Читать книгу Der Himmel ist ein kleiner Kreis - Carolina Schutti - Страница 8

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Die Sonne brennt vom Himmel, unbewegt steht der Wald am Rand der Lichtung wie eine Mauer, die das Gelände von der Wildnis trennt. Kein Windhauch ist zu spüren, kein Laut ist zu hören außer dem Schlagen der Axt, rhythmisch, beständig. Ina bearbeitet die verkohlten Reste des Gerüsts, das schwarze Gestrüpp darunter beschreibt einen Kreis, als wäre der Umfang des Brandes von vornherein festgelegt gewesen. Aufstiebende, hellgraue Asche steht wie Nebel in der flirrend heißen Luft, sie hält kurz inne, um das feuchte Tuch über ihrem Mund zurechtzuziehen, sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Sie hat nichts gegen den Schweiß, nichts gegen die Schwere in den Armen, die ihre Arbeit zunehmend mühsam macht: Sie genießt ihr Tun, Schlag um Schlag kommt sie ihrem Ziel näher. Vom Gerüst ist kaum noch etwas übrig, sie hat die verwendbaren Balken zu Brennholz gehackt und die verkohlten auf einen Haufen geworfen. Solange die Axt in Bewegung ist, solange sie sich nach den Holzscheiten bückt, solange ihr der Schweiß über den Rücken rinnt, vergisst sie Boris. Vergisst, nachzurechnen, wie lange die paar Tage schon her sind, die er wegbleiben wollte, um die fehlenden Papiere zu holen. Vergisst, sich zu fragen, wie lange die Vorräte reichen müssen. Und vor allem: wann endlich der Winter kommt.

Der Brandgeruch hält sich hartnäckig in der Luft. Die Balken, die sie zerhackt, sind von unterschiedlicher Härte, von unterschiedlichem Holz. Einige zerfallen bei bloßer Berührung, andere scheinen nahezu unversehrt. Von den Gerüsten gibt es viele, eins dem anderen gleich, sie stehen über das gesamte Gelände verteilt, an einigen ranken gelbliche Gurken, die meisten sind von Brombeeren und braunem Farn umringt. Ihren Zweck hat auch Boris nicht erklären können, für irgendwelche Planen vielleicht oder für Tierhäute, für Schläuche, für die Gurken. Sechzehn übertrieben dicke Pfosten?, zwei Meter hoch, verbunden mit dünneren Balken und so stabil, dass man auf ihnen gehen könnte? Boris nimmt es achselzuckend hin, sie fragt nicht weiter, Gerüste eben zwischen Wachtürmen und Stacheldraht.

Die Nacht, als er schreiend an ihr Bett kam, Los!, steh auf!, steh auf! Wie sie hinter ihm in die Dunkelheit rannte, wie das Feuer zwischen den beiden Wachtürmen aufloderte, wie die Funken flogen, wie sie Angst hatte, binnen Minuten könnte alles in Flammen stehen.

Ein sinnloses Unterfangen, mit zwei Eimern Wasser zu holen, hundert Meter hin und hundert Meter zurück. Sie fiel hin, schlug schmerzhaft auf, Boris drängte trotzdem fluchend zum Weitermachen, Los!, steh auf!, steh auf!, und ihr fiel erst später auf, wie selten er selbst die Strecke gelaufen, wie oft er hingegen sie zur Eile angetrieben hatte. Das Geräusch der Flammen, ihr unruhiges Licht, die Farbe, die sich nach und nach abdunkelte. Irgendwann kam der Brand von selbst zum Erliegen, hustend lehnten sie an der Mauer der Werkshalle, die leeren Wassereimer neben sich, Gesichter und Arme ascheverschmiert, sie mit blutigen Knien, Boris mit sachte wippendem Kopf.

Am nächsten Morgen entwarf Boris den Eintrag für das Logbuch, sagte ihn ihr vor:

3.08, Gerüst No. 3 in Flammen, Löschversuche erfolglos abgebrochen. Abwechselnd Feuerwache, Überwachung der Glutnester bis 6.30. 8.31 Brand aus. Vermutete Ursache: Blitzschlag.

Ina hatte keinen Donner gehört, hatte keinen Blitz gesehen, verzog fragend das Gesicht.

Es gibt auch Blitzschlag ohne Gewitter, hier gibt es alles, hier musst du auf der Hut sein.

Und der einsame, glühende Punkt in den Nächten, einmal wenige Meter vom Haus entfernt, einmal zwischen den Baumstümpfen, einmal auf dem Wachturm? Sie sagte nichts, wusch sich Gesicht und Hände, holte das Buch.

Vier Zeilen in ihrer schönsten Schrift, Boris blickte ihr über die Schulter, diktierte ihr Buchstabe für Buchstabe.

Im Grunde war es egal, wem würde so ein altes Gerüst denn abgehen, aber Boris unterstrich: Löschversuche erfolglos.

Setzte seine Unterschrift unter den Eintrag, eine übermäßig große, unleserliche Wellenlinie. Und mit einem Mal war es nicht egal, auf einmal fühlte es sich an, als stünde sie in seiner Schuld, als decke Boris mit seiner Unterschrift ihr Unvermögen, ihre Aufgabe ordentlich zu erfüllen, als zeige er ihr anhand dieses Zwischenfalles, wie groß sein Herz sei, das Herz des Wächters, nachsichtig seiner Assistenz gegenüber, die sich fortan mehr darum bemühen müsse, Vorfälle wie diese zu verhindern.

Fertig. Ein kleiner Stapel Brennholz, ein großer Haufen unbrauchbarer, verkohlter Balken. Ina lässt die Axt fallen, setzt sich, zieht das Tuch vom Mund. Taucht die Hände in einen Eimer Wasser, reibt Ruß und Schmutz ab, so gut es geht, betrachtet ihre roten Handflächen. Die abgebrochenen Fingernägel, einen alten Kratzer am rechten Unterarm. Sie ärgert sich, dass sie sich zuerst gewaschen und nicht getrunken hat, wartet, bis die schwarzen Rußteilchen im Eimer etwas abgesunken sind, schöpft Wasser mit beiden Händen, trinkt. Das Wasser schmeckt nach erloschenem Feuer, es kratzt im Hals. Sie richtet ihren Blick in den Himmel, dessen Blau ihr in den Augen sticht, streckt die Beine aus, massiert ihre Arme. Das Holz wird sie später hineintragen, vielleicht morgen, vielleicht auch erst in einigen Tagen, sie wird es sorgfältig stapeln, einen guten Teil davon gleich neben den Ofen legen, damit es bereit ist, wenn über Nacht die Kälte kommt.

Aber noch ist es warm, obwohl die Sonne bereits flach über dem Wald steht: Fichten, Kiefern, Tannen, Zwergsträucher und Moos. Vereinzelte gelbe Lärchen.

Borealer Nadelwald.

Die Bäume sind ungewöhnlich schmal, mit sprödem, dunkelgrünem Astwerk. In weiten Abständen kniehohe Jungbäume am Waldrand, verstreute Baumstümpfe, bräunlicher Farn, ein Flecken ausgeblühter Dill und diese verwilderten Gurken überall. Die Früchte werden wohl nicht mehr reif werden, dafür sind die Nächte schon zu kalt.

Sie setzt sich auf die schwere Bank, die sie vom oberen Stockwerk nach unten und dann mit großer Mühe vor das Haus geschleppt hat. Sie schiebt ihre Füße vor und zurück, bis sich im Kies unter der Bank kleine Gruben bilden. Ein sattes Kratzen, ein schönes Geräusch. Wie lange schon hat sie kein Geräusch gehört, das sie nicht selbst verursacht? Ein Klappern, ein Scharren, ein Lachen, ein Flüstern? Krächzen, Kreischen, Bellen? Gar ein Stimmengewirr?

Sie spitzt die Ohren, konzentriert sich. Nichts. Absolute Windstille. Nicht einmal das Summen von Insekten. Auch am Waldrand kein Tier. Von den Wachtürmen aus glaubt sie manchmal, einen bewegten Schatten zu sehen, sie kneift die Augen zusammen, reckt den Kopf, aber sie kann nicht mit Sicherheit sagen, ob da etwas ist, geschweige denn, was es ist, ein Fuchs, ein Wolf, vielleicht ein Bär. Hier gibt es Bären, aber warum drehen sie ab? Weshalb kommen sie dem Gelände nicht näher, obwohl sie doch die Vorräte wittern müssten, obwohl doch der Schuppen verlockend wäre oder das Haus, in dem es einmal am Tag nach warmem Essen riecht? Ina steht auf, geht ein paar Schritte, kniet sich auf den Boden, reißt etwas Gras aus, gräbt einige Zentimeter tief in die Erde, streut ein paar Brocken davon in ihre Handfläche. Die Erde sieht gewöhnlich aus, sie riecht ein wenig nach Gras, nach Fluss, nach Wald. Vorsichtig berührt sie sie mit ihrer Zunge, leckt etwas davon auf, verteilt sie in ihrem Mund. Die Erde schmeckt nach Erde. Lehmig, samtig, weich. Ina verspürt kein Brennen. Keine Atemnot. Warum gibt es hier keine Tiere? Keine Maus, keine Ratte, keinen Wurm? Sie findet keinen Grund, keine Ursache. Nicht einmal eine mögliche Erklärung. Sie lässt die Erde wieder fallen, reibt die Handflächen aneinander, spuckt mehrmals aus.

Zurück auf die Bank. Die Gruben unter ihren Füßen sind bereits so tief, dass sie nach vorne an die Kante rutschen müsste, um die Stille mit ihren Kratzgeräuschen zu stören. Stattdessen schiebt sie die aufgeworfenen Ränder aus Erde und Kies wieder zurück, tritt das Ganze fest.

In Ruhe verharren.

Die Sonne verschwindet hinter dem zweiten Wachturm, in wenigen Minuten wird sie auf der anderen Seite wieder hervorkommen, um bald endgültig unterzugehen. Dann ist die Zeit für wirre Träume: für das Getöse eines Sturzbaches, der sie von einem Berghang zu spülen droht. Oder für die Vögel: Der Himmel ist schwarz von ihnen, sie hört ihren Flügelschlag, ein unvorstellbares Tosen, es sind Hunderttausende, Millionen. Oder dafür: Sie steht im Salon neben dem Klavier, schiebt es zur Seite, es ist unendlich schwer, sie schwitzt, schließlich gibt es nach und damit ihren Blick frei auf einen großen Haufen aus schwarzen Federn und vertrockneter Haut, auf in die Luft ragende Beine, gelbe, leicht geöffnete Schnäbel. Eine albtraumhafte Verwandlung der Krallen, die sie am Vortag vom Fell geschnitten hat, oder der verbogenen Nägel, die sie auf dem Gelände zusammensucht und notdürftig geradehämmert, wann immer sie Lust dazu verspürt.

Tagsüber, am unbelebten Himmel: keine Vögel. Keine Libellen. Kein Schmetterling. Nur am Waldrand fliegen Mückenschwärme auf, sobald sie sich dem Strauchwerk und den Spiralen aus Stacheldraht nähert.

Der Himmel ist ein kleiner Kreis

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