Читать книгу Tuvalu - Carolin Philipps - Страница 9
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ОглавлениеAm nächsten Abend fand wie immer zum Ende der Ferien ein großes Abschiedsfest, eine faatele, statt. Es war der letzte Abend, bevor die Schüler zurück ins Internat nach Vaitupu fuhren. In der großen Versammlungshalle war das Essen aufgebaut worden, zu dem jede Familie etwas beigetragen hatte: gegrillter und geräucherter Fisch, Krabben aus dem Ozean, geräucherte Vögel und ein im umu, im Erdofen, gebackenes Schwein, das in frische Bananenblätter eingewickelt wurde. Außerdem gab es reichlich Bananen, frisch und in toddy gedünstet, Papayas, pi, frischer Kokossaft, und in Kokosmilch gekochte Pulakaknollen und jede Menge Palmwein.
Als Tahnee mit ihrer besten Freundin Salesi in die Halle kam, waren fast alle Bewohner des Atolls bereits dort und unterhielten sich, Kinder liefen herum, die Stimmung war fröhlich wie immer bei einer faatele. Zu ihrer Erleichterung sah Tahnee Malaki bei seinen Freunden sitzen.
Nach dem Essen gruppierten sich einige Männer in der Mitte der Halle im Kreis um eine große Trommel. Die übrigen saßen auf den ausgelegten geflochtenen Matten auf dem Boden. Die Männer stimmten einen Gesang an und schlugen dabei mit den Händen auf der Trommel einen immer schneller werdenden Rhythmus. Sie wurden lauter und noch schneller, bis sie einen Höhepunkt erreichten und plötzlich abbrachen.
Dann begrüßte Tahnees Urgroßvater als ulu aliki, als Vorsitzender der Gemeinschaft, die Schüler und betonte, wie wichtig es sei, nicht nur das Wissen der westlichen Länder zu kennen, sondern auch die Traditionen der Nanumeaer. Das Wissen der Vorfahren dürfe nicht verloren gehen.
Schließlich kam der Teil des Abends, auf den vor allem Tahnee und ihre Freundinnen gewartet hatten. Sie trugen Kränze aus Blumen auf dem Kopf, bunte Kleider und darüber die traditionellen Grasröcke, die titi. Auch Arme und Beine waren durch Blumenbänder geschmückt, um den Hals trugen sie Muschelketten und Ringe aus Muscheln an den Ohren. Zum Gesang der Versammlung ließen sie ihre Hände, Arme und die Hüften kreisen.
Als Nächstes war Malakis Tanzgruppe an der Reihe. Mit ihren nackten Oberkörpern, auf denen die mit Kokosöl eingeriebenen schwarzen Tattoos glänzten, unterbrachen sie den Tanz der Mädchen, indem sie immer wieder dazwischensprangen, wilde Schreie von sich gaben und zur Freude der Zuschauer einen wilden Kriegstanz aufführten.
Tahnee hatte nur Augen für Malaki. Und er tanzte nur für sie. Für kurze Zeit vergaßen sie die vielen anderen Augen im Saal, die sie beobachteten.
Zur großen Verwunderung aller stand nach der Vorführung der ulu aliki erneut auf, hob seine Hand, und als alle ruhig waren, begann er mit ernster Stimme: »Wir leben seit Jahrhunderten auf diesem Atoll. Isoliert vom Rest der Welt. Unsere Vorfahren haben daher Regeln aufgestellt, damit unser Volk überleben kann. Diese Traditionen betreffen das Pflanzen von Pulakaknollen genauso wie den Schutz und die Aufteilung des Landes, von dem wir hier auf dem Atoll nur wenig zur Verfügung haben. Und sie betreffen das Zusammenleben der Familien und die Regeln und tapus, was die Heirat untereinander betrifft. Wir sind nur wenige Bewohner. Schon unsere Vorfahren wussten, dass ein Volk krank wird, wenn ein Mann und eine Frau, die zu eng miteinander verwandt sind, heiraten und Kinder bekommen. Dadurch werden Krankheiten viel häufiger in die nächste Generation vererbt. Darum haben unsere weisen Vorfahren ein tapu verhängt, das bis heute gilt und unser Volk stark gemacht hat: So wie Bruder und Schwester nicht heiraten dürfen, dürfen das bei uns auch nicht Cousin und Cousine bis in den dritten Grad. Darum sollen Cousin und Cousinen nur, wenn es nötig ist, miteinander reden und sich sonst aus dem Weg gehen, damit keine zu große Nähe entsteht. Und wenn sich jemand nicht an die Regeln hält, muss die Gemeinschaft sie durchsetzen zum Schutz für uns alle.«
Der ulu aliki schwieg und sah sich in der Halle um.
Alle nickten. Und wunderten sich, warum er etwas erzählte, was doch alle wussten und auch beachteten.
Tahnee warf Malaki, der ihr gegenüber am anderen Ende der Halle saß, einen entsetzten Blick zu. Aber der zuckte nur ratlos mit den Schultern.
Einer nach dem anderen standen die alten Männer auf. Sie sagten nichts Neues, betonten nur in endlos langen Reden, wie wichtig die alten Traditionen für den Fortbestand des Volkes waren.
Alle hörten schweigend zu. Die Älteren nickten wieder, die meisten der Jüngeren sahen zu Boden. Für sie waren solche tapus längst nicht mehr selbstverständlich. Viele von ihnen waren jahrelang nur zu den Schulferien nach Hause gekommen oder arbeiteten und lebten in der Hauptstadt auf dem Atoll Funafuti und waren jetzt nur zum Weihnachtsfest auf ihre Heimatinsel zurückgekommen.
Aber sobald sie hier waren, galten die alten Regeln. Wer Teil der Gemeinschaft bleiben wollte, musste die neuen Gewohnheiten an Bord des Fährschiffes lassen, bevor er den Boden von Nanumea betrat.
Auch Tahnee hatte schweigend und mit gesenktem Kopf auf ihrer Matte gesessen und gehofft, dass die Versammlung bald zu Ende ging. Sie schaute zu Malaki, er wollte aufstehen, sie schüttelte den Kopf. Vielleicht täuschten sie sich ja und das Thema war ganz zufällig gewählt worden und hatte nichts mit ihnen zu tun.
Während Tahnee immer mehr in sich zusammenkroch und sich ganz weit weg wünschte, wurde Malaki immer unruhiger. Tahnee beobachtete mit Sorge, wie er auf seiner Matte hin und her rutschte, die Faust ballte und sich kaum noch beherrschen konnte. Und dann hielt er es nicht länger aus. Niemand hatte damit gerechnet, dass er aufstehen würde, um selbst eine Rede zu halten. Denn nur die alten Männer durften reden.
Er versuchte zu erklären, dass Tahnee und er die Regeln kannten und respektierten. Aber sie hätten sich einfach nur verliebt. »Und in anderen Ländern dürfen sogar Cousin und Cousine 1. Grades heiraten und Kinder bekommen!«, schloss er, bevor der ulu aliki ihn unterbrechen konnte.
Tahnee wäre beinahe im Boden versunken, als Malaki seine Worte wütend durch den Raum geschleudert hatte. Und auch die meisten Dorfbewohner, die auf dem Boden saßen und zuhörten, sahen sich betroffen an. Jugendliche durften nicht reden. Das war respektlos.
Tahnee sah, wie Malaki sich mit gesenktem Kopf wieder hinsetzte und sprang nun selbst auf. Auch das war ein tapu-Bruch. Frauen durften erst recht nicht bei einer Versammlung reden.
Aber bevor Tahnee etwas sagen konnte, fingen die Männer auf ein Zeichen des ulu aliki an, mit ihren Händen auf die große Trommel einzuschlagen, schneller und immer schneller, bis der Rhythmus sich fast überschlug und dann plötzlich abbrach.
Tahnee setzte sich mit zittrigen Beinen wieder auf ihre Matte. Sie blieb wie erstarrt sitzen, während alle anderen auffallend leise aufstanden und davongingen.
Plötzlich hockte sich Malaki vor sie hin. Er legte seine Hand auf ihren Arm und flüsterte: »Mach dir keine Sorgen! Es wird alles gut. Sie werden sich schon beruhigen.«
Tahnee nickte, traute sich aber nicht, ihn anzusehen. Als sie es schließlich wagte, den Blick zu heben, waren alle anderen schon gegangen. Nur der ulu aliki, der nicht nur ihr Urgroßvater, sondern auch der Onkel von Malaki war, stand noch lange mit ihrer Mutter beisammen und redete auf sie ein. Dann kamen beide auf sie zu.
Ohne lange Vorrede verkündete er, was die Ältesten beschlossen hatten: Tahnee durfte nicht zurück an die Schule. Malaki oder Tahnee. Nur einer von ihnen konnte fahren. Und da Malaki kurz vor seiner Abschlussprüfung stand und das Dorf eine Menge Geld in seine Ausbildung gesteckt hatte, fiel die Wahl auf ihn.
Tahnee wollte protestieren, wollte sogar versprechen, Malaki nie wieder alleine zu treffen.
Aber ihr Urgroßvater schaute ihr nur fest in die Augen und meinte: »Versprich nichts, was du nicht halten kannst. Ende des Schuljahres macht Malaki seinen Abschluss und geht nach Amatuku auf die Seemannsschule. Dann kannst du zurück nach Vaitupu.«
Wie betäubt ging Tahnee neben ihrer Mutter, die den ganzen Weg über kein Wort sagte, nach Hause. Sie war sich so sicher gewesen, dass niemand etwas bemerkt hatte.
Vielleicht zu sicher? Auf Nanumea kannte jeder jeden und niemand konnte etwas tun, ohne dass es nicht kurze Zeit später zum Dorfgespräch wurde. Waren sie beobachtet worden, wenn sie sich heimlich auf Lefogaki trafen?
Oder war es doch ihre Freundin Laisa gewesen, die sie zusammen mit Malaki vor ein paar Wochen am Strand in der Nähe der Schule erwischt hatte? Hatte sie ihrer Mutter oder einer Tante oder sogar dem ulu aliki davon berichtet? Tahnee wusste, dass Laisa selbst in Malaki verliebt war. Aber würde sie so weit gehen und sie verraten?