Читать книгу Ellen - Carolin Schairer - Страница 5

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Eine knappe Stunde später kam Nina in ihrer Wohnung an. Sie stellte erleichtert fest, dass Lukas noch nicht von seinem Treffen mit den Freunden vom Musical zurück war. Sie hätte es nicht ertragen, ihm in dem Zustand, in dem sie sich befand, gegenüberzutreten.

Ihr Make-up war verwischt; ihre Steckfrisur hatte sich aufgelöst. Die ganze Taxifahrt über hatte sie lautlos geweint. Der Taxifahrer hatte immer wieder beunruhigt in den Rückspiegel geschaut, aber keine Fragen gestellt. Nina war froh darüber. Was hätte sie sagen können?

Sie wusste doch nicht einmal, was sie denken sollte!

Warum hatte Ellen McGill das getan?

So muss sich eine Frau nach einer Vergewaltigung fühlen, schoss es Nina durch den Kopf. Benutzt. Ausgeliefert. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als ihr klar war, dass der Vergleich hinkte. Ellen hatte sie letztendlich zum Höhepunkt gebracht. Es stand wohl kaum im Drehbuch einer potenziellen Vergewaltigung, dass das Opfer einen Orgasmus bekam.

Ellen hatte sie geküsst, und sie hatte den Kuss erwidert. Auch das klang nicht nach Opferrolle. Ihre Tränen flossen, weil sie sich schuldig fühlte – schuldig, dass sie auf etwas eingestiegen war, von dem sie selbst nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. Sie hätte schreien sollen, davon laufen können. Stattdessen war sie in Ellens Händen zu Wachs geworden und wollte nur noch eines: von ihr überall berührt werden.

Nina weinte, weil ihre Welt in Aufruhr war, weil sie nicht wusste, warum sie so viel empfunden hatte, weil sie sich von Ellen McGill überrumpelt fühlte und weil es sie verletzt hatte, dass deren einziger Kommentar »Oh, shit!« gelautet hatte. Aber sie weinte auch, weil sie nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte. Wie würde sie dieser Frau je wieder gegenübertreten können?

Nachdem sie sich ausgiebig ausgeweint hatte, dröhnte in ihrem Kopf ein innerer Presslufthammer. Im Badezimmerspiegel schaute sie ein übel verquollenes Gesicht an. Sie schlüpfte aus Kleid und Slip und stieg in die Duschkabine.

Das warme Wasser lief über ihren Körper; sie seifte sich ein, um Ellen McGills Spuren abzuwaschen, so als wäre sie dadurch gebrandmarkt und beschmutzt, doch während sie die Hand zwischen ihre Beine gleiten ließ, erinnerte sie sich an das erregende Gefühl, das Ellens Berührung hervorgerufen hatte, und sie spürte, wie sich trotz des Wassers, das ihren Körper in Rinnsalen hinablief, schon wieder eine Nässe ganz anderer Art in ihrer Mitte bemerkbar machte.

Eilig drehte sie die Dusche ab. Mit einem verzweifelten Schluchzer sprang sie heraus und wickelte sich in ein Handtuch und dann in den Morgenmantel.

Als Lukas gegen Mitternacht von seinem Treffen zurückkam, fand er sie mit angewinkelten Knien und angespannten Gesichtszügen stocksteif auf dem Sofa sitzend vor. Sie sah aus, als hätte sie sich lange nicht von der Stelle bewegt.

»Nina, du bist schon da? Ich dachte, heute steigt die ganz große Party bei den Pillendrehern?«

Er wollte ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Lippen drücken, doch Nina drehte rasch ihr Gesicht zur Seite. Sein Kuss landete auf ihrer Wange.

Irritiert sah er sie an.

»Was hast du?«

»Nichts.« Als er sie weiterhin skeptisch musterte, setzte sie hinzu: »Ich bin müde, und du riechst nach Rauch.«

Er gab sich mit der Erklärung zufrieden.

Sie saßen auf einer Holzbank und starrten auf den See. Die Frühlingssonne ließ das Wasser blitzen wie eine Platte glänzender Edelsteine.

An diesem Sonntag hatten sie es endlich gemeinsam geschafft: mit dem Zug an den Neusiedler See zu fahren und dort einen Tag zu verbringen. Doch nun, da es soweit war, konnte sich Nina nicht darüber freuen. Sie war nur körperlich anwesend. Ihr Innerstes befand sich derzeit in einem undurchsichtigen Nirwana von Gedanken und Ängsten, die sich ausschließlich um Ellen McGill und das Erlebnis im Kopierraum drehten.

Wenn ich es dem Personalchef melden würde, würde er mir sowieso nicht glauben, vermutete Nina. Niemand würde der immer so selbstbeherrschten Ellen etwas Derartiges zutrauen. Sie selbst dagegen würde als Lügnerin hingestellt werden. Und selbst wenn ihr geglaubt wurde – sie hatte sich doch nicht gewehrt! Ohne Zögern war sie auf Ellens Berührungen eingestiegen. Sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass Ellen die Lust, die sie dabei empfunden hatte, nicht verborgen geblieben war. Ja, eben darum hatte sie weitergemacht.

Wie viele Kolleginnen hatte sie wohl schon in dieser Form belästigt? Oder war sie die erste? Letzteres schien für Nina nahezu unvorstellbar. Ellen McGill hatte genau gewusst, was sie tat. Wahrscheinlich verschwendete sie keinen weiteren Gedanken an das, was passiert war. Sie hatte ihre eigene Lust befriedigt und rechnete gewiss damit, dass Nina aus Scham über den Vorfall schweigen würde.

Und darin hatte Ellen leider recht, dachte sie bitter. Sie wünschte in diesem Moment nichts mehr, als jemand anderer zu sein – eine selbstbewusste, starke Nina, die nicht der Spielball anderer Leute war. Eine Nina, die nicht zögerte, sich zu wehren und für ihre eigenen Interessen einzutreten, wenn etwas gegen ihren Willen geschah. Die ihre tausenderlei Ängste und Unsicherheiten ablegen konnte: Dass sie auf andere Leute nicht positiv genug wirkte; dass sie sich irgendwie falsch verhielt; dass sie bei irgendetwas Fehler machte; dass Lukas sie verlassen könne – und vieles mehr. Ich bin das prädestinierte Opfer, sagte sie sich nun am See. Deshalb hat Ellen mich ausgewählt.

»Nina, du sitzt seit einer Stunde auf dieser Bank und sagst kein Wort«, beklagte sich Lukas, der zwischendurch alleine zum Bootssteg gegangen war, dort altes Brot an Enten verfüttert hatte und eben wieder zurückkehrte. »Was ist denn los?«

Sie sah ihn an. Tränen glitzerten in ihren Augen.

»Ich möchte nicht mehr bei LENOPHARM arbeiten«, kam es ihr unwillkürlich über die Lippen.

Sein Gesicht verfinsterte sich schlagartig. »Nicht das schon wieder! Müssen wir diese Debatte regelmäßig führen? Ich dachte, du hast dich mittlerweile daran gewohnt.«

»Es ist schrecklich dort«, sagte sie und starrte wieder auf den See. Würde Lukas sie je verstehen, ohne dass sie ihm von dem Vorfall erzählte? Sie konnte ihm doch nichts erzählen, denn was sollte sie ihm sagen? Es war so grauenhaft, Lukas, so entsetzlich, dass ich einen Orgasmus bekam – etwas, was mit dir zusammen leider noch nie geklappt hat?

»Wenn es so entsetzlich ist, verstehe ich nicht, warum du so viel Zeit dort verbringst«, kommentierte er sarkastisch. »Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft du am Wochenende dort bist. Es kann doch gar nicht sein, dass es so viel Arbeit gibt.«

Sie presste die Lippen zusammen. Ihre Augen suchten das Segelboot, das inzwischen nur noch ein kleiner Fleck am Horizont war, und sie wünschte sich an Bord – weg, frei, ohne Sorgen, nur sie, die Ruhe und das Wasser.

Nach einer Weile sagte sie in die Stille, die zwischen ihnen entstanden war: »Ich werde andere Arbeit suchen.«

»Das bisschen an Ersparnissen ist aber so gut wie weg«, konterte er unwillig. »Zumal wir doch jetzt diese Waschmaschine gekauft haben.«

Sie riss den Kopf nach oben und schaute ihn mit großen Augen an. »Wir haben was?«

»Na, diese Waschmaschine gekauft!«, erklärte er wie selbstverständlich. »Nächsten Mittwoch wird sie geliefert. Mensch, Nina, wir hatten doch darüber gesprochen, dass wir es satt haben, ewig im Waschsalon zu waschen.«

Nina erinnerte sich dunkel an das Gespräch. Allerdings war es darum gegangen, dass sie Lukas darum gebeten hatte, künftig häufiger den Gang zum Waschsalon zu übernehmen. Schließlich hatte Lukas dazu weit mehr Zeit – vorausgesetzt, er würde nicht bis zehn Uhr früh schlafen. Er hatte daraufhin gekränkt erwidert, dass er nun einmal mindestens acht Stunden Schlaf brauche, und dass alles doch viel einfacher wäre, wenn sie eine eigene Waschmaschine besäßen. Jetzt, wo etwas Erspartes vorhanden war, sollte das ja wohl kein Problem mehr sein.

Nina hatte ein ausweichendes »Hm« geantwortet, aber eindeutig kein Ja. Es war wirklich nicht ihr Plan gewesen, ihr erstes Erspartes in eine Waschmaschine zu investieren.

»Das hast du nicht mit mir abgesprochen«, warf sie ihm nun vor.

»Ach, Nina, mach jetzt doch bitte kein Drama daraus.« Er kräuselte ärgerlich die Stirn. »Diese Waschmaschine ist eine Investition in die Zukunft! Wir brauchen ja nicht jedes Jahr eine. So ein Ding schafft man sich einmal an, und das war’s für Ewigkeiten.«

Nina erwiderte nichts. Sie fragte sich stattdessen, ob es gut gewesen war, ein gemeinsames Konto anzulegen. Es war seine Idee gewesen, nicht ihre. Er hatte sie mit dem Argument überzeugt, dass sie dann nur einmal Kontoführungsspesen bezahlen mussten. Da er bereits ein Konto bei einer österreichischen Bank hatte, sie aber neu nach Wien gezogen war, hatten sie seine Kontonummer beibehalten und Lukas hatte ihr eine Vollmacht erteilt. Bisher war ihr das nie als ein Problem erschienen – sie hatten ja sowieso nur winzige Summen übrig, falls sie überhaupt im Plus lagen. Jetzt aber stimmte sie dieser Punkt nachdenklich.

»Willst du jetzt den ganzen Tag auf das Wasser starren, oder gehen wir auch mal gemeinsam spazieren?«, unterbrach Lukas ihr Grübeln.

Nina erhob sich mit einem unterdrückten Seufzer. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann meinte sie unvermittelt: »Lukas, ich will Ellen McGill nicht wiedersehen. Das ist der Grund, weshalb ich nicht dort bleiben kann. Ich muss kündigen, versteh das bitte!«

»Also, echt!« Lukas fuhr sich quer durchs Haar – eine Geste, die Nina an ihm nur dann auffiel, wenn er äußerst ärgerlich war. Das kam selten vor, denn gewöhnlich war er ein ruhiger Mensch – ein Grund, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Nun schaute er sie kopfschüttelnd an. »Weißt du eigentlich, dass du seit Wochen nur noch ein Thema hast? Ellen McGill, Ellen McGill!« Er äffte ihre Stimme nach. »Ich komme mir schon langsam vor, als würde ich eine Dreierbeziehung führen! Es vergeht kein Tag, an dem du nicht erzählst, was für schlimme Dinge sie dir angetan hat, wie böse sie geschaut hat, wie sie dich wieder herablassend behandelt hat. Das geht mir auf den Geist, Nina! Du bist total abhängig von den Launen einer komischen Frau, die offensichtlich voller Probleme steckt und sie an dir auslässt. Und weißt du, warum sie das tut, Nina? Weil du dich verhältst wie ein geprügelter Hund, der nur auf Schläge wartet. Wenn du mal beißt, Nina, würde sie sich zusammenreißen!«

Als er die Tränen sah, die ihr über das Gesicht zu laufen begannen, hielt er inne und atmete tief durch. Er trat dicht an sie heran und legte sanft den Arm um sie.

»Nina-Maus, es tut mir leid«, flüsterte er ihr schuldbewusst ins Ohr. »Ich wollte dich nicht verletzen. Aber ich finde echt, dass dir diese Frau wichtiger geworden ist, als sie es sein sollte. Es bedrückt mich doch auch, wenn ich sehe, wie sie dir zusetzt. Aber du musst einfach cooler werden und lernen, damit umzugehen. – Weißt du was?« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sah sie mit freudig blitzenden Augen an. »Wenn ich erst mal Musical-Star bin, verdiene ich Geld in rauen Mengen, und du musst nie mehr arbeiten gehen!«

Nina lehnte sich stumm an ihn. Sie wusste, dass jedes weitere Wort zu noch größerem Unverständnis von seiner Seite geführt hätte. Wie sollte er sie auch verstehen, wenn sie nicht einmal sich selbst verstand?

Als am Montag der Wecker klingelte, fühlte sich Nina wie gerädert. Sie hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Stunde um Stunde hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt und gegrübelt, wie sie sich einem Wiedersehen mit Ellen McGill entziehen konnte, ohne zu kündigen. Sie war zu keiner zufriedenstellenden Lösung gekommen. Stattdessen ließ das, was im Kopierraum passiert war, sie nicht los. Und obgleich beim bloßen Gedanken an Ellens Berührung eine befremdende Hitze in ihr aufstieg, war es doch die Scham, die alles andere überwog.

Nina schaltete den Wecker aus und beschloss, sich einen weiteren Tag zum Nachdenken zu gönnen. Sie würde sich krank melden – das gewährte einem peinlichen Wiedersehen zumindest Aufschub. Das schlechte Gewissen, das sie überfiel, versuchte sie sich auszureden. War sie nicht bisher keinen einzigen Tag krank gewesen? Hatte sie nicht mehrere Wochenenden ohne zusätzliche Bezahlung gearbeitet? Und, so unausgeschlafen wie sie war – galt Übermüdung nicht sowieso schon als Krankheit?

Ihr Entschluss stand fest. Um Lukas nicht zu wecken, ging sie in die Küche, um von dort aus zu telefonieren. Sie suchte gerade den Namen von Brauers Sekretärin im Nummernspeicher, als ihr Handy zu läuten begann.

Es war Jasna Milic. Ihre Stimme klang atemlos.

»Morgen, Nina. Bist du schon im Büro?«

»Nein, ich bin gerade aufgestanden, aber …« Sie wollte ergänzen, dass sie krank sei, doch Jasna kam ihr zuvor.

»Du musst sofort ins Büro, Nina! Es gibt eine totale Krise. In allen Zeitungen steht es: Eine 18-Jährige aus der Steiermark hat einen Schlaganfall bekommen und ist jetzt halbseitig gelähmt. Sie war eine Thrombose-Risiko-Patientin und hat trotzdem die Pille genommen. Dummerweise eine unserer Pillen – die Fenolane. Unsere Telefonzentrale notiert einstweilen die eingehenden Journalistenanrufe; Brauer ist dabei, eine Hotline für Patientinnen und Ärzte einrichten zu lassen. Wir treffen uns in zwanzig Minuten in Ellens Büro zur ersten Krisenbesprechung. Bitte beeile dich.«

Nina glaubte, die Welt müsse versinken – und sie mit ihr.

»Ich … ich … muss, ich … ich bin krank!«

»Das geht nicht, Nina!« Jasna klang rein gar nicht mehr wie die sympathische Kollegin, die sie geduldig eingeschult hatte. »Wir haben hier eine Krise, es geht um dein Fachgebiet, ich bin nur netterweise schon zur Sitzung unterwegs, weil Ellen mich zusätzlich um Unterstützung gebeten hat. Ich sage es dir im Guten: Beweg deinen Hintern schnellstens ins Büro, oder du wirst sehen, was Ärger bedeutet! Ich bin nicht da, um deine Arbeit zu tun! Bei allem Verständnis, aber du hast mich schon am Mittwoch bei der Feier hängen gelassen!«

So ist das also bei dir angekommen, schoss es Nina durch den Kopf. Dass ausgerechnet von Jasna dieser Vorwurf kam, traf sie schwer. Doch nun gab es nur den Weg ins Zentrum des Orkans.

Jasna Milic, Georg Waldmeister von der Medizinabteilung, Lilli Muster, die junge Produktmanagerin von Fenolane, und sogar der Geschäftsführer saßen mit ernsten Gesichtern in Ellen McGills Besprechungsecke, als Nina mit entsetzlichem Magendrücken das Büro betrat. Ellen McGill stand an ihrem Schreibtisch und fischte ein Stück Papier aus dem Drucker. Nina vermied es, sie anzusehen.

»Endlich«, sagte Jasna bei ihrem Eintreten anstelle eines »Guten Morgen«. Auch die anderen Anwesenden schienen den Morgen alles andere als gut zu finden. Als Nina auf dem Schreibtisch die Titelseiten der dort ausgebreiteten Tageszeitungen sah, wusste sie, warum. Die Geschichte des 18-jährigen Schlaganfall-Opfers schmückte das Deckblatt jeder Zeitung.

Ellen kam an den Tisch zurück und schwenkte den Ausdruck. »Das ist ORF online. Fenolane ist hier im Titel. Es wird nicht lange dauern, und wir werden von den Medien zerrissen.«

Plötzlich schien sie Nina gewahr zu werden, die noch immer unschlüssig am Tisch stand. Die Couch war mit Jasna, Waldmeister und Lilli Palmer besetzt; den freien Polsterstuhl hatte Nina als Ellens Platz erkannt.

»Please, sit down.«

Erst als sie ihren Satz mit Nachdruck wiederholte, kam Nina der Aufforderung nach. Mit offensichtlichem Unbehagen nahm sie zur Kenntnis, dass Ellen unmittelbar hinter ihr stehen blieb. Stockend berichtete sie auf Englisch, dass Kathrin Hanelka, die Leiterin der Kontrazeptiva-Abteilung, bereits den Außendienst und die wichtigsten Gynäkologen informierte. Waldmeister ergänzte, er habe die Gesundheitsbehörde bereits vor der Sitzung verständigt, und letztendlich sei dieser Fall nur durch die mangelnde Sorgfalt des behandelnden Gynäkologen zu Stande gekommen, der das Thrombose-Risiko nicht abgecheckt habe.

Ellen McGill schnitt ihm das Wort ab. Das sei für die Medien völlig unerheblich; sie sähen nur eine 18-Jährige, die gelähmt im Rollstuhl sitzt, und die Pille Fenolane, die das verursacht habe.

Jetzt läutete Ellens Festnetztelefon. Mit wenigen Sätzen war sie bei ihrem Schreibtisch und hob ab. Ihre Miene wirkte noch ernster, als sie zurück zur Gruppe kam.

»Das war die Telefonzentrale. Inzwischen hat es noch mehr Journalistenanrufe gegeben, alle zu Fenolane. Es ist auch ein privater Radiosender darunter. Wir müssen reagieren.«

Jasna Milic erhob sich seufzend. »Ich werde die Journalisten erst einmal beruhigen und alle Fragen aufnehmen. Nina kann ja inzwischen ein allgemeines Statement für die Presse formulieren, das wir noch am Vormittag verteilen. Ich nehme an, da müsste ihr jemand als Informant zur Hand gehen. Machst du das, Lilli?«

Die Produktionsmanagerin verneinte. »Ich muss die Leute vom Notfall-Callcenter auf die Patientenanfragen einschulen.«

Ninas Magen krampfte sich zusammen. Auch das noch. Sie ahnte bereits, was ihr jetzt bevorstand.

»Dann macht das Ellen selbst, nehme ich an«, stellte Waldmeister auch schon trocken fest. Wenige Minuten später war Nina mit Ellen alleine.

Sie verharrte in panischer Erstarrung auf dem Sessel und wagte kaum zu atmen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Was würde sie nun erwarten?

Es dauerte, bis sie sich bewusst wurde, dass sie nicht die einzige im Raum war, die sich nicht rührte. Ellen stand noch immer hinter ihr und gab keinen einzigen Laut von sich. Dennoch war sie es, die das Schweigen durchbrach.

»Ich werde eine kleine Einschulung geben«, sagte sie. Ihre Stimme klang blechern. »Über Thrombosen. Ist das okay?«

Ellen fragte sie, ob ihr eine Einschulung genehm war? Nina wusste nicht, was für sie ein größerer Faktor der Verunsicherung war: Ellens schroffer Befehlston von früher oder die jetzige, gänzlich unerwartete Frage.

»Ja, danke«, antwortete sie steif und merkte, dass ihre Stimme genauso blechern klang wie Ellens.

»Möchten Sie Kaffee?«

Noch so eine freundliche Frage. Ninas Verunsicherung wuchs. Gleichzeitig registrierte sie, dass Ellen sie beharrlich siezte. Wie brachte man das nach einem Orgasmus im Kopierraum fertig?

»Ja, das … wäre nett.«

Zu ihrem Erstaunen kümmerte sich Ellen persönlich um den Kaffee. Minutenlang war Nina alleine. Sie sah zu der Munch-Nachbildung und betrachtete das Gemälde aufmerksam. Sie fand das Motiv immer noch entsetzlich. Wieso wollte Ellen freiwillig auf eine vor Verzweiflung schreiende Frau starren, wenn sie von ihrem Notebook aufsah?

Ellen kam mit einem Tablett zurück, das sie auf den Tisch abstellte. Neben Ninas Kaffee stand eine Kanne Tee. Nina nahm dankbar ihre Tasse entgegen. Sie war froh, sich auf das Kaffeetrinken konzentrieren zu können. Als Ellen sich einschenkte, bemerkte Nina mit Verwunderung, dass deren Hand zitterte. Offenbar war sie nicht als einzige im Raum nervös und angespannt. Die Erkenntnis überraschte sie. War Ellen doch nicht die routinierte Verführerin, für die sie sie gehalten hatte? Oder hatte sie lediglich Angst davor, dass Nina Meldung beim Personalbüro machen und sie wegen eines sexuellen Übergriffes vor Gericht bringen würde?

Schließlich nahm Ellen mit einem Stapel Unterlagen auf dem Sofa Platz und begann, in einfachen Sätzen über die Entstehung von Thrombosen und den Wirkmechanismus der Pille zu reden. Irgendwann schaffte es Nina, das, was ihr Ellen erklärte, auch geistig aufzunehmen und anschließend beim Verfassen der Pressemitteilung zu verarbeiten. Ellens Korrekturen und Anmerkungen blieben auch diesmal nicht aus, doch wurden sie in einem weit angenehmeren Tonfall vorgetragen als bisher üblich.

Nina verließ das Büro zusammen mit Jasna erst gegen 22.00 Uhr. Den ganzen Tag über hatten sie Journalisten mit Informationen versorgt und Anfragen beantwortet, Jasna hatte zusätzlich mehrere Radiointerviews gegeben.

»Manchmal hasse ich diesen Job«, sagte Jasna, als sie vor dem LENOPHARM-Gebäude standen. Die Luft war frisch, aber nicht kalt, der Himmel sternenklar. Nina wurde zum ersten Mal in diesem Jahr bewusst, dass wirklich Frühling war. Selbst am Wochenende, als sie am Neusiedler See und damit mitten in der Natur gewesen waren, hatte sich dieses Frühlingsgefühl nicht bei ihr eingestellt. Für sie war alles grau gewesen, so sehr war sie in ihren Gedanken und Ängsten verhaftet gewesen.

»Wenn noch mehrere Tage wie dieser folgen würden, würde ich den Job hinschmeißen«, fuhr Jasna fort. »Es ist ein unglaublicher Stress.«

Nina war überrascht, das zu hören. Sie hatte bisher immer gefunden, Jasna bewältige sämtliche Stresssituationen spielerisch.

»Wie ging es dir heute mit Ellen?«

Nina zuckte unwillkürlich zusammen. Warum fragte Jasna danach? Ahnte sie etwas?

Sie schluckte trocken. »Sie war heute sehr hilfsbereit«, erwiderte sie schließlich wahrheitsgemäß.

»Sie ist immer sehr hilfsbereit«, meinte Jasna. »Ich weiß, du hast hin und wieder Schwierigkeiten mit ihr. Aber glaube mir, wenn du sie erst besser kennst, wirst du sehen, dass sie ein liebenswürdiger Mensch ist. Sie arbeitet nur zuviel, das ist alles.«

Nina schwieg und fragte sich, ob in Jasnas Augen der sexuelle Übergriff wohl ein Symptom der Überarbeitung dieses angeblich so liebenswürdigen Geschöpfes war. Sie stellte sich Jasnas geschocktes Gesicht vor, wenn sie davon erführe.

»Es tut mir leid, Nina, wenn ich heute so ungehalten zu dir war«, begann Jasna nun. »Ich weiß wirklich, dass der Job nicht leicht ist für dich. Du hast, wenn wir ehrlich sind, nicht viel Erfahrung im PR-Bereich. Texte schreiben kannst du wunderbar, keine Frage … den Rest musst du dir noch erarbeiten. Ich finde, du machst das für den Anfang gar nicht so schlecht. Du wirst sehen, in einem Jahr bewältigst du den Job mit links.«

Das zarte Lob kam für Nina gänzlich unerwartet, doch wirklich freuen konnte sie sich nicht. Der Schrecken über Jasnas harschen Morgenappell steckte ihr noch tief in den Knochen und dass sie kein PR-Profi war, wusste sie selbst. Weshalb sie trotzdem von Michaelis eingestellt worden war, hatte sie sich in den letzten Wochen sehr oft gefragt. Je mehr sie über ihn erfuhr, desto unwahrscheinlicher schien es ihr, dass sie diese Entscheidung bloßer Sympathie verdankte. Michaelis war einer der Hauptaktionäre bei LENOPHARM und hatte die österreichische Landesgesellschaft mehrere Jahre als Geschäftsführer geleitet. Zuvor war er für die Firma in Südafrika, Australien, den USA und Kanada führend tätig gewesen. Hinter seinem stets freundlichen und lockeren Lächeln verbarg sich ein knallharter Geschäftsmann, der genau wusste, was er wollte. Michaelis war Unternehmer, ein Mann, der Umsatzvorgaben dirigiert hatte und in wirtschaftlichen Kennzahlen dachte. Als sie Michaelis vor einiger Zeit im Dialog mit dem Geschäftsführer erlebte, wirkte der Geschäftsführer neben ihm wie ein eingeschüchterter Schuljunge.

»Warum hat er noch so viel mitzureden, wenn er doch in Pension ist?«, hatte Nina danach gefragt.

»Es fällt ihm wahrscheinlich schwer, Abschied vom Geschäftsleben zu nehmen«, hatte Jasna schulterzuckend geantwortet. »Außerdem hat er als einer der Großaktionäre ein berechtigtes Interesse, dass die Umsätze passen.«

Und dann stellt er eine Kinderbuchautorin ein, dachte sich Nina auch jetzt wieder, als sie sich an das Gespräch erinnerte. Das passt doch nicht ins Bild.

»Ich muss dir noch etwas sagen, Nina.« Jasna wurde sehr ernst. »Du bist die erste, die es erfährt – nach Brauer, dem musste ich das ja melden. Ich bin schwanger.«

Nina sah Jasna erstaunt an. Vergebens suchte sie ein Zeichen der Freude in deren Gesicht. »Wünschst du dir das Kind nicht?«, fragte sie vorsichtig.

Jasna zuckte mit den Schultern.

»Es war nicht geplant. Mirko und ich wollten keine weiteren Kinder. Außerdem handelt es sich nicht um ein Kind. Ich bekomme Zwillinge.«

»Oh!«

»Aber ich werde nicht abtreiben«, sagte Jasna. Nina hatte den Eindruck, dass sie nicht mehr zu ihr sprach, sondern zu sich selbst. »Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe.«

»Will dein Mann das etwa?«

Jasna lachte. Es klang bitter. »Mirko lässt mich das ganz allein entscheiden. Er tut so, als würde ihn das alles nichts angehen, verstehst du?«

Nina verstand das durchaus nicht. Was war das für ein Mann, der keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen wollte und seine Frau in dieser Situation allein ließ?

»Meine Schwiegermutter macht Terror«, klärte Jasna sie auf. »Für sie ist es ein Drama, wenn ich zu Hause bleiben muss, weil Mirko dann Alleinverdiener ist. Und das bedeutet, dass er kein Geld mehr nach unten schicken kann.«

Mit »unten« meinte Jasna Kroatien, wie Nina aus früheren Gesprächen wusste. Während Jasnas Familie schon frühzeitig emigriert war und sie die ganze Schullaufbahn und Ausbildung in Wien durchlaufen hatte, war ihr Mann Mirko erst während des Jugoslawien-Krieges nach Österreich geflohen. Er hatte wie Jasna in Wien Medizin studiert, im Gegensatz zu ihr das Studium aber nicht abgebrochen und arbeitete nun im AKH, dem Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, als Chirurg.

»Und deine Schwiegermutter verlangt deshalb, dass du abtreibst? Damit ihr beide Geld nach Hause bringt und dein Mann ihr weiterhin etwas davon schicken kann?«

»Sie verlangt nicht wortwörtlich, dass ich abtreibe«, stellte Jasna klar. »Sie will bloß nicht, dass unser zweites Einkommen wegfällt, das ist alles.«

»Warum müsst ihr sie denn überhaupt unterstützen – ich verstehe das nicht ganz.«

»Das kannst du auch nicht verstehen, Nina, weil du die Umstände nicht kennst. Du siehst Kroatien nur so, wie es alle im Urlaub sehen: ein schönes Land mit tollen Stränden und einer Wirtschaft, die tendenziell im Aufschwung ist. Aber vom Aufschwung profitieren nur wenige. Und gerade, was den Tourismus oder die Immobilienbranche betrifft, bleibt nicht viel Geld im Land. Es gibt Inseln, die gehören gar nicht mehr zu Kroatien, wenn man es genau nimmt. Die meisten Grundstücke sind in österreichischer oder deutscher Hand. Während des Krieges haben fremde Investoren gekauft, soviel sie konnten – weil sie dachten, dass der Krieg in absehbarer Zeit ein Ende hat. Und unsere Leute waren bereit, all ihren Besitz zu verkaufen – in der Annahme, dass der Krieg noch ewig dauern wird. Sie brauchten das Geld, um ins Ausland zu flüchten oder ihre Kinder zu unterstützen, die bereits ins Ausland geflüchtet waren. Die Eltern meines Mannes haben es genauso gehalten. Ohne ihre Hilfe hätte Mirko nicht Arzt werden können. Jetzt sind sie alt und arm, und natürlich erwarten sie Unterstützung. Ohne Mirkos finanzielle Hilfe sinkt ihr Lebensstandard drastisch.«

Nina versuchte einzuordnen, was sie gerade erfahren hatte. Noch nie war ihr ernsthaft in den Sinn gekommen, dass es in anderen Familien ganz anders laufen könnte als in ihrer eigenen. Weder ihr Vater noch ihre Mutter Clara hatten je ein regelmäßiges Einkommen gehabt. Nina konnte sich sowohl an die zahlreichen Gänge zum Arbeitsamt, bei denen sie ihre Mutter begleitet hatte, als auch an das Schlange Stehen bei der Sozialbehörde erinnern. Sie können mir hier doch sowieso keinen Job vermitteln, hatte Clara selbstbewusst den wechselnden Beratern erklärt. Ich bin freischaffende Künstlerin. Obwohl sie sich damit selbst zur potentiellen Arbeitslosenhilfe-Empfängerin deklassierte, hatte sie es immer wieder geschafft, ihre jeweiligen Berater geschickt um den Finger zu wickeln und die ihr angebotenen Jobs mit dubiosen Ausreden auszuschlagen. Nina hatte sie dafür stets bewundert, doch mit zunehmendem Alter waren ihr die Besuche beim Sozialamt immer peinlicher geworden.

»Vielleicht kannst du ja gleich nach der Geburt wieder arbeiten gehen«, schlug sie vor.

Jasna schnaubte. »Du kannst mir glauben – nichts würde ich lieber tun als genau das. Aber wer, glaubst du, kümmert sich den ganzen Tag um drei Kinder, darunter auch noch Zwillinge? Kinderbetreuung ist nicht nur schwer zu bekommen, sondern auch teuer zu bezahlen. Wir müssten so viel Geld für die Kinderbetreuung zahlen, dass für meine Schwiegereltern wieder nichts übrig bliebe.«

»Und wenn du dir die Betreuung mit Mirko teilst?«

Diesmal lachte Jasna zu Ninas Erstaunen herzhaft. »Du kennst die Männer nicht! Mirko und auf Kinder aufpassen, das funktioniert nicht. Das würde er nie tun.«

»Lukas schon«, kam es Nina über die Lippen, doch im selben Augenblick fragte sie sich bereits, ob dem wirklich so war. Würde Lukas freiwillig seine Musical-Ausbildung auf Eis legen und stattdessen ein Baby oder Kleinkind betreuen, damit sie arbeiten gehen konnte?

»Na, dann hast du Glück mit deinem Lukas!«, stellte Jasna trocken fest. »Üblich ist das nicht, glaube mir. Aber lassen wir das Thema. Ich finde schon eine Lösung. Ich will dich nicht damit belasten. Du hast sicher eigene Probleme – jeder hat das.«

Gedankenverloren ging Nina zur U-Bahn-Station. Auf einmal schienen ihr ihre eigenen Probleme winzig und unwichtig.

Jasna hatte einen Mann, der ihr in schwierigen Situationen nicht zur Seite stand, und eine Schwiegermutter, der ihr Lebensstandard anscheinend wichtiger war als ihre Enkel.

Und sie hatte lediglich mit einer Frau geschlafen, dabei im Grunde Spaß gehabt und heute feststellen können, dass sie entgegen ihren Erwartungen das erste Zusammentreffen nach diesem Ereignis ohne Nervenzusammenbruch überstanden hatte.

Ellen McGill hatte offenbar so wenig Interesse wie sie, diesen Zwischenfall zu thematisieren. Das war eine Lösung, mit der sie zumindest versuchen konnte, in dieser Firma noch eine Zeit lang zu überleben.

− GYNÄKOLOGE SCHÄTZT THROMBOSE-RISIKO FALSCH EIN – ANNINA (18) JETZT IM ROLLSTUHL!

− PILLE HAT RISIKEN: WENN DER ARZT VERSAGT

− GYNÄKOLOGE VERGISST THROMBOSE-CHECK – ANNINA (18) JETZT HALBSEITIG GELÄHMT

− TRAGISCHES SCHICKSAL EINER JUNGEN STEIRERIN: VERHÜTUNGSMITTEL MACHT SIE ZUM KRÜPPEL

− RISIKEN ERNST NEHMEN: AUF WAS FRAUEN BEI VERHÜTUNG ACHTEN MÜSSEN

Mit Entsetzen nahm Nina die Titelseiten der Tageszeitungen, die Jasna schwungvoll auf den Schreibtisch gelegt hatte, zur Kenntnis.

»Das ist doch gar nicht so schlecht«, fand Jasna zu ihrer Überraschung. »Ich meine, angesichts der Situation. Natürlich wäre es besser, wenn diese Sache mit der 18-Jährigen nie passiert wäre, das ist klar.«

Nina starrte sie perplex an. Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wiedergefunden hatte. »Diese Schlagzeilen sind doch furchtbar«, sagte sie schließlich. »Alles negativ!«

Jasna grinste. »Du bist wohl ein bisschen zu viel mit Ellen zusammen gewesen, oder wie? Die sieht auch nur immer rot – oder besser gesagt, schwarz.« Dass Nina bei der Erwähnung von Ellens Namen unweigerlich zusammenzuckte, entging ihr völlig. »Aus meiner Sicht sind diese Schlagzeilen ziemlich okay. Wir haben gestern gute Arbeit geleistet. Nirgends steht FENOLANE MACHT 18-JÄHRIGE ZUM KRÜPPEL! In keiner einzigen Überschrift wird der Produktname erwähnt, und nur in zwei der Artikel steht er etwas weiter unten im Text. Dass LENOPHARM der Hersteller ist, taucht gar nicht auf. Bis auf einen zielen alle Überschriften auf den Gynäkologen ab, der nicht nachgefragt hat, ob es in der Familie dieser Annina ein erhöhtes Thrombose-Risiko gibt.«

Eine halbe Stunde später trafen sie sich mit Fenolane-Produktmanagerin Lilli Muster in Ellen McGills Büro zur Tagesbesprechung.

Auch heute verspürte Nina wieder leichte Beklemmungen, als sie gemeinsam mit Jasna das Büro betrat. Dennoch – gemessen an ihren Empfindungen vom Vortag fühlte sie sich nun schon deutlich besser. Als sie vergangene Nacht todmüde ins Bett gefallen war – ohne Lukas, denn der war mit seinen Freunden unterwegs gewesen und erst zwei Stunden nach ihr zurückgekehrt –, hatte sie sich wie ein Mantra vorgesagt, dass eigentlich nichts passiert war. Je öfter sie dies vor sich hin gemurmelt hatte, desto mehr hatte sie selbst daran geglaubt. Irgendwann waren ihr die Augen zugefallen und sie hatte einen wunderbaren Traum gehabt, in dem Lukas und sie an einem Strand entlanggingen und Muscheln sammelten.

Nina versuchte an Lukas und die Muscheln zu denken, als sie jetzt auf dem einzig freien Platz direkt neben Ellen McGill auf dem Sofa Platz nahm.

»Es hätte schlimmer sein können«, meinte Ellen mit einem Blick auf die Zeitungen, die Jasna mitgebracht hatte.

»Ich frage mich, was diese Journalisten als Alternativlösung anbieten«, murmelte Kathrin Hanelka, eine schlanke Brünette Mitte dreißig, die für den Bereich Kontrazeptive verantwortlich war. »Sollen wir jetzt pausenlos schwanger werden, oder soll die Zahl der Abtreibungen wieder nach oben schnellen? Nichts anderes passiert doch, wenn die Medien pausenlos Verhütungsmittel schlechtreden.«

»Es gibt ja noch das gute alte Kondom«, warf Georg Waldmeister von der Medizin-Abteilung ein, und Jasna konterte prompt: »Das sagst ausgerechnet du als Mann!«

Waldmeister grinste verlegen.

»No sex«, sagte Ellen McGill trocken. »Das ist die einzige Alternative.«

»Und die ist impraktikabel«, ergänzte Kathrin Hanelka.

Nina fühlte, wie ihr unwillkürlich das Blut in den Kopf stieg. Ellen selbst schien ihren Faux pas nun ebenfalls zu bemerken. »Lassen wir das«, sagte sie steif. »Sprechen wir darüber, was uns heute erwartet. – Der Außendienst ist informiert, der Infobrief an unsere Gynäkologen wurde gestern noch verschickt. Ich denke, wir werden von dieser Seite verstärkt Nachfragen zu erwarten haben. Kümmerst du dich darum, Kathrin?«

»Natürlich. Ich habe meine sonstigen Termine abgesagt. Ich widme mich ausschließlich den Gynäkologen.« Sie richtete ihren Blick auf Nina. »Was ich aber schon noch sagen muss, bezüglich der Pressearbeit: Ich finde das nicht so gut, wenn von unserer Seite die Schuld auf den Gynäkologen geschoben wird. Wir wissen aufgrund unserer Recherchen ja nun genau, welcher Gynäkologe der behandelnde Arzt von dieser Annina war. Das ist einer unserer besten Kunden! Es ist sehr geschäftsschädigend, wenn Frau Blume in diesem Zusammenhang von einem Behandlungsfehler spricht.« Sie deutete auf den Artikel mit der Überschrift GYNÄKOLOGE SCHÄTZT THROMBOSE-RISIKO FALSCH EIN – ANNINA (18) JETZT IM ROLLSTUHL!

Zum zweiten Mal fühlte Nina, dass sie errötete – diesmal vor Scham. Offensichtlich machte sie einfach alles falsch.

Jasna holte bereits Luft, doch Ellen McGill war schneller.

»Nina hat das völlig richtig gemacht. Ich opfere lieber einen inkompetenten Gynäkologen als eines unserer umsatzstärksten Produkte. Wir distanzieren uns klar von Behandlungsfehlern.«

Nina hob überrascht den Kopf. Hatte Ellen sie gerade beim Vornamen genannt? Und tatsächlich verteidigt?

»Ich meine ja nur«, sagte Kathrin Hanelka nun unschlüssig. »Ich habe nur Bedenken …«

Ellen fuhr ihr hart ins Wort. »Wir haben alle Bedenken, Kathrin. Wir sind in einer Krisensituation. Es wäre schlimm, wenn wir alle handeln würden, ohne je Bedenken zu haben. Aber irgendwann ist es auch gut. Es bringt nichts, alles immer weiter zu hinterfragen. Wir drehen uns sonst im Kreise. – Ich denke, unsere Presseabteilung hat gute Arbeit geleistet.«

Keiner wagte ein weiteres Wort dazu. Jasna grinste, als würden ihr allein die Komplimente gelten. Nina versuchte still und unbemerkt von den Blicken der anderen zu verarbeiten, dass sie von Ellen McGill gerade ein Lob bekommen hatte.

»Um zehn Uhr ist eine internationale Telefonkonferenz«, fuhr Ellen nun fort. »Für PR und Marketing; natürlich ist unsere Krise das Thema. Ich habe schon Nachricht von Kollegen aus Italien und Great Britain; Fenolane wird auch hier für LENOPHARM ein Thema. Der Fall Annina wird auch dort von den Medien aufgegriffen; es gibt schon vereinzelt Meldungen darüber. Um zehn Uhr wird über die weitere Strategie beraten. Ich schlage vor, dass Nina und ich an der Telefonkonferenz teilnehmen.«

Nina zuckte unmerklich zusammen. Telefonkonferenz. Sie hatte noch nie an einer Telefonkonferenz teilgenommen. Das Wort »international« kündigte obendrein an, dass die Gespräche auf Englisch stattfanden. Und dann auch noch gemeinsam mit Ellen McGill …

Um kurz vor zehn klopfte sie an Ellens Bürotüre. Die Vorstellung, die nächsten sechzig Minuten allein mit ihr in einem Raum zu verbringen, bereitete Nina trotz ihres inneren Mantras »Es-ist-nichts-passiert« Unbehagen.

Ellen McGill wirkte sachlich und kühl wie eh und je, als sie sie aufforderte, Platz zu nehmen. Nina verfolgte aufmerksam, wie Ellen sich in die Telefonkonferenz mittels eines vorgegebenen Zahlencodes einwählte.

Die Diskussion verlief schleppend. Nina hatte Mühe, den Verhandlungen zu folgen. Die Leitung wurde immer wieder durch schrille Pfeiftöne und andere Nebengeräusche gestört; jeder sprach Englisch mit einem eigentümlichen Akzent. Es fielen Worte, die Nina noch nie gehört hatte. Auch Ellen runzelte ein paar Mal irritiert die Stirn, was Nina wiederum beruhigte – offensichtlich lag es nicht nur an ihrem schmalen Wortschatz, dass sie vieles nicht verstand.

Ellen stellte einige Fragen, die das Fenolane-Marketing betrafen und zu heftigen Diskussionen zwischen einem Herren mit deutschem Akzent und einem anderen Herren mit osteuropäischem Akzent führten. Nina kannte beide nicht, und den Kollegen aus Osteuropa verstand sie zudem kaum.

Sie musterte Ellen verstohlen von der Seite. Wer war diese Frau, die in abgelegenen Zimmern plötzlich über andere Frauen herfiel wie ein wildes Tier? Was mochte in ihr vorgehen? Sie wirkte immer so sachlich und ernst, verbarg jede Gefühlsregung hinter dieser unsichtbaren, undurchdringlichen Maske. Nina hatte sie noch nie lachen hören. Sie fragte sich, was der Grund dafür war. Lag es an Ellens Charakter, der nun einmal so unzugänglich war, oder hatte sie Angst, ihre Karriere zu gefährden, wenn sie Emotionen zeigte?

Ninas Blick glitt unwillkürlich Ellens Körper entlang. Es war nicht zu leugnen, dass sie diese Frau auf irritierende Weise anziehend fand. Sie hatte einen außergewöhnlichen Stil, trat kompetent und gewandt auf, wenn es um geschäftliche Beziehungen und Problemdiskussionen ging, und verbarg hinter ihrer kühlen Fassade eine Tiefe, die ihrer Ausstrahlung einen Hauch von Mystik verlieh.

Ellens linke Hand lag bewegungslos zwischen Notebook und Telefonanlage. Die Finger der Rechten bewegten sich im Takt einer Melodie, die nur Ellen selbst kennen mochte. Nina beobachtete Ellens lautlos auf die gläserne Tischplatte trommelnde Finger und versuchte zu erraten, welche Melodie sie spielen mochte. Ellen hatte lange, schlanke Finger. Kein Zweifel, dass diese Finger sehr geübt über die Tastatur eines Klaviers gleiten konnten. Es waren Klavierspielerhände, wie Nina sie aus dem Kreis ihrer Eltern kannte.

Doch diese Finger konnten nicht nur Klavier spielen … Nina dachte unweigerlich daran, was Ellens Berührung zwischen ihren Beinen bewirkt hatte, und sie fühlte eine angenehme Hitze in sich aufsteigen. Zugleich mit der Hitze kam die Scham. Warum löste der bloße Gedanke an die Art und Weise, wie Ellen sie berührt hatte, so starke Gefühlswallungen bei ihr aus? Warum passierte nichts von dem, wenn Lukas sie berührte? – Sie hatten während der Urlaubswoche an Ostern mehrmals miteinander geschlafen, doch sie selbst hatte kein so großes Bedürfnis danach verspürt. Das war nicht ungewöhnlich für sie – Sex war nun einmal nicht das Bindeglied ihrer Beziehung zu Lukas. Auch nicht zu anderen Männern. Seit sie das erste Mal mit einem Mann geschlafen hatte, war sie der Überzeugung, dass sie zu jenen Frauen gehörte, die in dieser Hinsicht nicht besonders viel empfanden. Bisher hatte ihre Unlust, zum Höhepunkt zu kommen, sie nicht besonders beschäftigt. Sie hatte sich auch bei ihren Ex-Freunden immer mit dem Gedanken getröstet, dass Sex nur eine Nebensache war und ihre Empfindungen weit über bloße Lustbefriedigung hinausgingen.

Ellen hatte sie etwas Besseren belehrt. Sie hatte unweigerlich eine Türe geöffnet und einen Weg gezeigt, von dem Nina weder wusste, ob sie ihn beschreiten wollte, noch, ob sie ihn je wieder verlassen konnte. Es war für sie eine komplett neue Erkenntnis gewesen, dass sie sehr viel mehr empfinden konnte als nur ein angenehmes Gefühl körperlicher Verbundenheit.

Sie schlief also weiterhin mit Lukas in der Hoffnung, dass es auch mit ihm mehr geben musste. Sie schlief mit ihm, um sich zu beweisen, dass ihre Fähigkeit, Sex zu genießen, nicht an Ellen McGill gebunden war, und es beschämte sie, dass ihr Körper bei Lukas nicht im Ansatz zeigte, zu welcher Leidenschaft er fähig war. Sie konnte es nicht steuern. Lukas war der Mensch, dem sie vertraute, den sie liebte, mit dem sie seit knapp zwei Jahren Freud und Leid teilte. Ellen Mc-Gill dagegen war eine im Grunde fremde Person, die sich ihr gegenüber verschlossen und seltsam verhielt und die sich ihrer bemächtigt hatte, ohne vorher zu fragen. War es eine Art emotionaler Sadomasochismus, der ihre Empfindungen beim Sex mit Ellen so intensiv gemacht hatte? Gehörte sie zu jener Gruppe von Menschen, die zur sexuellen Stimulation gedemütigt oder überwältigt werden mussten? Kam sie zum Höhepunkt, nur weil Ellen sie wochenlang kalt und unzugänglich behandelt hatte? Und verlor Sex seinen Reiz, wenn jemand nett zu ihr war?

Nina beunruhigten diese Fragen, die sich ihr aufdrängten, weil sie das Gefühl hatte, sich selbst nicht mehr zu kennen.

Und noch mehr beunruhigte sie, dass sie noch immer Ellens Finger anstarrte und sich zurück in den Kopierraum wünschte. Das Gefühl von Ellens Fingern, die unter ihren Tanga glitten …

»Nina? – It’s your turn.« Ellens Stimme neben ihr riss sie aus ihren Phantasien. Sie war der Telefonkonferenz schon gute zehn Minuten nicht mehr gefolgt. Sie hatte keine Ahnung, was gesprochen worden war, was von ihr erwartet wurde und was sie nun sagen sollte. Die Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sich ihre Blicke trafen. In Ellens graugrünen Augen flackerte kurz etwas auf, was Nina nicht zu deuten vermochte. War es Amüsement oder Ärger? Ein Gefühl jedenfalls, das für einen kurzen Moment Ellens maskenhaftes Antlitz durchbrach und sie die Antwort auf die Frage geben ließ, die eigentlich Nina gegolten hatte.

Ellen führte sehr gewandt aus, wie die Medienanfragen bisher beantwortet worden waren und wie das bisherige Medienecho in Österreich tendenziell ausfiel. Nina war dankbar, dass sie diesen Job übernahm. Sie wusste, sie hätte mühsam nach den richtigen Worten suchen müssen und die Berichterstattung niemals so komprimiert und elegant zusammenfassen können.

Dennoch dachte sie gleichzeitig, dass Ellen sie sicher für komplett unfähig halten musste, und diese Vorstellung behagte ihr ganz und gar nicht. Wieder einmal fühlte sie sich den Herausforderungen, mit denen sie bei LENOPHARM fast tagtäglich konfrontiert war, nicht gewachsen.

Mit dem Ende der Telefonkonferenz war auch von internationaler Seite beschlossen worden, dass Österreich eine Art Fragen-und-Antworten-Katalog, kurz FAQ-Katalog genannt, zum Thema Fenolane und Journalistenanfragen zusammenstellen sollte – auf Englisch. Nina zog es krampfartig den Magen zusammen, als sie das hörte. Sie wusste, sie würde die Aufgabe niemals in zufriedenstellender Weise bewältigen, und wagte den metaphorischen Sprung ins kalte Wasser, als Ellen den Hörer aufgelegt hatte: »Ich kann das nicht. Mein Englisch ist zu schlecht.«

Es kostete sie große Überwindung, dies offen auszusprechen, auch wenn es die Wahrheit war. Sie wusste, dass sie damit unwillkürlich bestätigte, was ohnehin viele in der Firma dachten: dass sie dem Job nicht gewachsen war. Es ausgerechnet jener Person zu gestehen, die ihr dieses Gefühl am stärksten vermittelt hatte, glich für sie einem Seelenstriptease. Daher traf es sie bis ins Mark, als Ellen plötzlich wieder zu jener abweisenden Person wurde, als die Nina sie kennengelernt hatte. Das sei nicht ihr Problem, beschied ihr Ellen auf Englisch. Englisch sei nun einmal die Firmensprache. Nina müsse das bewältigen, egal wie, schließlich sei sie für die PR verantwortlich. Sie weigere sich, Ninas Job noch zusätzlich zu ihrem eigenen zu erledigen.

Nina fühlte sich, als wäre sie kopfüber in Eiswasser getaucht worden, als sie Ellen McGills Büro verließ. Gleichzeitig spürte sie die kalte Ernüchterung, die von ihr Besitz ergriff: Wie hatte sie nur so dumm sein und annehmen können, dass Ellen McGill eventuell Gewissensbisse aufgrund des Vorfalls im Kopierraum plagten – oder, mehr noch, dass er ihr irgendetwas bedeutete?

Ellen McGill verachtete sie.

Und trotzdem blieb die Erinnerung, wie sich ihre Berührungen anfühlten, in Nina lebendig. Sie kämpfte mit den Tränen, als sie auf dem Rückweg in ihr Büro war, und verabscheute sich selbst für ihre Empfindungen.

Nina kam gegen 20.00 Uhr nach Hause. Sie war müde, fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. Bereits als sie die Haustüre aufsperrte, hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. Es roch nach Zigarettenrauch.

Sie unterdrückte den leisen Ärger, der in ihr hochkam. Im Wohnzimmer waren drei Köpfe über ein Blatt Papier gebeugt, auf dem Nina zunächst nur wirre Striche und Pfeile erkannte, und hoben sich erstaunt, als sie nun höflich grüßte und sich im selben Augenblick fragte, woher diese sichtliche Verwunderung über ihr Erscheinen herrührte.

Einer der Köpfe war der blonde Haarschopf von Lukas.

»Was macht du denn hier?«, fragte er. Nina glaubte, aus seiner Stimme einen leichten Vorwurf heraus zu hören.

»Ich wohne hier«, sagte sie und ließ sich auf das Sofa fallen.

Sie musterte die kleine Gruppe, die sich um den Esstisch geschart hatte und sich offensichtlich ganz heimelig fühlte, mit innerlicher Missbilligung. Ein voller Aschenbecher, eine leere Weinflasche und eine zweite, die nur noch halbvoll war, zeugten von fröhlichen Stunden.

»Lukas hat schon gesagt, dass du bist kaum noch zu Hau-säää!«, informierte sie Marga, der hellbraune Haarschopf, in ihrem breiten Jargon. »Immer tust du nur arbeitään für diese Firma!« Sie zündete sich prompt eine weitere Zigarette an.

Tut das deiner Stim-mää nicht gut, hätte Nina am liebsten sarkastisch zurückgegeben, doch sie fühlte sich zu erschöpft, um jetzt eine Raucherdiskussion zu beginnen. Es störte sie, dass Lukas mit Marga offensichtlich ihre An- und Abwesenheiten diskutierte.

»Ich finde, du wirst dort wirklich ausgenutzt«, sagte Sonja, deren Gesicht ehrliche Anteilnahme widerspiegelte. »Das ist echt nicht normal, dass du erst jetzt nach Hause kommst.«

»Es ist ja nicht immer so«, meinte Nina und unterdrückte ein Gähnen. Sie wäre am liebsten gleich ins Bett gekrochen, wollte aber nicht vor Lukas Freunden als Schlafsuse gelten. »Wir haben derzeit eine Krise. Es gibt Probleme mit einer Pille. Daher bin ich im Pressebüro verstärkt im Einsatz.«

»Ach so«, sagte Sonja. »Du Arme.«

Marga blies kleine Rauchwölkchen in die Luft und sagte: »Ich habe gesäh-än, im TV, heute am Nachmittag oder frühe Abend, dass da ist ein Mädchen fast gestor-bän wägen eine Pille! Und so eine auf-gebrä-zzzelte Tussi von diese Pharmakon-zärrn und ein Arzt haben gesagt, dass es kann vorkommen mit die Pille! – Also, ich wär-de nicht mä-hr nehmen so eine Pille!«

Der kleine Beitrag im ORF, in dem Jasna mit einem Statement vertreten war, war folglich schon ausgestrahlt worden, schloss Nina. Sie würde den Mitschnitt des Beitrages noch durch den Medienbeobachtungsdienst zugestellt bekommen. Jasna hatte gesagt, die Aufzeichnung sei gut gelaufen.

Es ärgerte Nina, dass Marga Jasna als »aufgebretzelte Tussi« bezeichnete. Und sie hatte offenbar keine Ahnung von den Risiken, obgleich sie anscheinend selbst die Pille nahm.

»Die Pille kann nun mal das Thromboserisiko bei besonders gefährdeten Patientinnen erhöhen«, klärte sie auf. »Das ist bei jeder Verhütungspille so. Deshalb ist es ja auch dringend erforderlich, dass der Arzt vor der Verschreibung einen Risikocheck macht – dass er beispielsweise fragt, ob es in der Familie Schlaganfälle bei noch jüngeren Familienmitgliedern gegeben hat; dass er registriert, wie alt die Patientin ist und Faktoren beachtet wie beispielsweise das Rauchen.« Sie konnte nicht umhin, Marga ein sarkastisches Lächeln zu schenken. »Bei Raucherinnen erhöht sich das Thrombose-Risiko nämlich deutlich.«

»Das ist ja furchtbar!«, sagte Sonja erschüttert. »Das habe ich überhaupt nicht gewusst. Ab sofort nehme ich die Pille nicht mehr!«

Nina lächelte. »Keine Sorge, Sonja, das sollte nicht die Kernbotschaft sein. Das Thromboserisiko bei einer Schwangerschaft ist sogar um vieles höher. Und die Pille kann ja auch viele Vorteile haben, das muss schon auch gesagt werden. Sie ermöglicht Frauen immerhin ein selbstbestimmtes Sexualleben, kann bei Hautproblemen helfen und Regelschmerzen lindern. Vor Kurzem hat eine Studie sogar gezeigt, dass das Risiko, an Eierstockkrebs zu erkranken, bei Frauen, die orale Kontrazeptiva nehmen, signifikant unter dem Wert liegt, den die Kontrollgruppe aufweist – also Frauen, die nie mit der Pille verhütet haben.«

Lukas, Sonja und Marga starrten sie mit offenem Mund an. Nina runzelte die Stirn. Was war denn los? Sie hatte doch nichts Falsches gesagt!

»Orale … was? Kontraspezifa? Was ist denn das?«, wiederholte Sonja verwirrt.

»Signifikanter Kontrollverlust?«, erkundigte sich Lukas in gespieltem Ernst. Marga begann zu lachen, und die beiden anderen stimmten in das Gelächter ein. Sie lachten und lachten, und Marga liefen bereits nach kurzer Zeit Tränen der Heiterkeit über das Gesicht. Einzig und allein Nina begriff nicht, was der Anlass für diesen Lachanfall war. Marga klärte sie schließlich auf, indem sie Lukas kameradschaftlich auf die Schulter schlug und lauthals verkündete:

»Deine Frein-din rä-det wie brain-washed! Absolute Gehirnwäsche haben die mit ihr gemacht!«

Lukas grinste breit. »Tja, Nina wird allmählich zur lebendigen Werbe-Ikone der Pharmaindustrie. Ich verstehe auch nicht, warum sie sich so für die Pillendreher begeistern kann.«

Nina starrte von Lukas zu Marga und von Marga zu Lukas, sah deren erheiterte Mienen und fragte sich, ob hier neben Alkohol noch andere chemische Substanzen die Hirne vernebelten. Dass Marga es nicht besser wusste und seit jeher ihr gegenüber eine gewisse Herablassung an den Tag legte, traf sie weit weniger als das Verhalten ihres Freundes. Er wusste doch ganz genau, dass sie nicht aus Leidenschaft und Faszination für LENOPHARM arbeitete!

»Wir wollten das hier noch fertig machen«, mahnte Sonja nun und lenkte die Aufmerksamkeit von Nina, die noch immer in Sprachlosigkeit verharrte, um auf die Striche und Pfeile am Blatt. »Viel haben wir sowieso noch nicht geschafft.«

»Aber jetzt!«, verkündete Lukas und lachte über seine eigene Aussage. »Die Nacht ist noch jung – je später am Abend, desto kreativer werde ich.«

»Bei mirrr ist es ganz genauso!«, dröhnte Marga.

Nina verließ wortlos den Raum und ging in die Küche. Sie fühlte sich ausgegrenzt, ausgelacht und verärgert. Es war ihr Wohnzimmer, ihre Wohnung, sie zahlte die Miete – und die drei amüsierten sich auf ihre Kosten. Es war ihr Geschirr, das Lukas benutzte und anschließend schmutzig ins Becken stapelte. Während sie wütend einen der Töpfe von angebranntem Reis befreite, fragte sie sich zum ersten Mal seit sie zu Lukas nach Wien gezogen war, ob sie sich richtig entschieden hatte. Wäre es nicht besser gewesen, erst einmal eine Fernbeziehung aufrechtzuerhalten?

Sie hatte Lukas vor rund zwei Jahren bei einem Open-Air-Festival in der Nähe von Salzburg kennengelernt. Da hatte sie gerade ihre Ausbildung zur Illustratorin abgebrochen, weil es nicht das gewesen war, was sie sich vorgestellt hatte, und jobbte als Rezeptionistin bei einer Werbeagentur und stundenweise in einem Callcenter. Nina wohnte in München, wohin sie vor Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter gezogen war. Inzwischen lebte ihre Mutter mit ihrem Lebensgefährten an der Nordsee, doch Nina war da bereits 22, frisch verliebt in einen Münchner und nicht willens, ihren Wohnort schon wieder zu ändern. Zu oft war sie während ihrer Kindheit und Teenagerjahre umgezogen.

Die Beziehung zu dem Münchner ging in die Brüche, doch Nina blieb, weil sie inzwischen einige Leute kannte und Jobs hatte, mit denen sie sich durchschlagen konnte. Im Callcenter war sie zuständig für Meinungsumfragen. Doch mehr als vier Stunden täglich schaffte sie es nicht, Leuten am Telefon immer wieder dieselben Fragen und Antwortmöglichkeiten vorzulesen und jene Unfreundlichkeit über sich ergehen zu lassen, die Leute an den Tag legen, wenn sie Beute von Telefonmarketing werden.

Das einzig Gute an diesem Job war für Nina die Bekanntschaft mit Inga, einer blondlockigen Kunsthistorik-Studentin, die fast immer zeitgleich mit ihr Dienst hatte und die durch ihren Humor und ihre Heiterkeit dazu beitrug, dass die Zeit im Callcenter schneller verging. Inga und sie verstanden sich blendend und trafen sich schließlich auch privat. Sie gingen ins Kino, klammerten sich bei Horrorfilmen in aufgesetzter Panik aneinander, wischten sich bei schmalzigen Liebesfilmen beide gleichzeitig verstohlene Tränen aus den Augen, tanzten in Salsa-Clubs bis in die frühen Morgenstunden und trösteten einander, wenn Liebeskummer sie quälte. Mit Inga war sie damals zu dem Open-Air-Festival nach Salzburg gefahren, auf dem sie sich in Lukas verliebte.

Bereits am Wochenende darauf kam Lukas nach München, und am übernächsten Wochenende reiste Nina dann in eine Kleinstadt, von deren Existenz sie bis zu ihrer neuen Bekanntschaft nicht einmal etwas geahnt hatte: Regen im Bayerischen Wald.

Lukas wohnte, was er ihr bis zu ihrer Ankunft am Bahnhof verschwiegen hatte, noch in seinem Kinderzimmer im Hause seiner Eltern. Nina war in der Tat überrascht – hatte er ihr nicht gesagt, er arbeite bereits seit dem Abitur bei einer Bank?

An diesem Wochenende erfuhr sie, dass Lukas eigentlich ganz andere Pläne hatte als lebenslänglich am Banktresen zu stehen: Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Musical-Star zu werden. Doch die Grundbedingung für den Sanktus und die damit verbundene finanzielle Unterstützung seiner Eltern war, dass er sich bereiterklärt hatte, zuvor zumindest einen soliden bürgerlichen Beruf zu erlernen. Die Wahl war auf eine Banklehre gefallen, weil die Bank am Ort war und Lukas zu Hause wohnen bleiben wollte, um möglichst viel Geld für die Musical-Ausbildung zu sparen. Seine Eltern konnten nicht mehr Unterstützung aufbringen, als dass es für die Miete und eventuell einen bescheidenen Lebensunterhalt reichen würde, denn sie mussten noch das große Einfamilienhaus abbezahlen.

Für Nina war Lukas’ Familie wie der Eintritt in eine neue Welt. Sie hatte zuvor noch niemanden mit eigenem Haus näher kennengelernt, und sie kannte auch keine Leute, die bereits in dem Ort geboren waren, in dem sie lebten, und auch vorhatten, dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Sie hatte zuvor auch nie Leute kennengelernt, die Porzellanpuppen in eigens dafür angefertigten Vitrinen sammelten, jeden Samstag mit ihrem BMW extra zur Tankstelle fuhren, um ihn durch die Waschanlage zu schicken, und sich gegenseitig mit »Mama« und »Papa« anredeten. Sie merkte, dass sie in dieses Leben nie passen würde, und fühlte sich bei ihren Aufenthalten in Regen nie besonders wohl. Lukas’ Eltern waren freundlich zu ihr, doch Nina spürte immer, dass sie nicht die Schwiegertochter verkörperte, die sie sich erträumten.

Sie war über jedes Wochenende dankbar gewesen, an dem Lukas nach München kam. Oft war das jedoch nicht der Fall, denn er erklärte ihr schon bald, dass er sich die Fahrt nach München höchstens einmal im Monat leisten könne. Schließlich spare er ja für die Musical-Ausbildung.

Nina hatte dafür Verständnis. Sie bewunderte, dass Lukas so genau wusste, was er ist seinem Leben anfangen wollte, während sie, die sogar zwei Jahre älter war als er, noch immer unschlüssig von einem Kurzzeitjob zum nächsten sprang. Als er ihr schließlich eröffnete, er werde die Musical-Ausbildung in Wien absolvieren, war sie regelrecht erleichtert – sie hatte die Wochenenden in Regen inzwischen mehr als nur satt.

Das Ticket nach Wien war um etliches teurer. Nina sah bald, dass wöchentliche Zugfahrten für sie nicht zu finanzieren waren. So erhöhte sie ihre Anwesenheit im Callcenter auf sechs Stunden pro Tag, obwohl sie danach regelmäßig mit den Nerven am Ende war.

Lukas verstand nicht, warum es ihr nicht gelang, zumindest bis Passau schwarzzufahren und dann erst beim österreichischen Schaffner ein Ticket zu lösen. Er selbst halte es immer so, versicherte er ihr. Ob sie sich nicht während der Kontrolle einfach auf der Toilette verstecken könne? Nina aber wurde schon schlecht vor Angst, wenn sie nur daran dachte, bei Zugfahrten mit regelmäßigen Kontrollen schwarzzufahren. Lieber nahm sie in Kauf, dass ihr Konto gelegentlich ins Minus rutschte. Als aus dem gelegentlichen Minus jedoch ein permanentes Minus wurde, das sich trotz ihrer Bemühungen nicht mehr zu füllen schien, zog sie die Notbremse und bat Lukas um das gemeinsame Finden einer Lösung.

»Zieh doch zu mir nach Wien!«, lautete sein Vorschlag. »Ich vermiss dich sowieso unheimlich, es wäre echt mein allergrößter Wunsch, täglich mit dir zusammen zu sein.«

Nina war zutiefst berührt. Noch keiner ihrer Ex-Freunde hatte mit ihr zusammenziehen wollen, selbst Heiko nicht, mit dem sie über drei Jahre zusammen gewesen war.

Lass dir lieber Zeit mit dem Umzug, hatte Inga gewarnt. So gut kennt ihr euch doch noch gar nicht. – Außerdem: Lukas hat bisher nur bei seinen Eltern gewohnt. Das bedeutet: Pension Mama! Lass ihn erst ein bisschen alleine wohnen, damit er weiß, wie es ist, einen eigenen Haushalt zu führen. Nicht, dass dann alles an dir hängenbleibt. Doch Ninas Liebe zu Lukas war letztendlich stärker gewesen. Sie verkaufte die wenigen Möbel, die sie besaß, und übersiedelte nach Wien.

Ich verstehe dich nicht, hatte Inga kopfschüttelnd kommentiert. Die Freundschaft hatte von diesem Zeitpunkt an einen leichten Knick erlitten. Als Nina schließlich in Wien war, hatten sie anfangs jede Woche telefoniert und in den ersten Monaten noch gelegentlich Mails ausgetauscht. Doch die Texte, die sie sich hin- und herschickten, wurden von Mal zu Mal dürftiger. Das letzte, was Nina von Inga gehört hatte, war, dass sie sich in einen kalifornischen Jazzmusiker verliebt hatte.

Während sie jetzt verärgert Lukas’ Geschirr abspülte, dachte sie an Ingas Worte. Pension Mama? Sie wusch nicht nur das Geschirr, sondern putzte auch noch Dusche, Waschbecken und Küchenboden, weil ihr alles lieber war, als Margas schrilles Gelächter und ihre Kommentare aus nächster Nähe hören zu müssen. Drei Stunden später blitzte die Küche wie die Kulisse für einen Putzmittel-Werbespot; Nina taten alle Gelenke und Muskeln weh, an ihren Händen und Unterarmen hatte sie pickeligen roten Ausschlag als Reaktion auf das günstige Putzmittel, das sie stets im »Ein-Euro-Shop« ums Eck kauften, aber immerhin verabschiedeten sich Marga und Sonja nun und gingen endlich, endlich nach Hause.

Die Türe war kaum hinter ihnen ins Schloss gefallen, als Lukas auf Nina zutrat und mit gerunzelter Stirn fragte: »Sag mal, was ist denn mit dir heute los? Du bist ja heute total überdreht! – Kriegst du deine Tage?«

Nina musste sich beherrschen, um ihm nicht den Putzlappen um die Ohren zu schlagen, den sie noch immer in den Händen hielt. Doch statt ihm die Meinung zu sagen, ihn vielleicht auch wütend anzuschreien, traten ihr nur Tränen der Enttäuschung und Wut in die Augen. Die Erkenntnis, dass ihr ihre eigene Schwäche wieder einmal zum Verhängnis wurde, steigerte ihre innere Verzweiflung um ein Vielfaches. Schluchzend ging sie an Lukas vorbei in das verrauchte Wohnzimmer und warf sich weinend auf die Couch.

Sie hatte das Leben, das sie führte, absolut satt. Noch nie war sie so unglücklich gewesen wie jetzt. Immer hatte sie die Zuversicht besessen, dass dunkle Lebensphasen nicht ewig andauern würden. Doch jetzt sah sie kein Licht. Ihr Leben würde für die nächsten Jahre so weitergehen. Sie würde bei LENOPHARM bis spät in die Nacht hinein arbeiten, Lukas würde auf seine Chance als Musical-Star warten, sie hätten immer zu wenig Geld und obendrein zu wenig Zeit füreinander. Und zudem musste sie auf ewig mit der Gewissheit leben, dass sie Sex mit einer Frau, die sie hasste, mehr genoss als Sex mit dem Mann, den sie liebte.

Später lag sie neben Lukas im Bett und fand lange keinen Schlaf. Sie betrachtete im Halbdunkel der Wohnung sein friedliches, jugendliches Gesicht. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Bereits nach wenigen Minuten auf dem Couchbett war er eingeschlafen. Sie selbst wünschte sich in diesem Moment, die Uhr zurückdrehen zu können. Sie wollte auch wieder tief und fest schlafen können, am liebsten in Lukas’ Armen, und vor allem frei von den Gedanken an LENOPHARM, Fenolane, die über hundert Mails, die sie täglich bekam – und frei von Ellen McGill.

Was zu Beginn der Woche noch Thema Nummer eins in allen Medien gewesen war, fand am Freitag derselben Woche allenfalls noch als Fünfzeiler in einigen Printausgaben Erwähnung. Die Fenolane war für Journalisten kein Thema mehr. Die jüngsten Anschläge im Irak, der mögliche Einsatz von Prinz Harry im Krisengebiet und die Diskussionen über die Umgestaltung des Schulwesens verdrängten das Verhütungsmittel aus den Schlagzeilen, und kein einziger Mitarbeiter von LENOPHARM war darüber unglücklich, am wenigsten natürlich Nina.

Endlich konnte sie sich wieder all jenen Themen widmen, die in den vergangenen Tagen liegengeblieben waren. Eine ihrer größten Baustellen war die Gestaltung der neuen Website. Sie war verwundert gewesen, dass man ihr die Aufgabe übertrug, aber offenbar traute man einer Zeichnerin das nötige Geschick zu. Eine professionelle Webagentur würde ihren Entwurf dann technisch umsetzen. Bis zum Sommer wollte der Geschäftsführer eine komplette Überarbeitung des bestehenden Webauftritts.

Auch wenn sie innerhalb der vom Konzern vorgegebenen Corporate-Identity-Richtlinien wenig Spielraum bei der Gestaltung der Website hatte, machte ihr die Konzeption dennoch mehr Spaß als das Verfassen von Pressemitteilungen zu diversen LENOPHARM-Produkten. Innerhalb der Vorgaben konnte sie mit graphischen Elementen arbeiten und konzipieren, wie User schnellstmöglich zu den richtigen Informationen gelangten.

Je länger sie an der Neukonzeption arbeitete, desto mehr Freude machte ihr diese neue Aufgabe und desto mehr Ideen kamen ihr für die Detailgestaltung. Sie hatte ganz vergessen, auf die Uhr zu schauen, und war daher erstaunt, als Jasna Milic plötzlich mit Jacke und Tasche unter dem Arm vor ihr stand und sich ins Wochenende verabschiedete.

»Länger als bis 15 Uhr arbeite ich heute wirklich nicht«, erklärte sie entschieden. »Nach dieser Horrorwoche haben wir uns nun wirklich etwas Entspannung verdient. – Dass du dieses Wochenende bloß zu Hause bleibst, Nina! Lass dich nicht von Ellen zum Arbeiten verleiten. Irgendwann ist Schluss.«

»Ich hoffe, es entwickelt sich nicht wieder eine Krise«, bemerkte Nina skeptisch. »Sonst bleibt mir wohl keine Wahl.«

»Positiv denken!« Jasna grinste. »Also, ich muss jetzt los. Ich habe noch einen Termin beim Frauenarzt.« Jasna winkte ihr zum Abschied kurz zu und verschwand.

Kaum hatte sich Nina wieder in ihre Arbeit vertieft, klingelte das Telefon. Lilli Muster war am Apparat.

»Ich rufe an, weil ich dich zu einer kleinen Arbeitsunterbrechung animieren soll.«

Nina musste unwillkürlich lächeln. Lillis Stimme klang vergnügt und heiter und riss sie aus ihrem Arbeitstrott. Sie kannte Lilli noch nicht besonders gut, aber bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich bisher über den Weg gelaufen waren, hatte sie einen positiven Eindruck von ihr gewonnen. Sie verstanden sich und waren außerdem im gleichen Alter.

»Ellen hat der ganzen Abteilung Eis spendiert«, fuhr Lilli nun fort. »Steht bereits bei Stephanie im Vorzimmer für uns bereit.«

Nina schwieg. Sie war Ellen seit der Telefonkonferenz bewusst aus dem Weg gegangen, was offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Vorstellung, jetzt mit ihr ein Eis zu essen, behagte ihr nicht sonderlich.

»Für eure Abteilung hat sie das Eis spendiert«, sagte sie schließlich. »Ich bin aber in der PR und nicht in eurer Abteilung.«

Lilli stöhnte. »Nina! Sei nicht so kompliziert. – Ellen hat ausdrücklich gesagt, ich soll dich anrufen. Also, komm bitte zu mir herunter, und wir machen uns ein nettes halbes Stündchen, ehe wir aus dem Büro verschwinden. Heute ist so ein schöner Tag, da sollten wir nicht ewig hier hocken.«

Wenig später saß sie mit Lilli in deren kleinem Büro mit Blick über den Wien-Fluss auf den ersten Bezirk und löffelte köstliches Erdbeereis. Von Ellen selbst fehlte jede Spur.

»Du hast einen tollen Ausblick«, stellte sie erstaunt fest. Sie hatte nicht erwartet, dass Lilli als junge Produktmanagerin ein Einzelbüro mit einem ebenso schönen Ausblick zugewiesen bekam wie Ellen McGill, die die Vorgesetzte von drei Abteilungsleitern war.

»Ja, nicht wahr?« Lilli kicherte. »Das Büro wurde vor mir noch ab und zu von Michaelis genutzt. Offiziell war er zwar bereits in Pension, aber wie du ja inzwischen auch mitbekommen hast, fällt ihm der Abschied von der Firma nicht leicht. – Na ja, kein Wunder. Wenn man sonst nichts hat im Leben.«

»Hat er keine Frau und Kinder?«

Auf Nina hatte Michaelis nicht wie ein Mann gewirkt, der mit seinem Leben nichts anzufangen wusste, ganz im Gegenteil.

»Er war schon verheiratet, habe ich gehört«, erzählte Lilli. »Aber seine Frau ist dann wohl vor einiger Zeit an Krebs gestorben. Ich glaube, Kinder hatten sie keine. Aber genau weiß ich es nicht. Ich bin ja auch erst seit zwei Jahren in der Firma. Mich hier zu bewerben war das Beste, das ich tun konnte! Hier ist wirklich alles super: erträgliche Arbeitszeiten, weniger Dienstreisen, tolle moderne Büros, gute Bezahlung, lukrative jährliche Prämien, nette Leute …« Sie warf den Rest ihrer Waffel in den Müllkorb und schleckte sich die letzten Eisreste von den Fingern. »Denkst du nicht?«

Nina wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Unternehmen gab, in denen noch mehr gearbeitet wurde als bei LENOPHARM, von lukrativen jährlichen Prämien hatte sie bisher nichts gehört, und über die Bezahlung dachte sie längst nicht mehr, dass sie so vorzüglich war, wie es ihr am Anfang erschien. Sie hatte sich vor Kurzem ausgerechnet, auf welchen Nettostundenlohn sie kam, wenn sie allein die im Vertrag festgeschriebene Zeit von 38,5 Stunden pro Woche als Berechnungsgrundlage berücksichtigte. Dabei hatte sie mit leichtem Entsetzen festgestellt, dass sie sogar bei der Werbeagentur in München, bei der sie kurzfristig gearbeitet hatte, auf einen etwas besseren Stundenlohn gekommen war – und dort hatte sie immerhin nur an der Rezeption gearbeitet.

Lilli deutete Ninas Schweigen auf ihre Weise. »Na ja, ein paar seltsame Leute gibt es ja in jeder Firma. Aber die meisten Leute sind wirklich okay. Abgesehen von einer.« Ihr Gesicht verfinsterte sich.

Nina wurde schlagartig hellhörig. Sollte sie endlich auf eine Seelenverwandte gestoßen sein, die unter Ellen McGill genauso litt wie sie selbst?

»Dass ausgerechnet ich an so eine Chefin geraten muss, ist wirklich Ironie des Schicksals«, begann Lilli auch schon. »Ich habe selten so etwas Verbissenes und Unzugängliches erlebt wie diese Frau. Die reinste Sklaventreiberin, wirklich. Jedes Jahr steckt sie sich enorm hohe Ziele, nur um ihre Position zu sichern und eine Riesenprämie zu kassieren. Wir Produktmanager bekommen nur einen Bruchteil vom großen Kuchen ab. Und dann diese Launenhaftigkeit – an einem Tag ist sie deine beste Freundin, am nächsten Tag behandelt sie dich wie eine Aussätzige.«

Nina betrachtete Lilli unter einem völlig neuen Aspekt. Sie sah eine grazile junge Frau mit dunklem, glattem Haar, sonnengebräunter Haut und großen, dunklen Augen. Rein äußerlich waren sie sich nicht ganz unähnlich. War Ellen auch über sie hergefallen, vielleicht eines Abends, hier in diesem Büro?

»Ich habe diese Erfahrung auch mit ihr gemacht«, sagte Nina nun vorsichtig. »Ich weiß nie, woran ich bei ihr bin. Manchmal habe ich schon Bauchweh, wenn ich nur zu ihr ins Büro muss.«

Lilli riss erstaunt die Augen auf. »Aber du hast doch kaum mit ihr zu tun!«

Nina war genauso erstaunt. Hatte Lilli denn keine Augen im Kopf? »Ich bin mehrmals pro Woche bei ihr. Sie ist doch diejenige, die mir alle Infos gibt und mit der ich besprechen muss, was in Sachen Produktkommunikation geplant ist.«

Die beiden starrten sich an. Und auf einmal wurde ihnen klar, dass sie nicht von derselben Person sprachen.

»Meine direkte Vorgesetzte ist Kathrin Hanelka. – Aber du … du redest von Ellen!«

Nina spürte, wie ihr die Röte bis in die Haarwurzeln stieg. Lillis Blick ruhte zu allem Überfluss auch noch prüfend auf ihr. »Aber Ellen ist doch total nett«, sagte Lilli. Die Überraschung in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Ich wünschte so sehr, sie wäre meine Chefin. – Warum kriegst du Bauchweh, wenn du zu ihr ins Büro musst?«

Nina wäre am liebsten auf der Stelle aus Lillis Büro gestürzt, doch diese Reaktion hätte unter allen möglichen Reaktionen die meisten Fragen aufgeworfen. »Sie wirkt manchmal sehr streng«, erwiderte sie lahm. »Aber vielleicht liegt das auch nur an mir. Mir fällt es einfach sehr schwer, mit dominanten Menschen umzugehen.«

Lilli schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber Nina …! Ellen ist überhaupt nicht dominant. Sie kann sich durchsetzen, das ja. Und sie verlangt sehr viel von ihrem Team. Aber sie setzt sich sehr für ihre Mitarbeiter ein. Vor allem dann, wenn es Probleme gibt. Zum Beispiel in meinem Fall: Sie hat das sehr wohl bemerkt, wie Kathrin Hanelka teilweise mit uns umgeht. Und ich weiß aus gesicherter Quelle, dass sie bereits mehrere Gespräche mit Kathrin wegen ihres Führungsstils geführt hat, in denen sie deutliche Worte für sie hatte. Seitdem reißt sich Kathrin auch mehr zusammen, habe ich den Eindruck. – Wahrscheinlich kennst du Ellen noch zu wenig. Wenn du sie mal näher kennst, wirst du sie sicher sehr mögen.«

»Mag sein«, meinte Nina ausweichend. Sie wollte dieses Gespräch nicht fortsetzen, wollte zurück in ihr Büro, wo sie vor Fragen sicher war. Und sie hoffte nur, dass Lilli für sich behielt, was sie soeben gesagt hatte. Sonst würde bald das ganze Haus hinter ihrem Rücken Witze darüber machen, dass sie Bauchweh bekam, wenn sie Ellens Büro betrat. Noch dazu, wo ganz LENOPHARM Ellen McGill als netten und sanften Menschen zu betrachten schien. Wie richtig es gewesen war, den Vorfall im Kopierraum nicht dem Personalchef zu melden! Niemand hätte ihr geglaubt.

Lilli lächelte Nina zuversichtlich an. »Ich bin ganz sicher, in einem halben Jahr denkst du anders über Ellen.«

»Vielleicht«, sagte Nina. »Ich muss jetzt noch etwas arbeiten. Danke für das Eis.«

Als sie oben im Büro war, fiel es ihr schwer, sich auf die neue Website zu konzentrieren. Immer wieder glitten ihre Gedanken zu Ellen McGill. Je mehr sie über sie erfuhr, desto widersprüchlicher wurde sie für sie, und desto mehr zerbrach sie sich darüber den Kopf. Wer war diese Frau? Was ging in ihr vor? Warum hat sie das ausgerechnet mit mir getan, fragte sich Nina wie schon so oft zuvor. War ich zufällig zur rechten Zeit am richtigen Ort? Wenn Lilli Muster im Kopierraum gestanden hätte, wäre es dann mit ihr passiert? Und was hätte Lilli getan? Alles akzeptiert und mindestens so genossen wie sie selbst?

Nina schüttelte den Kopf. Unmöglich. Lilli war selbstsicher und eloquent, sie war beliebt in der Firma und setzte Grenzen; wahrscheinlich wäre sie sowieso nie in diese Situation gekommen. Es musste wohl an ihrer eigenen elenden Unsicherheit liegen. Sie rief in Ellen dieses widersprüchliche Verhalten hervor, das anscheinend niemand sonst an ihr bemerkt hatte.

Am Dienstag noch machte sie sie quasi zur Schnecke wegen ihres schlechten Englisch, und heute lud sie sie zum Eis ein. Was war das für eine Logik? Nina hielt es trotzdem für angebracht, sich zu der Einladung zu verhalten. So schickte sie ein Mail mit einem einzigen Wort in der Betreffzeile an Ellen McGill: Danke.

Binnen einer Minute kam die Lesebestätigung – und eine Rückantwort: Danke – für was?

Für das Eis, schrieb sie ohne zu Überlegen zurück.

Lesebestätigung sowie Reaktion folgten prompt. Ellen hatte nur drei Zeichen in die Betreffzeile getippt: einen Strich-Punkt, ein großes O und eine nach links geöffnete Klammer – ein augenzwinkerndes Smiley.

Nina wurde die Doppeldeutigkeit ihres Dankes erst jetzt bewusst. Die Tatsache, dass Ellen McGill darauf eingestiegen war, ließ sie erröten.

Ellen

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