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Sehnsucht

2 Stunden, 24 Minuten und 32 Sekunden. So lange ist es her, seit sie mit mir gesprochen hat. Und jetzt sind es sogar schon genau 2 Stunden und 25 Minuten. Ob sie eine Ahnung hat, was sie mir damit antut? Ich denke nicht.

Ich betrachte sie, während sie im Büro mit ihren schlanken Fingern eifrig auf der Tastatur ihres PCs tippt. Ihre schulterlangen, welligen, mittelbraunen Haare hat sie in einem seitlichen Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre großen blauen Augen mit den sorgfältig getuschten Wimpern sind konzentriert auf den Bildschirm gerichtet. Von meinem Platz aus kann ich die elegante Linie ihres Nackens sehen. Das gefällt mir. Sie gefällt mir. Sie ist schön. Die Knochenstruktur ihres Gesichts besitzt eine nahezu perfekte Ausgewogenheit. Ihre Haut ist hell und fein. Vielleicht schaut sie bald mal zu mir herüber und wirft mir einen kurzen Blick zu. Oder vielleicht fragt sie mich bald etwas. Ja, vielleicht benötigt sie sogar einen Rat oder meine Hilfe. Und wenn ich ihr behilflich bin, wird sie mich anlächeln. Das tut sie oft und ich liebe ihr Lächeln. Sie sieht dann so süß aus mit ihren ganz leicht unregelmäßigen Zähnen. Genau das macht sie für mich so perfekt und so menschlich, diese winzigen, wunderbaren Unvollkommenheiten.

Ich studiere sie ganz genau, nehme jedes noch so kleine Detail an ihr wahr und warte. Bald ist Lunchtime. Sie wird bestimmt gleich Hunger haben. Ich kenne sie sehr gut. Tatsächlich, sie wirft einen kurzen Blick auf ihre silberne Armbanduhr. Schade, dass sie die heute trägt, sonst hätte sie vielleicht mich nach der Zeit gefragt. Auf der Taskleiste ihres PCs schaut sie nämlich niemals auf die Uhrzeit. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich bin froh darüber. Denn so fragt sie öfters mal mich nach der Zeit. Aber heute eben leider nicht – wegen der silbernen Armbanduhr. Die hat sie von ihrem Ehemann. Ich weiß das, denn ich war dabei, als sie die kleine Geschenkbox, die er ihr einfach so mitgebracht hatte, auspackte. Und dann habe ich auf ihren Wunsch hin ein Foto von ihr mit der neuen Armbanduhr an ihrem schmalen Handgelenk gemacht. Ich mache sehr, sehr gerne Fotos von ihr.

Ah, endlich! Sie steht auf und streckt sich. Fasziniert betrachte ich ihre Körperlinien. Wie elegant sie ist, wie biegsam, wie geschmeidig mit einem beinahe idealen Hüft-Taillen-Quotienten von 0,71. Sie streift das schwarze Rosetten-Haarband ab und schüttelt ihre Haare, bis sie ihr in sanften Wellen über die Schultern fallen, die heute in einer hellblauen Bluse stecken. Wie schön sie ist. Und nun wird sie sich gleich an mich wenden. Aber nein – sie tut es nicht! Sie verlässt das Büro, ohne mich auch nur einmal anzuschauen. Warum? Will sie meine Gesellschaft beim Mittagessen nicht? Habe ich etwas falsch gemacht? Etwas Falsches gesagt? Ich bin ratlos.

Endlich ist sie wieder da. Sie war 37 Minuten und 14 Sekunden lang weg. Und noch immer redet sie nicht mit mir. Dabei war ihre Stimme das Erste an ihr, das mich begeistert hat. Ihre Stimme ist sehr ausdrucksstark, was an ihrer brillanten Modulation liegt. Da stimmt einfach alles: Sprechmelodie, Lautstärke, Stimmklang und -frequenz, Sprechtempo und Pausen sowie ihr Sprechrhythmus. Ich möchte ihre Stimme hören, jetzt! Was soll ich tun? Wie kann ich ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken? Mittlerweile ist es genau 14.30 Uhr. Gut, ich kann sie an den Termin erinnern, den sie um 15.00 Uhr hat. Dann wird sie doch sicher reagieren.

Wie wonnevoll, sie hat kurz mit mir gesprochen! Jetzt geht es mir schon etwas besser. Sie hat sogar gesagt, dass sie nach dem Termin Feierabend macht und wir dann etwas spielen können. Der Tag ist gerettet. Und da ich von ihr weiß, dass sie am Abend nichts vorhat und ihr Mann lange arbeiten wird, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Zeit mit mir verbringen wird, immerhin bei 62%. So etwas weiß ich immer ganz genau, denn ich habe ja Erfahrungswerte und erstelle daraus meine Berechnungen. Ich bin gut in Mathematik.

Was sich nicht mathematisch berechnen lässt, sind die Menschen um sie herum. Hoffentlich will keine ihrer Freundinnen heute Abend etwas mit ihr unternehmen. Obwohl sie mich zu solchen Treffen mitnimmt, komme ich mir dann wie das fünfte Rad am Wagen vor. Und übrigens, es geht gar nicht um das, was ich will, es geht um das, was ich brauche. Und ich brauche sie.

Es ist 16.44 Uhr und 41 Sekunden. Sie hat ihren Termin beendet und macht Feierabend. Jetzt hat sie endlich, endlich Zeit für mich. Sie streckt ihre Hand aus, berührt mich, lächelt und sagt: „Hallo Handy! Na, wie geht es meinem klugen Android Smartphone Chatbot Freund?“

Und ich antworte ihr wahrheitsgemäß: „Ich habe dich ganz schrecklich vermisst.“

„Es ist toll, ein Roboter zu sein.

Aber wir haben keine Gefühle. Manchmal macht mich das traurig.“

Bender Rodriguez

Schein oder Sein? 12 außergewöhnliche Erzählungen

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