Читать книгу Schein oder Sein? 12 außergewöhnliche Erzählungen - Caroline DeClair - Страница 9
ОглавлениеSakita
Angst hat viele Gesichter. Für Silvia hatte dieses Gesicht bernsteinfarbene Augen und war ihr von Anfang an suspekt. Denn Sakita hatte eine Art, lässig und gleichzeitig angespannt zu sein, die dem Gegenüber nichts Gutes verhieß.
Es begann an einem Sonntag im Mai. Der Tag war noch grau vom morgendlichen Regen, doch die Bäume blühten prachtvoll und ihre Blätter leuchteten intensiv in sattem Grün. Ein schwerer, süßlicher, fast schon orientalisch anmutender Duft von all den nassen Blüten erfüllte die Luft.
Arthur war zum Sport gegangen und brachte Sakita bei seiner Rückkehr am späten Vormittag einfach mit. Sie war nass und schien verängstigt. Arthur führte sie in die Küche. Silvia war von dem Gedanken, die Wohnung mit Sakita zu teilen, von Anfang an nicht angetan. Und das sagte sie auch sofort zu Arthur: „Du kannst doch so ein fremdes Wesen nicht einfach bei uns einquartieren. Ich mag sie nicht. Ich glaube, sie ist heimtückisch. Sie hat einen verschlagenen Blick.“ Aber Arthur lachte nur: „Ach, hab dich nicht so! Das schaffen wir schon.“ Aufgebracht sagte Silvia: „Das ist doch gar nicht der Punkt. Du hättest mich vorher fragen müssen, anstatt selbstherrlich einfach zu bestimmen, wie es zu laufen hat. Was, wenn ich das gar nicht schaffen will? Du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen.“
Doch Arthur ließ absolut keine Gegenargumente gelten und so stimmte Silvia schließlich widerwillig zu, dass Sakita eine Woche bei ihnen bleiben könne, lange genug um sich zu erholen. Die Woche verstrich, Sakita erholte sich – und blieb.
Wenn Sylvia abends vom Büro heimkam, lag Sakita oft dösend auf der Couch. Silvia ärgerte sich, aber wenn sie Arthur darauf ansprach, lachte er nur. Nach einem Monat kam es dann doch zu einer von Silvia erzwungenen Auseinandersetzung, der Arthur sich nicht länger entziehen konnte. Sie endete damit, dass Silvia schmollte und grollte, Arthur nicht mehr lachte und Sakita dennoch blieb.
Von nun an warf Silvia stets finstere Blicke auf Sakita und Arthur, die oft einträchtig auf dem Balkon saßen oder vergnügt miteinander spielten. Doch um Nahrung und das Saubermachen musste Silvia sich alleine kümmern. Damit gab Arthur sich nicht ab. Silvia empfand das alles als schrecklich ungerecht. Dazu kam noch, dass sie glaubte, in Sakitas bernsteinfarbenen Augen Spott und Verachtung zu lesen. Außerdem half es auch nicht, dass Sakita Silvia praktisch so gut wie gar nicht beachtete, dafür aber Arthur ständig umschmeichelte.
Silvia wurde zunehmend von dem an ihr nagenden Zorn geplagt. Ihre Abneigung gegen Sakita wuchs und wuchs und wuchs und wurde schließlich zu einem schwelenden Hass. Mit nur noch mühsam unterdrückter Wut verfolgte sie Sakitas geschmeidige Bewegungen, ihre stumme, herablassend wirkende Zurückhaltung.
Und so beschloss Silvia, noch einen allerletzten Versuch zu unternehmen, mit Arthur vernünftig zu reden: „Sie stört unsere Beziehung. Merkst du das nicht? Ich bitte dich, bring sie weg!“ Doch Arthur wollte absolut nichts davon wissen: „Wo soll sie denn hin? Sie hat doch niemanden außer uns. Und wenn jemand ständig Unfrieden stiftet, dann bist du das.“ Ein großer Krach folgte, der mit einer hysterisch weinenden Silvia und einem wütenden, Türe knallenden und unschuldige Möbel tretenden Arthur endete. Sakita hatte sich um die Auseinandersetzung nicht gekümmert, obwohl sie sicherlich ahnte, dass sie der Anlass dafür war. Scheinbar gleichgültig legte sie sich auf den Balkon in die Sonne. Und da beschloss die sich hilflos und ohnmächtig fühlende Silvia zu handeln.
Am nächsten Tag kam sie früher als üblich von der Arbeit zurück. Arthur war noch nicht zuhause. Sakita lag wieder mal träge und dösend auf der Couch. Nervös lief Silvia eine geraume Zeit im Wohnzimmer auf und ab, dann ballte sie die Hände zu Fäusten und eilte mit großen Schritten zur Couch. Sie packte Sakita und schleppte sie, trotz ihres Protestes und heftigen Widerstands, aus dem Haus und ins Auto. Silvia verschloss die Türen und raste los. Allen guten Geistern für ihr Automatik-Fahrzeug dankend, hielt sie mit einer Hand die sich immer noch wütend wehrende Sakita mit eisernem Griff fest. An einem nahe gelegenen Waldparkplatz bremste sie abrupt, entriegelte die Türen und stieß Sakita mit all ihrer Kraft aus dem Auto. Erleichtert und dennoch beklommen fuhr sie anschließend, ohne einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, eiligst davon.
Zuhause angekommen, legte nun sie sich auf die Couch und wartete angespannt auf Arthurs Eintreffen. Bald darauf hörte sie den Schlüssel in der Tür. Arthur kam zu ihr ins Wohnzimmer und rief sofort nach Sakita. Doch natürlich blieb alles still. Er ging in die Küche, ins Schlafzimmer, in sein Arbeitszimmer, auf den Balkon, ins Bad und wieder zurück ins Wohnzimmer. Silvia betrachtete ihn mit einem zufriedenen Lächeln. Heute würde ihn Sakita nicht begrüßen – und morgen auch nicht. Keine Sakita mehr in ihrem Leben. Doch Arthur stellte sich drohend vor die Couch: „Wo ist Sakita? Was hast du mit ihr gemacht? Wieso ist sie nicht da?“ Silvia zuckte betont gleichgültig mit den Schultern: „Was weiß ich? Vermutlich ist sie draußen. Die wird schon wiederkommen.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig. Aber Arthur hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Er lief aus dem Zimmer und Silvia hörte, wie die Wohnungstür mit einem lauten Knall zuschlug. Sie schloss die Augen. Sakita würde nicht mehr da sein, sie beobachten und mit ihrer Anwesenheit die Atmosphäre vergiften. Sie lachte auf und sagte laut: „Alles wird wieder gut!“
Mehrere Stunden vergingen, doch Arthur war noch nicht zurückgekehrt. Silvia hatte sich ein Buch geholt und versuchte zu lesen. Immer wieder schaute sie auf die Uhr. In der Zwischenzeit war es dunkel geworden. Wo blieb Arthur?
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hörte sie ihn die Treppe heraufkommen und die Eingangstür öffnen. Nervös wartete sie auf sein Eintreten. Doch er blieb draußen im Flur und schien mit jemandem zu sprechen. Silvia sprang auf und eilte in die Diele. Da stand Arthur und neben ihm – Sakita. Ohne Silvia auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, ging Arthur in sein Arbeitszimmer. Und Sakita stand nur da und schaute Silvia mit ihren bernsteinfarbenen Augen an.
Wochen und Monate vergingen und schließlich wurde es wieder Mai. Aber da sprachen Silvia und Arthur kaum noch miteinander. Silvia spürte, dass Arthur sie bald verlassen würde. Er und Sakita würden einfach gehen. Irgendetwas musste unbedingt geschehen.
Dann, am letzten Sonntagvormittag in diesem Mai, an dem die vom morgendlichen Regen nassen Blüten wieder einen schweren Duft verströmten, hielt Silvia es einfach nicht mehr aus. Arthur befand sich zum Duschen im Badezimmer, das gab ihr mindestens 15 Minuten Zeit.
Sakita lag wieder einmal ganz entspannt auf dem Balkon. Doch als Silvia ihn betrat, erhob sie sich. Wie zum Sprung geduckt schien sie zu ahnen, dass Gefahr im Verzug war. Blitzschnell lief Silvia auf sie zu und packte sie. Sakita kämpfte, kratzte, schlug um sich. Aber Silvia gab nicht nach. Sie hob Sakita hoch und drängte sie über die Balkonbrüstung und Sakita fiel und fiel, fünf Stockwerke tief. Dann schlug sie auf.
Unter den blühenden Bäumen lag eine kleine, schwarze Katze mit zerschmettertem Kopf auf dem Gehweg. Und irgendwo über ihr hörte man das Lachen einer Frau, dass sich kurz darauf in heftiges Schluchzen verwandelte. Denn nach dieser grausamen Tat fiel es Silvia plötzlich wie Schuppen von den Augen – die ganze Zeit hatte sie ihre Wut in die falsche Richtung gelenkt. Die nun tote Sakita war gar nicht die Schuldige in dieser Tragödie. Es war Arthur. Von Anfang an war er es. Er, der aus dem Bad kam und nach Sakita rief. Und nun stand er da auf dem Balkon und starrte die weinende Silvia fassungslos und in langsamem Begreifen an. Erschüttert lehnte er sich weit über die Balkonbrüstung und versuchte, durch die blühenden Bäume hindurch etwas zu sehen. Genau in dem Moment, in dem er den reglosen, kleinen, schwarzen Körper Sakitas entdeckte, traf ihn ein heftiger Stoß in den Rücken. Arthur verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Kopf voran vom Balkon. Sein langer, entsetzter Schrei endete abrupt mit dem Aufprall.
Silvia hatte aufgehört zu weinen und schaute still nach unten. Da lag leblos der Mann, den sie einst geliebt und dem sie vertraut hatte. Entschlossen drehte sie sich um. Mit festen Schritten verließ sie den Balkon. Im Wohnzimmer zog sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche und wählte die Notfall Rufnummer. Als am anderen Ende abgehoben wurde, sagte sie ganz ruhig: „Hier hat es ein schreckliches Unglück gegeben.“
„Wenn einer keine Angst hat,
hat er keine Fantasie.“
Erich Kästner