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Operation Decem

Berlin, Februar 2051

Die Gestalt, die sich vor ihr in dem bodentiefen Fenster spiegelte, war nur noch eine Hülle. Ein provisorischer Rahmen für die große Leere in ihr.

»Wir müssen die Friedrichstraße aufgeben, Gwen.« Elli stand neben ihr und schaute zu ihr hoch. Elli. So zierlich. So zerbrechlich, aber mit einer Energie, die für fünfzig Frauen reichte. Während sie selbst – Gwen, eine Frau wie ein Baum, schoss ihr die alte Hänselei durch den Kopf – nur noch nach einem Ort suchte, an dem sie ungestört sterben konnte.

Die Fernglasfunktion ihrer Vidjas erlaubte den beiden Frauen den Blick auf die Kämpfe, die mehrere Häuserblocks entfernt in den Schluchten der Friedrichstraße tobten. Ihre eigenen Truppen, gekleidet in dunklem Violett, hatten den grünen Uniformen der Preußischen Armee in diesem Straßenkampf nicht mehr viel entgegenzusetzen.

Gwen drehte den Spielzeugpanzer in den Händen. Sie hatte ihn für Jérômes zehnten Geburtstag gekauft. Wenn ihr kleiner Bruder Krieg spielte, stand er immer auf der Seite der Gewinner. Ihre ganze Familie stand auf der Seite der Gewinner.

Wann hatte sie die Seite gewechselt?

»Zeit für den Rückzug«, sagte Elli und klang dabei so kühl und gefasst wie immer. Aber in ihren Augen konnte Gwen die Verzweiflung sehen. Noch bevor Elli den Befehl geben konnte, flüchtete ein großer Teil der lilafarbenen Uniformen in fast alle Himmelsrichtungen.

»Das ist jetzt nicht wahr, oder?« Gwen überprüfte ihre Vidja auf einen Fehler in der Anzeige. Aber die Übertragung funktionierte einwandfrei. »Die können nicht einfach abhauen, diese Arschlöcher!«

Um Ellis Mund vertieften sich die Falten. Der Rest ihres Gesichtes blieb völlig unbewegt. »Ich hatte davor gewarnt, uns zu sehr auf Söldner zu verlassen.«

»Die verdammten Söldner werden dafür bezahlt, unseren Frauen den Rückzug zu ermöglichen. Befiehl ihnen, die Stellung zu halten!«

»Zu spät.« Elli war ihr bereits zwei Schritte voraus. Wie immer. Sie hatte den einzig verbliebenen Fluchtweg ausgemacht und die verschlüsselte Vidja-Verbindung zur Kommandantin geöffnet: »Pirco, zurück zum Gendarmenmarkt. Sofort!«

Die Frauen organisierten ihren Rückzug halbwegs geordnet, während die Söldner kopflos durch die Straßen rannten. Die gegnerischen Drohnen folgten den Frauen. Alle, ausnahmslos alle hatten tödliche Fracht an Bord.

Ihre eigenen Drohnen hatte General Gründling mit einem Virus schachmatt setzen lassen. Sie, Elli und all die anderen Frauen hatten gehofft, durch Technik diesen Krieg gewinnen zu können. Ohne eigene Opfer. Wie naiv.

In der Französischen Straße explodierte ein Sprengsatz. Sobald sich der Staub gelichtet hatte, sah Gwen die zerrissenen Körper.

Sie konnte nicht länger zuschauen. Mit einem kurzen Druck auf den Manschettenknopf in ihrem Hemdsärmel schaltete sie die Übertragung der Kämpfe aus. Elli tat es ihr gleich.

Die beiden Frauen kehrten an den Tisch zurück und betrachteten das Modell darauf, das Berlin aus der Vogelperspektive zeigte. Violett leuchteten die Straßenzüge, die sie unter ihre Kontrolle hatten bringen können, grün die anderen. Das östliche Zentrum war nach wie vor komplett violett, genauso wie die Viertel, die von dort nach Osten führten. Dieses Gebiet hatten sie, von Fürstenwalde kommend, in wenigen Tagen erobert. Die Frauen Berlins hatten sich ihnen sofort angeschlossen. Der »Emanzenaufstand«, wie alle Nachrichtendienste sofort getitelt hatten, war auf keinerlei Widerstand gestoßen. Maximilian Freiherr von Bieberstein, der Kanzler, hatte mit ihnen verhandeln wollen. Allein das war ein Riesenerfolg gewesen, wo doch seine AfP erst vor kurzem dafür gesorgt hatte, dass das archaische Frauenbild der Partei Teil der Verfassung wurde: »Der erste, beste und jeder Frau zustehende Platz ist in der Familie. Die vorrangige Pflicht und Aufgabe der Frau besteht darin, ihrem Volk Kinder zu gebären.«

Und dann war General Cornelius Gründling auf der Bildfläche erschienen. Er hatte den bisherigen, glücklosen Verteidigungsminister abgelöst. Man wusste nicht viel von ihm. Er kam nicht aus Berlin, hatte hier weder Familie noch Freunde – aber offenbar das Ohr des Kanzlers.

Und alles änderte sich.

Sie waren bis zum Alexanderplatz gekommen, als die Regierungstruppen zurückschlugen. Die Kämpfe wurden verlust­reich. Trotzdem waren sie weiter vorgerückt. Bis zur Friedrichstraße, den symbolträchtigen Reichstag schon fast in Sichtweite. Und jetzt hatten sie nicht nur einen Großteil ihrer Söldner verloren, sondern auch viele der Frauen, die sich ihrem Kampf angeschlossen hatten. Frauen, die nichts Unmögliches gefordert hatten. Nur gleiche Rechte für Männer und Frauen.

Gwen schlang die Arme um ihren Körper. Der Spielzeugpanzer bohrte sich in ihre Haut, aber sie spürte ihn kaum. Ihr war so kalt. Als ob ihr Körper beschlossen hätte, seine Temperatur um mehrere Grad abzusenken, um den Gedankenstrudel in ihrem Kopf einzufrieren. Jérôme. Der Sonnenschein der Familie. Der kleine Nachzügler. Sie war exakt doppelt so alt wie ihr Bruder und liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt. Mit seinen weißblonden, immer etwas zu langen Haaren sah er aus wie ein Engel. Mit seinem Lachen eroberte er die Welt.

»Wir müssen den General ausschalten«, sagte Elli und berührte sie sanft am Arm. »Meine Liebe, es ist Zeit für Operation Decem.«

Gwen schluckte. Ihr Mund war von einer Sekunde auf die andere wie ausgetrocknet. Es war das eine, Geld für Waffen und Söldner zu organisieren. Es war etwas ganz anderes, selbst in diesen Kampf einzusteigen.

»Meinst du nicht, wir sollten noch etwas warten? Die neuen Drohnen sollen morgen ankommen.«

Elli zeigte auf das Modell der Stadt. »Mit den Drohnen können wir das Zentrum vielleicht noch drei Tage verteidigen. Aber je länger wir uns auf diesen gottverdammten Straßenkampf einlassen, umso mehr Menschen werden dabei sterben.« Elli ging zurück ans Fenster und schaute hinunter auf den Gendarmenmarkt, der 25 Stockwerke unter ihr lag.

»Ich habe Angst.«

Elli drehte sich zu ihr um, hielt ihr einladend die Hände entgegen.

»Ich auch, Gwenni, ich auch.«

Gwen ging zu ihr und nahm die Hände. Ganz warm und trocken, während ihre kaum noch durchblutet wurden.

»Du bist die Einzige, die Operation Decem umsetzen kann«, erinnerte Elli sie. »Wenn du nicht willst, sag es. Niemand wird dir einen Vorwurf machen.« Sie drückte sanft ihre Hände. »Wir alle wissen, dass wir viel von dir verlangen und dass der Plan nur funktioniert, wenn du wirklich zu hundert Prozent dahinter stehst. Du kannst natürlich versuchen, stattdessen aus Berlin zu fliehen. Nur: Ist das wirklich eine Alternative?»

»Nein. Natürlich nicht«, gab sie widerwillig zu.

Anders als Elli besaß Gwen nichts mehr. Elisabeth konnte jederzeit zurück in ihr normales Leben an der Seite ihres erfolgreichen Mannes. Aber wenn sie, Gwen, jetzt weglaufen würde, wäre sie nur noch ein mittelloser Flüchtling. Allein in einer Welt, in der frau besser nicht allein war.

Elli hatte recht. Wie immer. Schon damals, als sie ihr in der Schule zur Seite gestanden und ihr geraten hatte, das Gespött ihrer Mitschülerinnen zu ignorieren, die sie wegen ihrer Größe als Godzillas Schwester verhöhnt hatten. Elli hatte eines Tages einfach dafür gesorgt, dass die Anführerin der Terrorclique auf mysteriöse Weise vom Klettergerüst stürzte und sich dabei beide Arme brach. Woraufhin die Clique einen Bogen um die Freundinnen machte.

Sie vertraute Elli mit ihrem Leben.

Aber sie war sich nicht sicher, ob sie den Plan umsetzen konnte. Ob sie skrupellos genug war, einen Menschen zu töten. Bislang hatte sie immer nur am Rand gestanden und den Kampf der Frauen mit dem Geld ihres Vaters unterstützt. Elisabeth war die Anführerin. Sie war die unbekannte und von der Regierung gefürchtete Generalin, die im Verborgenen eine Armee rekrutiert und ins Zentrum der Macht gesteuert hatte.

George le Fevre, Gwens Vater, hatte ihren Wunsch nach Gleichberechtigung geteilt. Für ihn, den reichen Geschäftsmann, bedeutete das ein ständiges Versteckspiel. Er war gut vernetzt in der Welt von Politik und Militär, hatte in launigen Bierreden die gleichen Machosprüche gemacht wie seine Freunde und ihr dann heimlich sein Geld gegeben. Viel Geld.

Und dann war vor drei Tagen ihr Haus weggebombt worden. Alle, die darin gewesen waren, waren tot. Ihr Vater. Ihre Mutter. Jérôme. Der Spielzeugpanzer in ihrer Hand wog plötzlich mehrere Tonnen.

Da Frauen keinen Anspruch auf ein Erbe hatten, war sie selbst von einem Tag auf den anderen mittellos gewesen. Der Besitz der Familie war an den Staat Neupreußen gefallen. Sie besaß nichts mehr. Nur noch ihren Körper. Eine leere Hülle. Ihre Seele war mit ihrer Familie davongeflogen. Vielleicht lag sie auch mit Jérôme unter den eingestürzten Trümmern ihres Hauses.

Heute wäre Jérômes zehnter Geburtstag gewesen. Zu seinen Ehren hatte Elli die Operation Walhalla in Operation Decem umbenannt.

Elli hielt immer noch ihre Hände. Ihre Augen waren sanftmütig, voller Geduld. Sie drängte sie nicht. Hatte nie versucht, sie zu überreden. Aber sie hatte klar gemacht, dass sie, Gwenaëlle le Fevre, als einzige geeignet war, den General aus dem Weg zu räumen.

Für Elli war es einfach. Sie würde alles nur aus der Ferne verfolgen. Elisabeth von Arnim würde erst bei der abendlichen Dinnerparty davon hören, was im Bendlerblock geschehen war.

Elli, deren Doppelleben jeder Agentin zur Ehre gereichte.

Kurz zuckten Gwens Hände, wollten aus Ellis Umklammerung heraus.

Elli, die kluge, hübsche Elli, mit der jedes Mädchen befreundet sein wollte. Elli, die immer für sie dagewesen war. Die sie in den vergangenen drei Tagen daran gehindert hatte, ihrer Familie zu folgen. Elli hatte ihr den anderen, den sinnvolleren Weg gezeigt, der aus dem Schmerz und der Dunkelheit heraus führte. Einen Weg, den sie nie gegangen wäre, wenn Jérôme noch leben würde.

»Wann soll ich am Bendlerblock sein?«, fragte Gwen.

»In einer Stunde. Du kannst dich in meinen Räumen zurechtmachen.«

Ellis Zofe half ihr beim Ankleiden. Schweren Herzens trennte sich Gwen von ihrer Hose und der schlichten Hemdbluse und ließ sich in das Korsett zwängen, das den Frauen aus ihrer Gesellschaftsschicht den Widerstand schwer machte. Die Zofe schnürte die Korsage so eng, dass Gwen fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Aber ihr Körper war anpassungsfähig. Nach kurzer Zeit gewöhnte er sich an die flache Atmung. Der Reifrock und die Unterröcke hingen schwer an ihrer Taille. Wann nur hatten die Frauen sich ihre Bewegungsfreiheit derart einschränken lassen? Über all den Stoff und Draht fiel ein über und über mit Blumen besticktes Kleid. Tief ausgeschnitten, natürlich. Sie beobachtete im Spiegel, wie ihre weißblonden Haare mit dem Kunsthaar verwoben und mit zahlreichen juwelenbesetzten Spangen zu einer imposanten Turmfrisur gesteckt wurden.

Ans Weglaufen war nicht länger zu denken. Jeder Pinselstrich brachte sie dem Unausweichlichen näher. Ihr war schwindlig, als sie vom Spiegel zurücktrat, um sich ganz betrachten zu können. Ihre Gestalt wirkte trotz der hochgesteckten Haare kleiner als sonst. Korsage und Polster brachten ihren Mini-Busen vorteilhaft zur Geltung und formten eine Taille, die sie von Natur aus nicht hatte. Die Frau, die ihr da entgegenstarrte, war eine völlig Fremde.

»Mein großer Junge«, hatte ihr Vater immer gespottet, wenn sie versucht hatte, sich für einen der abendlichen Bälle zurechtzumachen. Ihr Vater, der jetzt unter Tonnen von Schutt begraben lag.

In ihrem Brustkorb wurde es eng. Tränen, so hatte sie gehört, linderten den Schmerz. Sie hatte noch nie geweint und würde nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen.

Mein großer Junge.

Die Zofe legte die letzte Schicht Make-up auf. Auch ihre eigene Zofe lag unter den Trümmern.

Der Fahrstuhl, der Weg zur Limousine, der Chauffeur, der die Tür aufhielt und ihr dabei half, die Röcke zu sortieren … das alles nahm sie kaum wahr. Sie bewegte sich in einem Tunnel. Links und rechts, oben und unten nur noch graue Wände.

Nein. Sie wollte in ihrer womöglich letzten Stunde kein großes, graues Nichts in ihrem Kopf.

Sie sah ihren Vater, der ihr zublinzelte, nachdem er mal wieder einen seiner Machosprüche gemacht hatte. Jérôme, der auf sie zurannte und im Kreis herumgewirbelt werden wollte. Ihre wunderschöne Mama, die sie in den Arm nahm, ihr einen Kuss auf die Stirn drückte und »ich hab dich lieb« sagte. Weitere Erinnerungen kamen und verdrängten das Grau: Ein Picknick in der Sonne, Gelächter beim Abendbrot, die Kerze, die an Jérômes siebtem Geburtstag im Kuchen versank. Sie rief sich so viele schöne Momente ins Gedächtnis, wie sie konnte. Egal, was ihr jetzt bevorstand, diese Andenken würde sie bei sich haben. Sie würden sie daran erinnern, wer sie war. Immer.

Es war nicht mehr weit bis zum Bendlerblock. Gwen schaute ein letztes Mal in den Spiegel und versuchte, sich in ihre neue Rolle hineinzufühlen. Elli hatte sofort nach Gründlings erstem Auftritt versucht, mehr über ihn herauszufinden. Aber der General schien ein Mann ohne Schwächen zu sein. Bis Nikolaus von Arnim, Leiter für Einkauf und Beschaffung im Verteidigungsministerium und Ellis Ehemann, zufällig über ein Bestellformular gestolpert war: Cornelius Gründling ließ sich regelmäßig Edelprostituierte kommen, herausgeputzt wie Adlige.

Wie Gwenaëlle Le Fevre.

Elisabeths Mann hatte die aktuelle Bestellung abgefangen und an seine Frau weitergereicht.

Gwens Herz klopfte und der Schwindel war wieder da, als sie am Bendlerblock vorfuhren. Ein Soldat öffnete die Tür und begleitete sie ins Gebäude. Ihr Fluchtinstinkt setzte ein. Das hier war doch alles Wahnsinn. Das würde nie funktionieren. Sie wollte umdrehen und weglaufen, aber der Soldat hielt sie derart fest am Arm, dass ihr allein der Weg nach vorn blieb.

Auf was hatte sie sich nur eingelassen?

Der Soldat klopfte, ein knappes »Herein«, sie trat über die Schwelle, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Es klang wie das Zuschlagen einer Gefängnistür. Gründling saß am anderen Ende des Raums hinter seinem Schreibtisch. Er winkte sie mit einer nachlässigen Geste zu sich, während er weiter auf den Tisch starrte. Gründlings Vidja hatte das gleiche Modell von Berlin auf die Glasoberfläche projiziert, vor dem Gwen vorhin mit Elli gestanden hatte. Nur, dass die grünen Straßen jetzt schon bis zur Humboldt-Universität reichten.

Sie musterte den General. Hätte Jérôme so ausgesehen, wenn er so alt geworden wäre? Gründling hatte die gleichen weißblonden Haare, wie ihr Bruder – und wie sie selbst. Seine Augen waren so hellblau wie ihre. Damit endete die Ähnlichkeit aber auch schon. Die zehn Jahre, die er älter war als Gwen, zeigten sich deutlich in den Falten auf seiner Stirn und um den Mund herum. Zehn Jahre. Bartstoppeln brachen unregelmäßig an Kinn und Wangen hervor. Ein sonderbar stechender Geruch ging von ihm aus. Ihr wurde schlecht.

Es wird nicht ewig dauern, Gwen.

Er winkte sie noch näher zu sich heran, wischte dann durch die Luft und aus dem Modell heraus entwickelte sich ein Hologramm. Sie stand mitten in einer der Straßen. Ohne Ton war alles seltsam gedimmt, aber sie wusste, was sie hier sah, passierte jetzt, genau in diesem Moment. Nur wenige hundert Meter vom Bendlerbock entfernt. Um sie herum kämpften die Frauen gegen die übermächtigen Regierungssoldaten. Sie sah, wie die Frauen fielen, sie entdeckte ihre eigenen Scharfschützen in den Häusern hinter sich und die Minidrohnen der Regierung, die sie fanden und töteten.

Sie würden das Zentrum keinen einzigen Tag mehr halten.

Gwen zwang sich, in den Bendlerblock zurückzukommen. Sie konnte den Frauen nur helfen, wenn sie jetzt in ihrer Rolle blieb.

Gründling starrte sie an. Er schien überrascht zu sein.

»Meine Vidja sagt mir, dass du die kleine Le Fevre bist. Stimmt das?«

Sie nickte, traute sich nicht, dem General in die Augen zu schauen, musterte stattdessen das Fischgratmuster des Parketts, über das sich das virtuelle Blut eines getöteten Soldaten ergoss. Sie trat einen Schritt zur Seite.

»Ich habe deinen Vater gewarnt.« Er stand auf und kam auf sie zu. Sie spürte seinen Finger unter ihrem Kinn, er zwang sie, ihn anzusehen. Sie waren auf Augenhöhe. Wenn auch nur körperlich. »Wir wussten, dass er die Rebellen unterstützt. Deshalb haben wir euer Haus zerstören lassen. Der Befehl lautete, alle Le Fevres zu töten. Dass du jetzt vor mir stehst … welch eine interessante Volte des Schicksals.«

Mit wenigen, präzisen Handbewegungen aktivierte Gründling den Ton seiner Vidja. Im ganzen Raum hörte man nun die Schreie vom Schlachtfeld. Verletzte Frauen. Vergewaltigte Frauen. Sterbende Frauen. Jeder einzelne Schrei ein weiterer Aufruf. Tu es. Beende es. Lass es über dich ergehen und räume ihn aus dem Weg.

Ihr Blick wanderte durch den Raum. Auf einem Regalbrett entdeckte sie einen Spielzeugpanzer. Ähnlich dem, den sie gerade noch in der Hand gehalten hatte. Für dich, Jérôme. Operation Decem ist mein Geburtstagsgeschenk. Die Gwen, die sie einmal gewesen war, versteckte sich in dem Panzer, während ihr Körper sich bereitmachte.

Der saure Geruch verstärkte sich. Es interessierte sie nicht länger. Der General warf die Jacke seiner Uniform fort, lockerte seinen Hemdkragen, hielt sich aber ansonsten nicht länger mit seiner eigenen Kleidung auf.

»Zieh dich aus.«

Während das Anziehen alleine kaum zu bewerkstelligen war, war das Ausziehen erschreckend leicht, selbst mit so zittrigen Händen wie ihren. Ein kurzer Zug an dem im Nacken versteckten Band öffnete den Reißverschluss des Kleides. Ein weiterer Zug an der Kordel an der Hüfte löste die Korsage. Ein letzter Druck auf die Mechanik des Reifrocks und die Stäbe falteten sich fein säuberlich zu ihren Füßen zusammen. Die Röcke rauschten hinunter und sie stieg aus dem Berg an Kleidern wie Venus aus dem Meer. Ihre Knie waren so weich, dass sie für einen kurzen Moment glaubte zu stürzen. Aber da hatte er sie schon auf den Fußboden gedrückt, über den das virtuelle Blut in Strömen floss.

Und während er sie umschlang, zog sie die Haarspange mit dem einzelnen Rubin aus ihren künstlichen Haaren. Ein hübsches, aber im Vergleich zu den anderen Schmuckstücken unscheinbares Stück, das ihr Haar oberhalb des rechten Ohrs in Form hielt. Sie drückte auf den Rubin und die Nanoteile der fingerlangen Spange sortierten sich neu, wurden zu einem doppelt so langen Messer.

Sie stach den Dolch genau in seine Halsschlagader. Gründling schrie auf und stieß sich von ihr ab. Gwen hatte den Dolch weiterhin in der Hand, zog ihn durch sein Gesicht, als er, die eine Hand auf seinen Hals gedrückt, mit der anderen nach der Pistole unter seinem Arm greifen wollte. Sie schnitt durch die Haut an seinem Kehlkopf. Die Schreie der Frauen übertönten sein Gurgeln.

Die Tür schlug auf und Nikolaus von Arnim, Elisabeths Ehemann, stürzte herein. Im Schlepptau hatte er den Sekretär und den Kanzler. Hinter den Männern kam Elisabeth ins Zimmer, ihre Freundin Elli, und schrie: »Ich hab’s dir doch gesagt, sie will ihn umbringen! Ihr müsst ihm helfen, schnell!«

Gwen schloss die Augen. Operation Decem. Was für ein Wahnsinn. Warum nur hatte sie sich jemals darauf eingelassen?

Wie durch einen Schleier sah sie, wie der Kanzler sich über den General beugte und sich dann schnell abwandte, wie Nikolaus von Arnim den Sekretär anfuhr, endlich Doktor Wyss zu holen. Sie spürte, wie ihr jemand das Kleid überzog, das nun unförmig von ihren Schultern hing. Einer von Gründlings Soldaten führte sie hinaus. Elisabeth warf ihr einen letzten Blick zu, den sie gerne erwidert hätte, in den sie gerne ihren ganzen Hass über diesen Verrat gelegt hätte, aber sie fühlte nur ihre kalten Füße, den Stoff, der über ihre Haut strich, sie spürte die Angst vor dem, was jetzt kommen würde und fragte sich, ob es sehr wehtun würde.

Der Soldat hatte sie in eine kleine Kammer geführt, wo man sie warten ließ. Als ein anderer Soldat sie endlich auf den Hof brachte, war es fast eine Erleichterung. Das Warten war vorbei. Das Leben von Gwenaëlle Le Fevre würde in wenigen Augenblicken zu Ende gehen. Drei Männer standen ihr gegenüber, ausgestattet mit Gewehren der neuesten Bauart. Dank der Vidja-gesteuerten Zielerfassung würde kein einziger von ihnen sein Ziel verfehlen.

Hinter einem der Fenster glaubt sie kurz, das Gesicht von Elli zu sehen. Aber bevor sie Näheres erkennen konnte, legte man ihr eine Augenbinde um. Das war’s.

»Legt an das Gewehr« – wurden diese altmodischen Floskeln eigentlich nie geändert – und dann »Feuer«.

Drei leise Pfiffe. Das war das Letzte, das Gwen hörte. Sie spürte, wie die Nadeln in ihre Haut eindrangen. Dann nichts mehr.

Als sie zu sich kam, lag sie in einem weichen Bett. Überwachungsgeräte piepten. Um sie herum hörte sie leise Stimmen. »Schlau, ihm das Messer nochmal durchs Gesicht zu ziehen«.

»Wie lange, glaubst du, wird sie brauchen, um – «

»Gewöhn dir das ›sie‹ ab, Nick! Genau solche Kleinigkeiten ruinieren perfekte Pläne.« Elli. Ganz eindeutig.

»Ja, ja. Schon gut. Also, wie lange, glaubst du?«

»Vielleicht kann er heute Nachmittag eine erste Stellungnahme abgeben. Gut verbunden und mit Sprachunterstützung. Befehle wird der General vermutlich nie wieder brüllen können. Aber zum Einflüstern reicht ja auch eine leise Stimme.« Elli machte eine kurze Pause. »Meinst du, der Kanzler hat etwas gemerkt?«

»Nein. Auf dem Weg ins Krankenhaus hat er immer schön Abstand gehalten. Scheint was dran zu sein an dem Gerücht, dass er kein Blut sehen kann. Dafür hat er die getürkten Anzeigen auf dem Vitaldatenmonitor intensiv verfolgt: Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Temperatur. Hervorragende Werte – für einen Toten. Als er sich an der Tür zum OP-Saal verabschiedet hat, war er sicher, dass Gründling nur bewusstlos ist. Doktor Wyss hat ihm mehr als einmal versichert, dass alles gut wird und sein General mit Sicherheit durchkommt. Guter Mann, Doktor Wyss.«

»Ein wahrer Künstler, in der Tat.«

Gwen berührte vorsichtig ihren Hals und ihr Gesicht. Ein Verband verbarg die Operationswunden. Auf Höhe des Mundes war er ein wenig verrutscht. Sie tastete über die Haut und fühlte winzige Bartstoppeln.

Sie spürte, wie ihre Muskeln die neuen Lippen anhoben und ein kleines, feines Lächeln über das Gesicht unter dem Verband glitt.

Über das Gesicht von General Cornelius Gründling.

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