf Nanumea nicht viel zu tun hatte.
Doch als Tahnee in die Schule kam, erzählte die Lehrerin die gleiche Geschichte. Sie zeigte sogar Bilder von Eskimos, die im Eis lebten, und den Rissen im Eis, sodass sie keine Eisbären mehr jagen konnten und die Fische wegblieben, weil es zu warm wurde. Als Tahnee fragte, warum das Meer auf einmal anfing zu schmelzen, erzählte die Lehrerin von Ländern, die Tausende Seemeilen entfernt waren. Dort gab es Autos und Fabriken, die heiße, verschmutzte Luft in den Himmel pusteten und dadurch das Eis zum Schmelzen brachten.
Als Tahnee ihrer Mutter davon erzählte, die genau wie sie weder Autos noch Fabriken kannte, war ihre Antwort: »Warum auch immer die Monsterwellen kommen, nur Gott kann sie besiegen und darum müssen wir ihn bitten. Gott wird nicht zulassen, dass unsere Heimat von den Monsterwellen verschlungen wird. Er lässt uns nicht im Stich!«
Wie sehr wünschte sich Tahnee, sie könnte das immer noch wie früher glauben. Leider wusste sie selbst inzwischen, dass die Geschichten des Vaters und der Lehrerin keine Märchen waren, sondern im Gegenteil längst Teil ihres täglichen Lebens.