Читать книгу 10 Jahre acabus Verlag. Die große acabus Jubiläums-Anthologie - Caroline DeClair - Страница 10

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Am zehnten Tag

Als ich zu ihnen geschickt wurde, wusste ich nichts über sie. So wie ich nie vorher etwas über diejenigen erfahre, deren Stirn ich mit meinen Lippen berühre, damit sich der Schwellen­nebel erheben kann. Wenn dieser besondere Glanz ihre Körper umgibt, der ihnen selbst verborgen bleibt.

Die meisten weigern sich, mir einen Raum zu geben, nicht in ihren Gedanken und nicht in ihren Herzen. Sie tun so, als existiere ich nicht, aber stehe ich eines Tages vor ihren Türen, an ihren Betten, zu ihren Füßen oder neben ihren Häuptern, so fahren sie erschrocken zusammen, als hätten sie nicht einmal im Ansatz in Betracht gezogen, mir einst begegnen zu können.

Dieses Mal waren es zwei zugleich. Auch das ist nicht ungewöhnlich, ich bin geübt darin, meine Lippen auf mehrere Stirnen zugleich zu drücken. Bisweilen sind es so viele in ein und demselben Augenblick, an den unterschiedlichsten Orten, dass mir schwindelig werden müsste. Aber ich habe mich im Griff und erledige meine Aufträge zuverlässig – einerlei, wie umfangreich sie sind.

Sie zählten sechzehn Jahre, beide, und waren von gleichem Blut. Ihre Haut hatte die Farbe von Alabaster. Sie hatten kleine Münder, niedliche Nasen und leicht schräg stehende, grüne Augen, die etwas müde wirkten. Jeden Morgen flochten sie einander die Haare zu festen, rotblonden Zöpfen, die daraufhin kerzengerade ihren Rücken herunterhingen, als seien es unberührbare Kunstwerke.

Ihre Namen waren Liv und Lou. Wie der Tintenmacher seine Töchter auseinanderhielt, blieb den Nachbarn und auch den Kunden seiner Werkstatt ein Rätsel, ähnelten die Schwestern einander doch wie ein Schluck Wasser dem anderen. Darüber hinaus erstaunte es alle, dass ein verschrobener Kauz wie der Tintenmacher – klein von Statur, mit schütterem, grauem Haar, das ihm ungepflegt bis auf die Schultern reichte und mit einem Rückgrat so krumm wie eine vom Wind gebeugte Weide – mit derart bezaubernden Töchtern gesegnet war. Ich schließe mich hier nicht aus, doch mir steht es nicht zu, derlei zu hinterfragen.

Sie lebten zu dritt inmitten der Häuserzeile, die sich entlang der von Fuhrwerken und Menschen belebten, schnurgeraden Straße erstreckte und bis zum Marktplatz reichte. Vor langer Zeit hatte der Tintenmacher ein Schild über seiner Haustür platziert, auf dem in schwarzen Druckbuchstaben Ink House geschrieben stand. Nur dadurch unterschied es sich von den Nachbarhäusern, die sich zu beiden Seiten an das des Tintenmachers drängten.

Ich wusste, dass ich die üblichen zehn Tage Zeit hatte. Sie zu betrachten, zu beobachten, in ihrer Nähe zu verweilen. Beim Einschlafen. Beim Aufwachen. Beim Polieren ihrer Schuhe und dem Fegen der Stube. Ich folgte ihnen beim Gang zum Markt, den sie stets gemeinsam unternahmen, in ihren hübschen, karierten oder geblümten Kleidern, die mit weißer Spitze am Rocksaum versehen und immer langärmelig waren. Jeden Mittag bereiteten sie über dem Kochfeuer eine kräftige Suppe zu, die sie anschließend gemeinsam mit dem Tintenmacher an dem langen Eichentisch in der Werkstatt verspeisten. Während sie schweigend und mit gesenkten Köpfen ihre Suppe löffelten, besah ich mir das Sammelsurium um sie herum. In einem Weidenkorb entdeckte ich Galläpfel, daneben zahlreiche, verschieden große, mit Deckeln versehene Gläser, die er beschriftet hatte: Eisensulfat, Pflanzengummi, Lampenöl, Leim, Ruß von verbrannter Nadelholzkohle, Rinden von Weißdorn, Eiche und Birke. Außerdem entdeckte ich eine Balkenwaage mit zwei an Ketten befestigten Zinnschalen, Häcksel, Mörser, Messer, ein Schneidbrett, Rührstäbe aus Holz, eine Reibe, einen Trichter und etliche Quirle. Gleich neben mir in der Zimmerecke gewahrte ich eine mit Stroh gefüllte Holzkiste. Darin lagerten faustgroße, fest mit Schraubdeckeln verschlossene Tintenfässer mit fertig gemischten Tinkturen in all den wundersamen Farben, die der Tintenmacher herzustellen wusste und die von Schreibern im ganzen Land begehrt wurden.

Dass dieser hutzelige Alte imstande war, Tinte zu fertigen, die der Farbe von Edelsteinen glich – saphirblau, malachitgrün, granatrot und schwarz wie Turmalin – und er ihr einen ebensolchen Schimmer zu verleihen vermochte, erstaunte mich und entflammte meine Neugierde. Ich wollte wissen, wie er es anstellte! Noch mehr aber als es die Behältnisse mit den Tinten vermochten, zog mich ein einzelnes, röhrenförmiges Glasgefäß in seinen Bann. Der Tintenmacher hatte es etwas abseits auf einem Wandbord untergebracht. Obgleich es nur eine geringe Menge enthielt, erkannte ich sogleich die mir wohlbekannte Substanz darin. Ein tiefdunkelrotes Serum. Ich nahm seinen Geruch wahr, wenngleich die Röhre mit einem Korken fest verschlossen war. Zu oft war er zu mir durchgedrungen, wenn meine unterkühlten Lippen eine Stirn berührten – in diesem einen bedeutungsvollen Augenblick, in dem sie mich sahen, bevor ich sie auf meine Arme hob und in den Schwellennebel trug.

So sehr ich mich anstrengte zu verstehen, was der Inhalt dieser Glasröhre in einer Tintenmacherwerkstatt verloren hatte, so wenig kam ich dahinter. Und so beschloss ich, da es erst mein zweiter Tag im Ink House war und mir noch Zeit blieb, die Antwort herauszufinden.

Am Morgen des dritten Tages beobachtete ich ihn. Ich hielt mich in der Zimmerecke, als er sich aus seinem Federbett schälte. Der Tag warf sein Licht durch das winzige Fenster an der Längsseite des Raumes und zwang den Tintenmacher dazu, die Augen zusammenzukneifen, kaum dass er sie geöffnet hatte. Seine Knochen ächzten, als er sich von der Bettkante hob. Er trug dieselben Beinkleider und dasselbe fleckige Hemd wie tags zuvor. Glücklicherweise bereiten mir Gerüche, die von solcherlei Unsauberkeiten ausgehen, kein Unbehagen. Wäre dem anders, könnte ich meine Aufgaben kaum mit der Präzision erledigen, für die ich bekannt bin.

Er zwängte seine bloßen Füße in die Holzschuhe neben dem Bett und schlurfte in die Küche, die so winzig und niedrig war wie alle Räume in diesem windschiefen Haus. Die Feuerstelle nahm fast die ganze Mitte ein.

Lou reichte ihm einen Henkelbecher mit dampfendem Kaffee, der so schwarz war wie das Moor draußen vor der Stadt. Die Wangen des Mädchens erschienen mir heute noch bleicher als am Vortag. Vielleicht litt sie an einer Erkrankung. Vielleicht war dies der Grund, warum ich hier war. Vielleicht war sie diejenige, die ich zuerst umarmen würde. Solche Details teilt man mir nicht mit, sie haben mich nicht zu interessieren und offenbaren sich mir erst kurz zuvor.

Ohne ein Wort verließ der Tintenmacher die Küche. Dass er hinkte, war mir bisher nicht aufgefallen. Das rechte Bein schien kürzer als das linke, sodass seine Holzschuhe auf dem Steinboden eigentümlich klackerten.

Seine Werkstatt befand sich im gleichen Haus. Sie bestand hauptsächlich aus dem monströsen Eichentisch mit dem Sammelsurium von Tiegeln, Flaschen und Tintentöpfen. Er nahm die gesamte Längsseite des Raumes ein.

Der Tintenmacher hatte Bedeutungsvolles im Kopf an jenem Morgen: Eine Bestellung immenser Größe, von einem königlichen Boten tags zuvor überbracht. Ich hatte zugesehen, wie der Tintenmacher im Beisein des Boten das Pergament entrollt und es mit glühenden Augen studiert hatte. Zweihundertfünfzig Tiegel mit granatfarbener Tinte. Die Lieblingstinte der Königin!

Wie berauscht war er in seiner Werkstatt herumgesprungen, freilich erst, nachdem der Bote sich empfohlen hatte, und die Wände hatten das Klackern seiner Holzschuhe in einem vielfachen Echo zurückgeworfen und es im ganzen Haus widerhallen lassen.

Nun nahm der Tintenmacher das Pergament, auf dem die Bestellung notiert war – die ungeheuerlichste, die jemals jemand bei ihm in Auftrag gegeben hatte! – , erneut zur Hand. Immer wieder suchte sein Blick mit einem feurigen Flackern die Zahl am Ende des Pergaments. Den bevorstehenden Reichtum vor Augen, setzte er seinen Freudentanz fort.

Am nächsten Tag schickte er Liv und Lou mit einem großen, rechteckigen Weidenkorb zum Gemüsehändler. Die Mädchen schleppten ihn zu beiden Seiten an den ledernden Griffen zum Markt und brachten ihn bis zum Rand gefüllt mit roten Rüben wieder heim. Ihre vor Anstrengung erhitzten Gesichter mit den müden Augen gefielen mir nicht. Es waren noch halbe Kinder, Mädchen dazu. Der Tintenmacher sollte sie nicht schinden wie Arbeitstiere.

Dass Lou gleich darauf begann, die Rüben in einer Blechwanne zu waschen, und Liv das Kochfeuer schürte und den Kessel am Schürhaken befestigte, wunderte mich zunächst nicht, leiteten diese Handgriffe doch das Zubereiten der täglichen Mittagssuppe ein. Ich ahnte nicht, dass ich mit meiner Vermutung vollkommen daneben lag, dafür aber schon bald hinter das Geheimnis der Tintenrezeptur kommen sollte.

Die gesamte Menge gewaschener und zerkleinerter Rüben fand eine gute Stunde später den Weg in den Topf. Lou goss etwas Wasser darüber und begann mit einem Holzlöffel zu rühren. Nach einer Weile wechselten sie ab und Liv trat an den Topf, während ihre Schwester zum Verschnaufen auf den dreibeinigen Holzhocker neben der Tür sank. Schweiß perlte ihnen auf Stirn und Wangenknochen und einzelne Haarsträhnen klebten feucht an ihren Schläfen, was meinen Eindruck verstärkte, sie könnten an einer zehrenden Krankheit leiden.

Seufzend lehnte Lou ihren Kopf nach hinten gegen die Wand. Mit dem Ärmel rieb sie sich über die Stirn. Über die wunderschöne, makellose Stirn, die für mich bestimmt war. So wie alle Stirnen dieser Welt einst mir allein gehören. Nur für einen Moment gab ich mich der kleinen, süßen Zerstreuung hin, bevor die Stimmen der Mädchen meine Aufmerksamkeit wieder in die Gegenwart lenkten.

»Sie dürfen nicht anbrennen.«

»Ich weiß. Ich höre nicht auf, zu rühren.«

»Erinnerst du dich, wie er beim letzten Mal gezetert hat, weil wir nicht aufgepasst haben?«

»Sorg dich nicht, es wird nicht wieder passieren.«

Im Ink House war seit meiner Ankunft so selten gesprochen worden, dass ich schon geglaubt hatte, es sei den Töchtern des Tintenmachers verboten, miteinander zu reden.

Die roten Rüben köchelten. Dampfschwaden zogen bis unter die Decke, die Scheibe des kleinen Fensters beschlug, der würzige Rübenduft verteilte sich in der Luft bis hinüber zur Werkstatt. Irgendwann war das Klackern der Holzschuhe zu vernehmen. Der Alte erschien in der Tür. Er trat an den Topf und warf einen prüfenden Blick hinein.

»Macht sie weich!«

Ohne ein weiteres Wort schlurfte er hinaus. Liv griff nach einem Metallstampfer und begann, die weichgekochten Rüben im Topf zu zerquetschen. Ich hörte, wie sie dabei leise aufstöhnte, jedes Mal, wenn sie mit Nachdruck den Stampfer bis zum Topfboden drückte, wieder und wieder, und ich sah, wie ihr dabei der Schweiß an den Schläfen herunter rann. Nur mit großer Mühe hielt ich mich zurück, sie in meine Arme zu nehmen und sie dort ausruhen zu lassen. Niemand beherrscht diese Gabe so mustergültig wie ich. Es wäre ein Leichtes gewesen, der Tochter des Tintenmachers in diesem Augenblick meine Lippen auf die Stirn zu drücken, damit sie Ruhe im Herzen der Ewigkeit finden könnte. Aber damit hätte ich entgegen meines Auftrages gehandelt, den einzuhalten ich verpflichtet war. Ich nehme meine Anweisungen sehr genau. Das heißt, im Allgemeinen nehme ich sie sehr genau, denn dieses eine Mal habe ich sie eher ungenau genommen. Nicht, was den vorzeitigen Kuss betrifft, denn ich bin ein Meister der Selbstbeherrschung. Solange die Zeit noch nicht gekommen ist, führt es zu nichts, in vorzeitigen Aktionismus zu verfallen. Ich beging vielmehr eine, sagen wir, eigenmächtige Auftragsabwandlung. Eine Schwäche, die ich mir wahrscheinlich nie verzeihen werde. Doch ich will nicht vorgreifen.

Abermals wechselten sie sich ab. Eine Weile stampfte Lou. Dann ruhte sie aus und Liv übernahm.

»Er wird uns rufen.«

»Ich weiß. Nicht daran denken.«

»Ich kann nicht aufhören, daran zu denken.«

»Versuch es.«

Nicht einmal im Ansatz war es mir möglich zu erraten, wo­rüber sie sprachen. Was sie befürchteten. Was sie vorhersahen. Verbissen zerquetschte Lou die letzten festen Rübenstücke im Topf zu rotem Mus. Endlich hielt der Stampfer inne.

Erst jetzt, da die Mädchen in einer aufwändigen Prozedur damit begannen, den Rübenbrei durch ein Sieb zu seihen, begriff ich, dass sie nicht die tägliche Suppe, sondern die Grundsubstanz für die granatrote Tinte herstellten, die der königliche Bote im Auftrag der Königin bestellt hatte.

Erneut schürten sie das Feuer, noch einmal kochte der Inhalt im Topf auf. Liv brachte Eier herbei, schlug sie auf, fing das Gelbe in einer Schale auf und versetzte den Rübensaft mit dem Eiklar.

Schließlich wuchtete Lou den Topf vom Schürhaken, um den Rübensaft langsam in einen Eimer zu gießen. Die Handgriffe der Mädchen verrieten großes Geschick. Ich nahm an, dass sie sie nicht zum ersten Mal ausführten.

Und wie sie dort standen in der vom Rübendampf geschwängerten Küche, in ihrer Mitte den gefüllten Eimer und hörbar Atem schöpften, trat ein seltsamer Stillstand ein. Mir war, als hörte ich in dieser Lautlosigkeit ihre Herzen schlagen, hastige, flatterhafte Schläge, wie sie einzig von Herzen verursacht werden, in denen die Furcht wohnt. Die Blicke der Schwestern verschmolzen miteinander wie in einem geheimen Ritual, als seien sie dadurch in der Lage, sich für das Kommende zu stärken.

Die Stille zerbrach. Vor der Tür polterte die Stimme des Tintenmachers.

»Wo bleibt ihr?«

Wie auf Kommando ergriffen Lou und Liv den Henkel des Eimers. Mit kleinen Schritten trugen sie ihn zur Werkstatt, wo der Tintenmacher bereits seine Utensilien hergerichtet hatte. Das Zittern in Livs Beinen entging mir ebenso wenig wie das ängstliche Flackern in Lous Augen.

Keinem Bürger der Stadt, keinem der Nachbarn rund ums Ink House, keinem Kunden der Werkstatt und erst recht nicht der Königin hätte in den Sinn kommen können, welch absonderliche Essenz der Tintenmacher seinen Tinten beimischte, damit sie den brillanten Schimmer erhielten, für den sie bekannt waren.

Es ist mir nicht erlaubt, einzuschreiten. Niemals. Wie oft ich zum unfreiwilligen Zuschauer von Gräueltaten wurde, deren Intensität und Ausmaße das Fassungsvermögen eines menschlichen Verstandes übersteigen, vermag ich nicht zu sagen. Das Zusehen ist Teil meiner Aufträge und niemand weiß besser als ich, auf welch grausame Arten ein Leben verlöschen kann.

Auch die Drangsal, die hinter den verriegelten Türen und verschlossenen Fenstern des Ink House vor sich ging, hatte ich mitanzusehen und auszuhalten.

Noch bevor die Mädchen den Eimer vorsichtig auf dem Tisch der Werkstatt platziert hatten, entdeckte ich dort die Apparatur. Der Tintenmacher musste sie in der Zwischenzeit aufgebaut haben. Ihre Höhe betrug etwa zwei Armlängen und sie bestand aus einem Trichter, der in eine schmale, durchsichtige Röhre führte, die wiederum in ein bauchiges, oben offenes Glasgehäuse mündete. Von hier aus verlief eine zweite Röhre mit starkem Gefälle nach unten. Sie endete in einem weiteren kugelförmigen Glasbehälter, an dessen Unterseite eine Art Pipette angebracht war. Darunter war eins der Tintenfässchen positioniert, mit einem kleinen Metalltrichter in der Öffnung. Weitere standen aufgereiht zum Abfüllen in unmittelbarer Nähe.

Ich war sicher, alles zu kennen, was sich ein menschlicher Geist ausdenken kann. Doch an jenem Tag wurde ich eines Besseren belehrt.

Mit seinem krummen Zeigefinger winkte er Lou zu sich heran. Angstweit waren ihre Augen, als sie sich auf den Stuhl setzte, den er neben den Tisch in die Nähe der Apparatur gerückt hatte. Während ihre zittrigen Finger den Ärmel ihrer Bluse nach oben schoben, näherte sich ihr der Tintenmacher. In der Hand hielt er eine Eisennadel, die er soeben an seinem Hemd abgerieben hatte. Als mein Blick auf Lous schändlich zugerichteten Arm fiel, enthüllte sich mir der Grund, warum die Mädchen allezeit langärmelige Blusen trugen.

Liv, einen Tonkrug in den Händen, hielt sich bereit, um das kostbare Serum aufzufangen. Weder die Tränen noch die Angst in den Augen seiner Töchter interessierten den Tintenmacher. Stumm begann er sein perfides Werk. Ein Gummiband um Lous Oberarm unterband im Nu den Blutfluss. Gleich darauf rammte der Tintenmacher die Nadel in eine leicht hervortretende Ader. Er bohrte darin herum, als könne er die Öffnung dadurch vergrößern und sein Mund verzog sich zu einem Lachen, als dunkelrotes Blut austrat. Lou presste die zitternden Lippen zusammen, gab keinen Laut von sich, aber ich spürte den Schmerz, der sie innerlich fast zerriss. Der Tintenmacher knurrte, die Mädchen schwiegen.

Das blutige Rinnsal suchte sich seinen Weg an der Nadel vorbei, den Arm herunter und Liv beeilte sich, es im Krug aufzufangen. Nach kurzer Zeit zeigten sich um die Einstichstelle herum ein bläulicher Fleck und eine knotige Verdickung. Was noch an Farbe in Lous Lippen war, wich einer beunruhigenden Blässe. Ihre Lider flatterten, der Oberkörper neigte sich zur Seite. Erst jetzt zog der Tintenmacher die Nadel aus ihrer Ader. Hastig stellte Liv den Krug auf den Tisch. Sie eilte an die Seite ihrer Schwester, um sie zu stützen. Das Blut rann weiter, tropfte dunkelrot und kreisrund auf den Steinfußboden. Der Tintenmacher knurrte.

»Bring sie raus! Und dann komm zurück!«

Ich weiß nicht, woher Liv die Kraft bezog, ihre besinnungslose Schwester mit einem beherzten Griff um den Oberkörper rückwärts aus der Werkstatt zu schleifen. Vermutlich tat sie auch dies nicht zum ersten Mal. Unter Ächzen und außer Atem schleppte sie Lou in die Schlafkammer. Nachdem sie sie ins Bett geschafft und ihr einen kühlen Lappen auf die Stirn gelegt hatte, eilte sie gleich darauf zurück in die Werkstatt.

Ihr zog der Tintenmacher die Eisennadel aus der Ader, bevor sie das Bewusstsein verlor. Er ließ sie gehen, immerhin, und sie tappte wie ein Geist in die Schlafkammer und legte sich neben ihre Schwester.

Ich verharrte in der Werkstatt und wurde Zeuge, wie der Tintenmacher das Blut seiner Töchter in die Apparatur gab und es darin mit dem vorbereiteten Rübensaft und einer akribisch abgemessenen Menge Bindemittel versetzte.

Die folgenden Tage brachte er damit zu, granatrote Tinte mit dem Schimmer eines Edelsteins herzustellen. Er befüllte Tintenfässchen um Tintenfässchen und rieb sich die Hände. Seine Augen funkelten, wenn er an die Schatullen voller Münzen dachte, die die Königin ihm dafür bezahlen würde.

Niemand außer mir wusste von all dem. Still wachte ich über die Töchter des Tintenmachers. Sie ruhten in einem sanften Schlaf, unter meiner Obhut, und sahen dabei schöner aus denn je.

Als der zehnte Tag anbrach und ihre Lider zu zittern begannen, traf ich meine eigenmächtige Entscheidung. Ich verließ sie ohne den von allen Qualen erlösenden Kuss.

Stattdessen suchte ich ein letztes Mal die Werkstatt auf. Sechs Tage und Nächte war der Tintenmacher dort bereits unablässig mit der Herstellung der Tinte zugange. Seine granatroten Fingerspitzen zeugten davon. Die Arbeit nahm ihn vollends in Beschlag, sodass er vergessen hatte zu essen und zu trinken. Jeder seiner Gedanken kreiste immerzu um den bevorstehenden Reichtum. Um der Müdigkeit entgegenzuwirken, schnupfte er hin und wieder Arsenik, das er in einem Lederbeutel am Gürtel bei sich trug. Ich bemerkte, dass er die Mengen des Pulvers, das er von der Faust zuerst ins rechte, dann ins linke Nasenloch einzog, von Tag zu Tag steigerte. Insgeheim freute mich dieser Umstand, denn dadurch lieferte er mir, ohne es zu wollen, ein Argument für meine willkürlich herbeigeführte Planänderung.

Liv und Lou fanden ihn auf dem Fußboden der Werkstatt neben einer Kiste mit zweihundertfünfzig abgefüllten Fässchen granatroter Tinte. Sein Körper war erkaltet, und der Abdruck meiner Lippen nicht mehr sichtbar auf seiner Stirn. Ich selbst hielt mich längst an einem anderen Ort auf.

Niemals erfuhren sie, dass ich sie an jenem zehnten Tag verschont habe.

Viele Jahre vergingen, bis ich ein zweites Mal zu ihnen geschickt wurde. Auf eine für sie ebenso überraschende wie unerklärliche Weise empfanden sie mich nicht als Fremden und meine Anwesenheit alles andere als bedrohlich. Und als ich sie in die Arme schloss und kalt auf die Stirn küsste, da zog gar ein Lächeln über ihre Lippen.

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