Читать книгу 10 Jahre acabus Verlag. Die große acabus Jubiläums-Anthologie - Caroline DeClair - Страница 12

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Der zehnte Imam

»Would you please take your meal, Sir?«

Ali schrak hoch, das Buch klappte zu und rutschte ihm vom Schoß. Vor seiner Nase schwebte ein so verführerisch duftendes wie unansehnliches Päckchen in Aluhülle.

»Thank you.« Er kramte noch in der Handvoll englischer Vokabeln, die er beherrschte, da gab die Stewardess bereits zwei Reihen weiter das Essen aus. Arabisch sprach er fließend, sein Persisch war passabel und der Crashkurs Deutsch hatte ihn laut Zeugnis dazu befähigt, »alltägliche Ausdrücke und einfache Sätze zur Befriedigung konkreter Bedürfnisse zu verstehen und zu verwenden«. Nur mit Englisch haperte es entsetzlich. Wo war jetzt das Buch hin? Ali beugte sich vor, tastete den Boden zwischen seinen Füßen ab, stieß die des Sitznachbarn an und stoppte im letzten Augenblick den Fluch, der ihm über die Lippen wollte. »Pardon«, entschuldigte er sich bei dem Mann, der unwillig nickte. Als der die arabischen Buchstaben auf den Seiten erspäht hatte, hatte er ihn verstohlen beäugt. Sah Ali wie ein potenzieller Terrorist aus? Wie zufällig hatte er das Buch geschlossen und den Titel dem Nachbarn ins Blickfeld gerückt. IT-Marketing-Solutions Middle East. Klang wichtig. Ökonomisch. Professionell. Wechselbuchhüllen erleichterten das Leben ungemein.

Jetzt reichte die Frau auf dem Platz am Gang ihm das Buch zurück, sie lachte: »Das war wohl auf der Suche nach einer neuen Besitzerin.«

Fragend schaute er sie an und brachte verwirrt wieder nur ein »Thank you« heraus. Die Sprache, dachte Ali, das ist die größte Hürde, noch vor dem Abendgebet organisiere ich mir einen Deutschkurs! Dann machte auch er sich über die beinahe verpasste Verpflegung her.

Ewig musste er auf die zwei großen Koffer warten. Fünf Jahre Deutschland kamen ihm wie ein unendliches Exil vor, dabei hatte er sich freiwillig dafür entschieden. Nach zahlreichen Studien war sein Forschungsthema, die Zwölfer-Schia mit ihrem entrückten Imam, plötzlich nicht mehr opportun gewesen. Man drängte ihn, auf ein sunnitisches Thema zu wechseln. Sympathien für den Iran waren in Ordnung, aber doch nicht für die schiitische Lehre! Für ein anderes Thema hätte er ein Stipendium bekommen, doch er zog es vor, unabhängig zu bleiben. Nur weg und mich neu sortieren, hatte er gedacht und war froh gewesen, als es mit der Imam-Stelle in Hamburg auf Anhieb klappte. Die Zollbeamten winkten ihn heraus. Umständlich löste er die Schnüre von den Koffern. Als die Beamten die arabischen Buchstaben auf den Büchern darin sahen, las er Misstrauen in ihren Blicken.

»Business?«

»Not business, religion«, gab er zurück. »Ich bin Imam.«

Ungläubig musterten sie ihn von oben bis unten. In ihren Augen machten offenbar nur Bart, Kaftan und Turban einen Imam. Erst als er den Diplomatenpass vorwies, ließen sie ihn durch.

»So einer hat hier gerade noch gefehlt«, grummelte der Bullige in seinem Rücken, verstummte aber, als Ali sich zu ihm umdrehte.

»Pardon?«

»Schon gut, Sie können gehen.«

Die Sprache! Wie lange sollte das noch so gehen, dass er nicht die Hälfte verstand und schon gar nicht, was zwischen den Zeilen gesagt wurde?

Zu dritt erwarteten sie ihn, untersetzt alle drei, zweimal Schnauzer, einmal Vollbart, altmodische, bis obenhin zugeknöpfte Hemden unter abgetragenen Jacketts, natürlich keine Krawatten. Aber sie lächelten.

»Hocam? Ali Hoca?«

Die Fahrt durch die verregnete Stadt nutzte der Vorsitzende Ahmet Bey für eine Art Kreuzverhör. Ali war unverheiratet, langes Studium, kurze Berufserfahrung, ja, auch im Ausland, Promotion kurz vor dem Abschluss, keine Sorge, die Studien würden seine Aufgaben als Gemeindevorsteher nicht beeinträchtigen.

Vor Ort ein kurzer Gang durch das prächtige Moscheegebäude, dann Begrüßung im Gemeindezentrum, wie sie den angegliederten Raum mit Minibüro und Teeküche hochtrabend nannten. Zurückhaltend aber nicht unfreundlich begegnete ihm ein Dutzend Männer im Alter des Vorstands, die kleine Abordnung der Jugendorganisation dagegen wirkte freudig erwartungsvoll. Beim Tee erfuhr Ali, dass sein Vorgänger vor Monaten Hals über Kopf abgereist war. Wie alle DITIB-Gemeinden stand auch diese seit Monaten im Verdacht, Regierungsgegner nicht nur bespitzelt, sondern womöglich gar nach Ankara gemeldet zu haben. Der Imam hatte es vorgezogen, sich den Ermittlungen durch deutsche Behörden zu entziehen.

»Und der zwölfte Imam wurde entrückt«, murmelte Ali, dabei hatte er Bilder von der uralten islamischen Hochburg Samarra im heutigen Irak vor Augen. Flugs holte Enes, der Leiter der Jugendorganisation, ihn in die Gegenwart zurück: »Na, dann brauchen wir uns ja keine Sorgen zu machen. Sie sind ja erst der zehnte.«

Ali verstand nicht. »Wie, ich bin der Zehnte?«

»Er hat recht, seit Gründung unserer Gemeinde sind Sie unser zehnter Imam«, bestätigte Ahmet Bey.

»Und da die Dienstwohnung für die Dauer der Ermittlungen noch versiegelt ist, sind Sie vorerst obdachlos, Hocam«, kam Enes gleich mit der nächsten Hiobsbotschaft.

Ahmet Bey fuhr ihm über den Mund: »Was redest du da? Wir sind glücklich, Ali Hoca bei uns aufzunehmen! Solange Sie mögen! Für uns ist es eine Ehre!«

Ein getürmter Vorgänger, Ermittlungen deutscher Behörden wegen Spionage für Ankara, ein Generalverdacht, der ihn nicht ausnahm, zumal er frisch aus der türkischen Hauptstadt anreiste, die Sorge um den Fortbestand des Staatsvertrags mit der Hamburger Bürgerschaft, ein angespanntes Verhältnis zwischen überaltertem Gemeindevorstand und aktiver Jugendorganisation. Die Planung des gemeinsamen Gebets des islamisch-christlichen Dialogkreises, Vorwurf der Missionierung bei gemischtreligiösen Eheschließungen, eine zunehmend schwierige Beziehung zu anderen Moscheevereinen, nicht nur den türkischen, auch den wie Pilze aus dem Boden schießenden afghanischen, pakistanischen, afrikanischen und arabischen. Vor allem aber: eine hoch aktive salafistische Szene im Stadtteil, verzweifelte Familien mit radikalisierten Kindern, traumatisierte Syrien-Heimkehrer … Ali brummte der Schädel, er wälzte sich im Gästebett, todmüde nach dem verwirrenden Tag, doch er konnte nicht schlafen, die Kakofonie der Stimmen und Pro­bleme tönte in seinem Kopf fort. War er vom Regen in die Traufe gekommen? Vielleicht ganz gut, noch nicht in der Dienstwohnung zu sein, die Koffer noch nicht ausgepackt zu haben. Auf solcherlei Probleme war er nicht vorbereitet. Er fühlte sich fehl am Platz, überfordert, dazu der Dauerregen. Sollte er gleich morgen wieder abreisen? Flüchten wie sein Vorgänger? Der Gedanke munterte ihn auf. Er tastete nach dem Lichtschalter, grell flutete die Neonröhre den Raum. Er kramte die im Flugzeug unterbrochene Reiselektüre aus der Tasche. Schon lange war es keine Fachlektüre mehr, die ihm über Stressmomente hinweghalf. Die Buchhülle tarnte einen Thriller von der ägyptischen Bestenliste. Im Wohnzimmer fand Ali einen breiten Sessel, darin machte er es sich mit dem Buch bequem.

Keine zehn Minuten darauf stand die Hausfrau in der Tür. »Ich mach Ihnen Tee, Hocam, die erste Nacht in der Fremde ist immer schwer.«

Dankend lehnte er ab, nicht Tee wollte er, sondern seine Ruhe. Sie schaltete den Fernseher ein.

»Äh, ich wollte eigentlich lesen …«

»Oh, Entschuldigung.«

Sie schaltete den Ton aus, der Apparat lief weiter. Sie rumorte in der Küche, ließ die Tür einen Spalt offen, ihre Art zu sagen: »Ich bin da, wenn Sie mich brauchen.«

»Wie zu Hause«, dachte er und war gar nicht glücklich darüber. Dann widmete er sich wieder der Lektüre, schließlich war er es gewohnt zu lesen, auch wenn es ringsum drunter und drüber ging.

»Hanım! Koch Tee für den Hoca!« Ali zuckte zusammen. »Stell ihm auch Börek hin!«

Auch Ahmet Bey war auf den Beinen und wollte nicht dulden, dass sein Gast darbte, und sei es nachts um halb drei. Schlief hier denn nachts niemand? So sehr Ali protestierte, kurz darauf stand dampfender Tee mit duftenden Spinat-Böreks auf dem Beistelltisch. Der Ton vom Fernseher lief wieder, Madame saß mit Brille auf der Nase und Strickzeug still in der Ecke, Ahmet Bey kommentierte das Geschehen auf dem Bildschirm. Notgedrungen legte Ali das Buch beiseite. Das konnte ja lustig werden.

Doch Ali arrangierte sich. Über Wochen. Fand sich in den Alltag der Familie ein, ebenso wie in seine Aufgaben: Gebete, Beerdigungen, Eheschließungen, schier endlose Gespräche mit Gemeindemitgliedern, wo er ging und stand. Er musste dringend feste Sprechzeiten einführen. Den Deutschkurs hatte er, kaum angefangen, wegen der unregelmäßigen Arbeitszeiten wieder aufgeben müssen.

Anfang Dezember stellte die Staatsanwaltschaft endlich die Ermittlungen gegen DITIB ein, und Ali konnte seine Dienstwohnung beziehen. Die Gemeinde organisierte Putz- und Kochservice für ihn. Der zehnte entsandte Imam war hier der erste ohne Familie.

Ende Januar kam eine aufgelöste Mutter zu ihm in die Sprechstunde. Mütter kamen selten allein. Die Tochter sei ihr entglitten, zwischen Vater und Tochter herrsche seit Jahren schon Eiszeit, aber nun sei auch ihr Draht zu der 15-Jährigen abgebrochen. Ali versuchte zu beruhigen, Pubertät, das sei doch normal. Nein, nein, sie habe vier Kinder und wisse, wovon sie rede. Bei Safiye sei es anders. Sie hänge nur noch auf Facebook, verachte und beschimpfe die Familie. Ali musste ein Lächeln unterdrücken. Jugend halt! Verschämt nagte die Mutter am Saum ihres Kopftuchs.

»Hocam, ich wollte es nicht, Allah möge mir verzeihen, aber vor ein paar Tagen war sie noch garstiger als sonst. Und als ihr Vater ausholte, er hat es nicht so mit dem Reden, ihm rutscht schon mal die Hand aus, also, da schrie sie ihn an: ›Was bist du denn für ein Muslim, dass du deine Tochter schlägst! Mit Allahs Willen bin ich euch schon bald alle los!‹ Sie rannte aus dem Zimmer und ließ vor lauter Wut das Handy liegen. Plötzlich hatte ich es in der Hand, und als ich über den Monitor wischte, war da so ein Video …« Sie schluchzte auf. Ali stutzte. Was meinte die Frau? »Sie hört schon lange so komische Musik, arabische Gesänge. Dabei kann sie gar kein Arabisch, genauso wenig wie wir. Und jetzt die Kämpfer in dem Video, und Männer, auf Knien und …«

Ali stöhnte, wieder eine Radikalisierung. Er war hilflos. Auf ihn hörte doch eh keiner. Ebenso wenig wie auf die verzweifelten Eltern. Die nicht verstanden, was sie falsch gemacht haben sollten. Doch es ging über den üblichen Generationenkonflikt hinaus.

»Bitte reden Sie mit ihr, Hocam, ich habe Angst, dass wir sie verlieren …«

Ich soll in einem Gespräch richten, was jahrelang falsch gelaufen ist, dachte Ali. Doch was blieb ihm anderes übrig, als einem Hausbesuch zuzustimmen.

Zwei Tage später saß er bei der Familie im Wohnzimmer und trank Tee. Der Vater stierte auf den Fernsehapparat, als die Tochter erschien. Ali erstarrte. Irgendwo hinter dem Stoffgitter mussten ihre Augen sein. Burka! Plötzlich fühlte er sich der eigenen Religion entfremdet. Er war es gewohnt, mit Frauen zu reden, ohne ihnen in die Augen zu blicken. Aber eine Frau, ein junges Mädchen ohne Gesicht? Samarra, musste er unwillkürlich denken. Seit der IS die Stadt in der Hand hatte, waren die Frauen aus der Öffentlichkeit verschwunden, flüchtig nur hatte er bei seinem letzten Besuch vorbeihuschende Schemen gesehen, von Kopf bis Fuß verhüllt.

»As-salam-u aleiki.« Er spürte, wie das Mädchen kurz stutzte bei der personalisierten Grußformel, aber sogleich auf Abwehr schaltete.

»Wa-aleikum.« Noch die kurze Standardformel verknappte sie.

»Du sprichst gut arabisch«, fuhr er auf Türkisch fort.

Sie schwieg. Er fragte sie nach der Schule. Sie schwieg. Also mitten ins Thema hinein.

»Deine Eltern machen sich Sorgen um dich.«

»Die sollen sich lieber Sorgen um sich selber machen!«

»Unverschämtes Gör, was erlaubst du dir vor dem Hoca!«, fuhr der Vater dazwischen.

»Wenn du schon mit uns nicht sprichst, sprich doch bitte mit dem Hoca«, versuchte die Mutter zu beschwichtigen.

Safiye lachte. »Mit dem Hoca, den ihr mir auf den Hals gehetzt habt!«

»Niemand hat mich gehetzt«, widersprach Ali, höchste Zeit, dass er das Ruder wieder übernahm. Doch er kam nicht an das Mädchen heran. Wie sollte das auch in der Familie gehen? Offensichtlich verachtete sie die ungebildeten Eltern, einfache Arbeiter beide, die sich ihr Leben lang abgerackert und längst keine Ideale mehr hatten. Mit Koransprüchen und Nachhilfe in Religion brauchte er dem Mädchen nicht zu kommen. Was brauchte sie? Verständnis? Wertschätzung? Ich hätte Psychologie studieren sollen und nicht Theologie, dachte Ali nicht zum ersten Mal. War da noch etwas zu retten? Vielleicht würde sie ihm unter vier Augen sagen, wie es ihr ging, was ihr wirklich fehlte. Vielleicht brauchte sie nur eine Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen wirkte bei vielen Jugendlichen Wunder.

»Safiye, komm doch morgen in mein Büro. Allein.« Als Imam hatte Ali die Autorität, die ihm vom Alter her in diesem Konflikt nicht zugestanden hätte. Der Vater schnappte nach Luft, die Mutter lächelte in ihre Kopftuchzipfel hinein.

Safiye fauchte: »Schule!«

Ali schaute auf die Uhr, stand auf. »Ich erwarte dich um vier.«

Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Als er sich mit einer allgemeinen Geste verabschiedete, wusste er noch immer nicht, wohin er schauen sollte bei diesem Kopf ohne Gesicht. Nur niemandem die Hand geben, nur die unsichtbaren Grenzen beachten, die hier alle so wichtig nahmen! Er hasste das, aber manchmal nutzte er die starren Strukturen für seine Zwecke.

Sie kam nicht. Nicht um vier, nicht um fünf. Sie kam überhaupt nicht. Am Tag darauf aber kam der Vater. Der Vorwurf in Person. »Du hast die Schuld!«

Safiye war weg. Sie sei nach der Schule nicht heimgekommen, dann habe die Mutter bemerkt, dass Kleidung fehlte, und ihr Teddy, auch die Reisetasche.

»Wahrscheinlich sitzt sie im Flieger nach Damaskus!«, kam es aus einer Ecke.

Der Vater wurde handgreiflich, ein paar Männer gingen dazwischen, beruhigten ihn.

»Setz dich, trink erstmal Tee.«

Einige ältere Männer schimpften, weil er die Tochter nicht längst ins Internat in die Türkei geschickt hatte, die jüngeren fragten nach ihrem Umfeld. Die Männer malten Horrorszenarien an die Wand, man müsste, man dürfe nicht, der Hoca muss, kann er denn nicht … Ich hätte die Eltern gleich zur Beratungsstelle Radikalisierung schicken sollen, dachte Ali. Wie konnte ich nur denken, allein etwas ausrichten zu können? Frustriert griff er nach dem Trenchcoat und stahl sich davon.

Weg von den Problemen, die er nicht lösen konnte, die ihm über den Kopf wuchsen. Doch wohin? Zu allem Übel hatte er auch noch den neuen Krimi aus Beirut auf dem Tisch liegenlassen, der ihn tröstete, wenn ihm seine teuren Brüder und Schwestern im Glauben auf den Geist gingen.

Es regnete und von Westen her blies frischer Wind. Dennoch ging Ali den schmalen Weg durch die Häuser zum Kanal. Der Park war menschenleer, der Wind nahm zu. Auf dem Pfad am Kanal störte sich niemand an einem Imam, der Selbstgespräche führte, die Hände in den Manteltaschen, den Kragen, in dem ihm das Regenwasser aus den Haaren tropfte, hochgeschlagen.

Als er in die nächste Straße einbog, kam ihm ein Kind mit einem Handtuch entgegen.

»Mama sagt, der Herr Hoca soll sich den Kopf abrubbeln, sonst ist er morgen erkältet.«

Der kleine Junge, selbst pitschnass, grinste verlegen. Ali lächelte, zog den Steppke zur Bushaltestelle, rubbelte erst ihm dann sich selbst den Haarschopf trocken und fragte, ob die Mama Röntgenaugen habe.

»Nö, unser Balkon geht zum Park raus, du läufst da doch ständig rum, immer auf und ab«, verriet der Junge.

Ali riss die Augen auf, er musste schnellstens weg, hier war er einfach zu bekannt. Er drückte dem Bengel das Handtuch in den Arm, zwickte ihn freundschaftlich in die Wange, trug Dank und Grüße an die Mama auf und sprang in den Bus.

Durfte ein Imam zu Starbucks gehen? Verflucht noch mal, genau dorthin ging er jetzt und ließ den Beruf zu Hause. Warum sollte nicht auch ein Imam mal Feierabend haben dürfen? Erleichtert stellte Ali fest, dass die Tafel hinter dem Tresen mit den tausend Kaffeespezialitäten haargenau denen in Ankara glich. In alter Gewohnheit glitt sein Blick beim Bestellen zum Namensschild der Barista. Der Name klang Türkisch, er versuchte sein Glück.

»Sorry, ich kann kein Türkisch.« Das Mädchen lächelte. Na, zum Latte-Bestellen reichte sein Deutsch allemal.

Dann saß er mit dem Riesenbecher am Fenster, wischte sich den Schaum von der Oberlippe, beobachtete, wie die Lichter der Stadt aufflammten, wie der Asphalt glänzte und die Leute unter Regenschirmen hastig über Pfützen sprangen. Er kannte das Leben hier viel zu wenig. Wie sollte er da einem jungen Mädchen mitten in der Pubertät helfen, den eigenen Weg zu finden? Trotzdem schade, dass sie ihm nicht einmal eine Chance gegeben hatte. Radikalisierung! Er musste ein Konzept entwickeln, musste aus der lähmenden Hilflosigkeit heraus. Er zog den kleinen schwarzen Notizblock aus der Innentasche. Wo war der Bleistift? Die Barista reichte ihm einen Kuli über den Tresen und lachte. »Aber wiederbringen!«

Infostelle-Moschee-Schule-Familie, Linien von hier nach dort, Behörden, Anwerber … Die Kids waren auf der Suche, da kamen die Anwerber ins Spiel, wer waren sie? Und wo? Wer vermittelte? Wer sorgte für Tickets? Wohin? Was erwartete die Jugendlichen dort? Und wer? Die Liste der Fragen wurde länger, rein mechanisch warf seine Hand mögliche Antworten aufs Papier. Plötzlich merkte Ali, dass er begann, das Mädchen hinter dem Schleier hervorzuholen, ihre Freunde, die Sehnsucht nach Liebe, nach Sinn, nach einer Aufgabe im Leben, er spann ihre Geschichte weiter. Bald waren die Seiten des handgroßen Notizblocks gefüllt und ein Barista stellte geräuschvoll schon die ersten Stühle hoch.

»Wo kriegt man hier Hefte?«, erkundigte Ali sich bei dem Jungen. »Schulhefte, zum Schreiben.«

»Hm, ist schon ziemlich spät, vielleicht am Hauptbahnhof?«

Auf dem Weg explodierte in seinem Kopf eine Idee nach der anderen, drängte heraus. Er griff die dickste Kladde vom Stapel, schlug sie noch in der Schlange vor der Kasse auf und warf Stichworte hinein.

»Gibt’s hier noch geöffnete Cafés?«, fragte er den Kassierer, der leicht pikiert das bereits in Betrieb genommene Heft abkassierte.

Stunden später mutierte das Café in der Langen Reihe zur Bar und wurde ihm zu laut. Reihenweise hatte Ali, ohne sie in seiner Schreibwut auch nur eines Blickes zu würdigen, Männer abgewimmelt, die sich Kontakt suchend zu ihm gesetzt hatten: »Sorry, keine Zeit!«

Dabei hob er durchaus hin und wieder den Kopf, doch wohin er auch schaute, er sah nur das junge Mädchen auf dem Weg nach Syrien. Sie heiratete gerade einen IS-Kämpfer, als neben ihm ein Glas umkippte. Er riss das Heft weg, nahm die Spritzer auf der Hose hin, fragte nach einem Hotel in der Nähe. »Ruhig und nicht zu teuer!«

Im dritten hatte er Glück mit der einzigen Bedingung, die er in dieser Nacht an ein Hotelzimmer stellte.

»Das kriegen wir hin«, sagte der Nachtportier und telefonierte, einmal, zweimal, dreimal. Zwanzig Minuten später hatte Ali ein stilles Zimmer, drei Flaschen Mineralwasser – noch immer traute er sich nicht, Wasser aus der Leitung zu trinken – und einen Laptop mit improvisierter türkischer Tastatur: Auf den Tasten klebten türkische Buchstaben dort, wo sie von den deutschen abwichen.

Am nächsten Morgen meldete er sich in der Gemeinde krank, unterbrach geschwind, bevor man ihm fürsorgliche Betreuung schicken konnte, und schrieb weiter. Drei Tage, drei Nächte. Als Ali am vierten Tag gegen Mittag aus einem kurzen, traumlosen Schlaf erwachte, hatte es zu regnen aufgehört. In einer letzten Eingebung setzte er den Titel über das Manuskript: »Regen in Rakka«, und schickte es an Kemal. Der Freund betrieb ein kleines Antiquariat in Ankara und versorgte Ali regelmäßig mit gar nicht frommen Krimis in drei Sprachen.

»In Hamburg regnet es ständig, ich komme um vor langer Weile, aber jetzt ist mir eine Story über den Weg gelaufen, lies doch bitte mal …«, tippte Ali in die Mail. Kemal nahm nie ein Blatt vor den Mund, auf sein Urteil konnte er sich verlassen, wie auch auf seine Verschwiegenheit.

In der S-Bahn nach Wilhelmsburg fühlte Ali sich beschwingt, er hatte ein Ventil gefunden, um mit all den bedrückenden Problemen fertig zu werden. Doch als der Bus in den Vogelhüttendeich einbog, traf ihn der Schlag: »Oh Gott, wenn die Eltern erfahren, dass ich ihre Tochter in Syrien umgebracht habe, steinigen sie mich!«

Was hatte er getan? Gleich zu Hause würde er Kemal bitten, die Mail ungelesen zu löschen.

An der Wohnungstür erwartete ihn ein Post-it: »Ali Hoca, wir sind in Sorge! Wo sind Sie? Wir erwarten Sie dringendst! Die Vorstandswahlen!!!«

Die waren gestern gewesen. Er hatte sie vergessen. Am besten ging er gleich ins Gemeindezentrum hinüber.

Ob Sorge überwog oder Misstrauen, blieb Ali verborgen. Er war krank gewesen, jetzt war er wieder auf dem Damm, weiter mochte er sich nicht erklären. Die nächsten Tage und Wochen leitete er gewissenhaft alle Gebete, besorgte Beerdigungen, nahm zwei Trauungen vor, unterstützte die älteren Kollegen bei den Korankursen und richtete eine Mädchengruppe für Hausaufgabenbetreuung ein. Endlich fassten die Leute Vertrauen zu ihm, nicht aufgrund seiner Position, sondern weil er zuhörte, ja, plötzlich war er dazu fähig, sagte wenig, hatte für jeden ein offenes Ohr. Empathisches Zuhören, merkte er bald, ebnete so manches Mal schneller den Weg zur Lösung als altkluge Ratschläge. Dass er dabei stets Notizbuch und Stift zur Hand hatte, fiel gar nicht auf. Abends verabschiedete er sich früh aus jeder Runde und verschwand. Er mied Hausbesuche, auch in Kneipen sichtete man ihn nicht, also wähnte man ihn im Gebet oder bei seinen Studien. Die dreieinhalb Tage, die er abgetaucht war, schienen vergessen, der junge Hoca hatte sich offenbar in seine Berufung hineingefunden.

Dann kam das Paket.

»Neue Krimis von Kemal!«, freute Ali sich. Ungeduldig riss er das grobe Packpapier auf. Aber was fiel Kemal ein, ihm nicht wie üblich ein Exemplar der Neuerscheinungen zu schicken, sondern gleich zwanzig? Ali Naki hieß der Autor. Ali stutzte, das war doch der Name des zehnten Imams, Gegenstand seiner abgebrochenen Dissertation. Hatte sich da jemand einen Scherz erlaubt? Neugierig las er den Titel: »Regen in Rakka«.

Hastig drehte er das Buch um, las den Klappentext, ihm schwindelte. Er wühlte in dem Bücherstapel, griff wahllos das immer gleiche Buch heraus, las ein Dutzend Mal den Titel. Kein Zweifel: Kemal hatte klammheimlich sein Buch drucken lassen!

Sein Handy klingelte. »Kemal? Ja, ist heute angekommen. Wie konntest du …«

Kemal fiel ihm ins Wort: »Es gibt Interviewanfragen und der Verlag will, dass du zur Buchmesse kommst. Die erste Auflage war schon innerhalb einer Woche vergriffen. Sie haben nachgedruckt. Und sie wollen mehr, hast du das nächste fertig?«

Ali floh. In sein Café in der Stadt. Am Tresen fragte die Barista: »Brauchst du wieder einen Kuli?«

Heiß durchströmte ihn Freude über die Anonymität.

»Wenn du wüsstest, was der mir für ein Glück gebracht hat!«

Doch ihr neugieriges »Erzähl!« hörte er schon gar nicht mehr. Wieder saß er am Fenster, grübelte, blickte hinaus und blätterte durch seine Notizen.

»Der zehnte Imam« stand da am Rand, mit drei Fragezeichen. Natürlich! Ali Naki, der zehnte Imam, hatte in Samarra gelebt, die Neustadt und die erhaltenen Ruinen waren jetzt in den Händen des IS. Lebendig stand ihm der Besuch des Mausoleums vor Augen, wo Ali Naki begraben lag, wie auch sein Sohn, der elfte Imam. Er sah an den uralten Sandsteinwänden die Schatten von IS-Kämpfern mit Maschinengewehren, hörte raue Stimmen Befehle brüllen. Doch er konnte Samarra befreien, zumindest auf dem Papier. Die Ideen sprudelten, er kam mit dem Schreiben kaum hinterher. Nachts fand er sich in »seinem« Hotel in St. Georg wieder, den Laptop hatte er diesmal selbst dabei. Am nächsten Morgen bettelte er durchs Telefon: »Ahmet Bey, drei, vier Tage, nicht mal eine ganze Woche …«

Er wusste, die Gemeinde fürchtete nichts mehr, als dass noch ein Imam verschwand, also konnte er sich gewisse Freiheiten herausnehmen, auch kleine Fluchten ohne Erklärung.

Kurz vor den Sommerferien schlüpfte Enes nach der Sprechstunde in sein Büro, Ali hatte weit überziehen müssen, wie fast immer.

»Hocam, eine Sekunde noch, ich habe eine Idee!« Enes hatte ständig Ideen, und Ali war froh darüber. »Wir wollen Ali Naki einladen, den Autor von der neuen Islam-Krimi-Reihe, die in der Türkei so geil abgeht, äh, so supertoll ankommt, meine ich.« Er grinste entschuldigend. »Der neue Band heißt ›Der zehnte Imam‹, das müssen Sie lesen, genau Ihr Thema, die verschwundenen Imame und so. Ist auch schon wieder Top auf der Bestsellerliste!« Enes sprudelte weiter.

Ali hatte sich dem Drängen des Verlags widersetzt und keine einzige Signierstunde abgehalten, war zu Interviews nur schriftlich bereit und auch zu keiner Buchmesse gefahren.

»Aber …«, fing er an, doch dann sah er den Glanz in Enes’ Augen.

»Na gut, Enes, ich bin dabei«, versprach er. Letztendlich würde er sich nicht ewig verstecken können. Und wenn die Gemeinde sein Doppelleben nicht akzeptierte, würde eben auch ihr zehnter Imam verschwinden.

10 Jahre acabus Verlag. Die große acabus Jubiläums-Anthologie

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