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Rosa Rosen

Lisa entdeckte die kleine Galerie in einer unauffälligen Nebenstraße in dem an der Küste liegenden Fischerdorf. Es war ein Samstag Anfang Juli, an dem sie, 24 Jahre alt, Kunststudentin und Single, sich in ihr Cabrio gesetzt hatte und einfach mal wieder so ins Blaue gefahren war. Doch plötzlich hatte sie riesige Lust auf ein Eis bekommen und war auf der Suche danach durch die wenigen Straßen in dem kleinen Ort gekurvt. Nun hatte sie zwar immer noch kein Eis, aber dafür diese Galerie gefunden. Doch eine künstlerische Offenbarung war das Ganze nicht, nur jede Menge eher dilettantisch gemalte Bilder aus der Gegend mit Himmel, Meer, Strand und Fischerbooten, dargeboten auf sonnengelb gestrichenen Wänden. Und natürlich fehlte auch der obligatorische Postkartenständer nicht. Lisa grübelte gerade über die eher nicht weltbewegende Frage, ob es heutzutage wohl noch viele Leute gäbe, die tatsächlich Ansichtskarten verschickten, statt Schnappschüsse mit oder auch ohne Selfies von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort per Handy zu senden. Da fiel ihr plötzlich an einer der Wände der Galerie ein kleines Gemälde mit Rosen auf. Die rosafarbenen Rosen hatten etwas unglaublich Greifbares. Fast erschien es, als ob der Betrachter sie anfassen und den Duft der Rosen durch das plastisch anmutende Gemälde hindurch riechen könne. Lisa fand dieses Bild sehr gelungen und außerdem liebte sie Rosenmotive – auf T-Shirts, Bettwäsche, Sommerkleidern und ganz besonders in der Malerei. Sie überließ den Postkartenständer wieder seinem einsamen Dasein und ging zu dem Rosengemälde. Auf der Suche nach einem Preis betrachtete sie es ganz genau. Ah, da war ja auch eine Signatur in der unteren rechten Bildecke: Rosa Rosen.

Was sollte das denn? Wer signierte ein Bild denn mit der Beschreibung dessen, was er oder sie gemalt hatte, statt mit seinem Namen? Während Lisa noch immer verwundert die seltsame Signatur betrachtete, erschien plötzlich die Galeristin aus einem Hinterzimmer, das durch einen ebenfalls sonnengelben Vorhang abgetrennt war, den Lisa zuvor gar nicht gesehen hatte. Die Augen der etwa 40 Jahre alten Frau waren stark gerötet und sie hielt ein zusammengedrücktes Taschentuch in der Hand. „Heuschnupfen“, verkündete die Galeristin, „extrem heftig dieses Jahr.“

„Äh ja, sicherlich sehr unangenehm“, murmelte Lisa leicht befremdet und fuhr fort: „Ich interessiere mich für dieses Gemälde mit den rosa Rosen. Leider gibt es darauf statt einer Signatur nur den Titel des Bildes.“

Die Galeristin nieste zweimal heftig und schüttelte dann den Kopf: „Nein, nein. Das mit der Signatur hat schon seine Richtigkeit. Die Malerin heißt tatsächlich so.“

Lisa war verblüfft: „Echt?“

Die Galeristin nickte: „Also ich selbst kenne die Frau ja nicht, denn ich wohne erst seit knapp vier Jahren hier. Bin hergezogen, um zu malen. Habe eine kleine Erbschaft gemacht und hatte genug vom Großstadtrummel. Und die Galerie hab ich dann vor etwas mehr als zwei Jahren aufgemacht, um meine Bilder zu verkaufen.“ Stolz deutete sie mit der Hand, in der sie das zerknautsche Taschentuch hielt, auf die Himmel- und Meer-Bilder. „Sind alle von mir. Gefallen sie Ihnen?“

Lisa zwang sich zu einem Lächeln: „Äh, ja doch, sehr schön.“

Die Frau nickte zustimmend: „Die Touristen nehmen gerne immer mal wieder eines mit. Ich halte dadurch sozusagen ihren Urlaub fest.“

Lisa zwang sich erneut zu einem zustimmenden Lächeln und nahm mental Anlauf, das Gespräch wieder zurück auf das Bild zu bringen: „Und was hat es mit diesem Rosenbild hier auf sich?“

„Ja also, das Bild wurde mir von einer Frau aus dem Ort gebracht, die einige Ferienwohnungen und auch ein Ferienhaus vermietet. Und diese Rosa Rosen kam wohl über viele Jahre jeden Sommer hierher. Sie mietete sich dann immer das Ferienhaus und saß oft im Garten und malte. Vor fünf Jahren war sie dann wohl das letzte Mal hier und schenkte der Vermieterin zum Abschied dieses Bild. Ja und die hat es dann, gleich nachdem ich die Galerie eröffnet hatte, hergebracht und versuchte, es mir zu verkaufen. Eigentlich wollte ich es nicht, aber na ja, ich war ja noch relativ neu hier und da muss man sich’s ja auch nicht gleich mit allen verderben. Und deswegen hab ich’s dann halt doch genommen, aber nur auf Kommission. Und seitdem hängt es hier“, schloss die redselige Galeristin. „Ich gebe es Ihnen für 150 Euro, inklusive Rahmen.“

Lisa betrachtete den billigen, pinkfarbenen Plastikrahmen und dachte, dass sie dieses hässliche Teil definitiv sofort entsorgen würde. Dann schaute sie sich das Rosenbild nochmal ganz genau an. Sie fand es wirklich schön, sehr gelungen und realistisch, aber dennoch zugleich auch irgendwie verträumt. Die rosa Rosen mit dem zarten, cremefarbenen Rand schimmerten leicht, als ob die Sonne einen Strahl auf sie geworfen hätte. Aber 150 Euro?! Eine Menge Geld!

Die Inhaberin der Galerie bemerkte wohl Lisas Zögern und sagte: „Also gut, 125 Euro und eine Postkarte können Sie sich auch noch aussuchen, die tu ich kostenlos dazu. Aber weiter ’runterhandeln lasse ich mich nicht.“

Lisas Mundwinkel zuckten: „Tja, die Postkarte gibt den Ausschlag. 125 geht klar. Sie nehmen EC- oder Kreditkarte?“

Die Galeristin schien die Ironie nicht zu bemerken: „EC-Karte.“

Nachdem Lisa das Bild bezahlt und die Galeristin es mit knallgelbem Papier verpackt hatte, fragte sie noch nach, wo sie denn ein Eis bekommen könne. „Am Pier, direkt an der Uferpromenade. Geradeaus, dann einmal links und Sie sind da. Von hier aus sind das gerade mal fünf Minuten zu Fuß. Lassen Sie Ihr Auto ruhig hier stehen und vergessen Sie die Postkarte nicht!“ Pflichtschuldig wählte Lisa eine Ansichtskarte von eben jenem Pier, bedankte sich und verließ die Galerie mit einem kurzen Nicken und einem gemurmelten Gruß an die wieder mal heftig niesende Galeristin.

Sie verstaute das Bild sorgfältig in ihrem kleinen Kofferraum und schlenderte dann gemächlich durch die sonnenbeschienenen, leeren Gässchen. Außer einer grauweiß gestreiften Katze begegnete ihr niemand. Schnell kam sie an die sogenannte Uferpromenade und den dahinter liegenden hölzernen Steg. Sie lächelte in sich hinein. Eine große Bezeichnung für ein maximal einen Kilometer langes Sträßchen, das nur durch einen schmalen Streifen steinigen Strands vom Meer getrennt war. Doch am Ende des kurzen Piers entdeckte sie tatsächlich ein Eiscafé mit drei kleinen Bistrotischen, um die sich ganz offensichtlich die Dorfjugend scharte. Neugierig schauten die Teenager Lisa an und ein etwa 16-jähriger Junge zwinkerte ihr sogar zu, als sie an die Eistheke trat.

Lisa grinste in sich hinein und bestellte: „Einmal Erdbeere, einmal Himbeere und einmal Vanille, in der Waffel bitte.“ Das Gewünschte wurde ihr von einem kleinen, dunkelhaarigen Mann mittleren Alters mit einem großen Lächeln und sehr weißen Zähnen überreicht: „Bitteschön, Signorina!“ Lisa bezahlte, bedankte sich und trat verfolgt von zwei offensichtlich an ihrem Eis interessierten Möwen den Rückweg an. Als sie gerade wieder in die Gasse, aus der sie gekommen war, einbiegen wollte, entdeckte sie am anderen Ende der kurzen Uferstraße ein winziges Cottage, in dessen kleinem Vorgarten prachtvolle rosa Rosen blühten. Neugierig geworden änderte sie die Richtung und schlenderte darauf zu. Ob das wohl das Ferienhaus war, in dem die Malerin mit dem Rosennamen ihr gerade eben erworbenes Bild gemalt hatte? Am weißgestrichenen Zaun des Häuschens blieb sie stehen. Tatsächlich, die in dem kleinen Gärtchen blühenden Rosen sahen praktisch genauso aus, wie die auf ihrem Bild. Lisa zückte ihr Handy und machte einige Fotos.

Sie wollte gerade wieder gehen, als in dem deutlich größeren Nachbarhaus ein Fenster geöffnet wurde, eine grauhaarige Frau sich hinauslehnte und sie ansprach: „Sind Sie daran interessiert ein Ferienhaus oder eine Ferienwohnung zu mieten? Das da ist für die nächsten vier Wochen schon vergeben, aber hier im Haus habe ich oben noch eine Zwei-Zimmer-Wohnung frei.“

Lisa schüttelte den Kopf: „Nein danke, ich mache nur einen Tagesausflug. Ich war in der Galerie und habe ein kleines Rosen-Gemälde erworben und die Rosen hier sehen so aus, als ob sie der Künstlerin als Vorlage gedient hätten.“

Die ältere Frau nickte: „Ja, genau so war’s. Und Sie haben das Bild gekauft? Gut, ich dachte schon, ich kriege nie auch nur einen Cent dafür.“

Irritiert von dieser Bemerkung, aber in der Hoffnung etwas mehr über die Malerin zu erfahren, schluckte Lisa die spitze Antwort, die ihr bereits auf der Zunge lag, hinunter und sagte stattdessen: „Diese Rosen sind ja wirklich herrlich. Sie haben wohl einen besonders grünen Daumen.“

Die Frau schüttelte den Kopf und sagte mit mürrischem Gesicht: „Fürs Gärtnern und Blumenpflegen habe ich weder Zeit noch Lust. Mein Neffe macht das. Als Kind hatte er eine Hirnhautentzündung. Seitdem ist er nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber die Frau Rosen hat ihm das mit den Rosen beigebracht.“ Hier unterbrach sie sich und stieß ein meckerndes Lachen aus. Dann fuhr sie fort: „Kein Wunder bei dem Namen. Hat nie viel geredet die Frau, obwohl sie jahrelang jedes Jahr den Sommer hier verbracht hat. Nicht mein Fall, ziemlich geziert und etepetete, aber eins muss ich ihr lassen, sie hat immer im Voraus bezahlt und sie hatte jede Menge Geduld mit dem Jungen. Na ja, jedenfalls kümmert er sich nach wie vor um den Rosengarten. Mir soll’s recht sein, man kann ja sonst nicht viel mit ihm anfangen und den Touristen gefallen die Blumen.“

Die Frau wurde Lisa immer unsympathischer, aber sie riss sich zusammen und sagte: „Die Galeristin hat mir erzählt, dass Frau Rosen seit einigen Jahren nicht mehr hierherkommt. Wissen Sie warum?“

Die Frau nickte: „Ist zu alt dafür geworden.“

Lisa hakte nach: „Und haben Sie noch Kontakt?“

Die Frau schüttelte verneinend den Kopf: „Nein, wozu? Also, wenn Sie hier nix mieten wollen, dann gehen Sie weiter!“ Sprach’s und schloss das Fenster nicht gerade leise.

Lisa schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin: „Was für eine unfreundliche, unangenehme Person.“ Eisschleckend spazierte sie zu ihrem Auto zurück und beschloss, abends, wenn sie wieder zuhause war, diese Frau Rosa Rosen zu googeln.

Nachdem sie das Rosenbild von dem hässlichen Plastikrahmen befreit und es direkt über ihrer Couch aufgehängt hatte, machte sie sich an die Arbeit. Viel fand sie im Internet nicht, aber immerhin einen acht Jahre alten, lokalen Zeitungsbericht über eine kleine Ausstellung mit Werken von Rosa Rosen in der Heimatstadt der Künstlerin und mit einem Foto der Frau. Lisa betrachtete es neugierig. Wache, große, dunkle Augen, schneeweißes Haar und ein liebes, gewinnendes Lächeln.

Lisa druckte den Artikel aus und beschloss, bald mal in diesen Ort zu fahren, um mehr über die Künstlerin in Erfahrung zu bringen. Ein bisschen Detektivarbeit für die Rosenkunst sozusagen, dachte sie amüsiert. Die Stadt war ja nur etwa 100 Kilometer entfernt. Das würde sich sicher demnächst einrichten lassen.

Doch obwohl sie es sich fest vornahm, kam Lisa lange nicht dazu, ihre Absicht in die Tat umzusetzen. Irgendetwas war immer wichtiger, interessanter, spannender, notwendiger. Und so war fast ein ganzes Jahr vergangen, als sie Ende Juni endlich zu dem so lange geplanten Ausflug aufbrach. Dort angekommen, suchte sie als erstes das Touristenbüro des malerischen Städtchens auf. Sie zeigte der Angestellten den Ausdruck des Zeitungsartikels und erkundigte sich nach Frau Rosen.

„Ja, die ist von hier, aber sie lebt schon seit einigen Jahren in einem Altersheim in der Nachbarstadt“, erklärte eine rundliche, hilfsbereite Mitarbeiterin. Auf Lisas Nachfrage suchte sie ihr sogar die Adresse heraus.

Lisa bedankte und verabschiedete sich und erreichte mithilfe ihres Navis schon 25 Minuten später das Heim. Und das, obwohl sie noch einen kurzen Zwischenstopp bei einem Blumenladen gemacht hatte, um für die Malerin einen hübschen Strauß rosafarbener Rosen – was sonst – zu kaufen.

Mit den Blumen im Arm betrat sie das ziemlich nüchtern wirkende Foyer. An der Wand standen hässliche, orangefarbene Plastikstühle, auf denen niemand saß. Doch hinter der halbgeöffneten Glasscheibe an der Rezeption bemerkte sie eine junge Frau mit auffallend platinblondem Kurzhaarschnitt. Lisa trat an die Scheibe, grüßte und fragte: „Können Sie mir sagen in welchem Zimmer Frau Rosen wohnt? Ich möchte Sie gerne besuchen.“

Die Empfangsdame sagte: „Einen Moment, ich schau im Computer nach.“ Eine Weile klickte sie eher gelangweilt wirkend auf dem PC herum. Dann wandte sie sich an Lisa: „Sorry, ich habe keine Frau Rosen gefunden.“

Doch Lisa insistierte: „Schauen Sie bitte nochmal nach. Man hat mir gesagt, dass Frau Rosen hier seit einigen Jahren wohnt.“

Die Blondine winkte ab: „Bringt nichts. Wenn sie hier nicht drin ist, dann wohnt sie auch nicht hier.“

Doch Lisa war nicht bereit, so rasch aufzugeben. „Aber kennen tun Sie die Frau Rosen schon?“, hakte sie nach.

„Ich kenne hier niemanden“, antwortete die Rezeptionistin. „Ich komme von einer Zeitarbeit-Firma und mache hier nur Urlaubsvertretung.“

Lisa schöpfte wieder Hoffnung: „Ja, aber dann können Sie die Dame doch gar nicht kennen. Fragen Sie doch bitte bei der Geschäftsleitung nach!“

Doch wieder verneinte die andere: „Nee, kann ich nicht. Da ist jetzt keiner. Es ist Mittagszeit. Genau 13.00 Uhr. Ich geh jetzt auch essen.“ Sie wies mit dem Finger auf die große Uhr, die hinter ihr an der Wand hing, schloss energisch die Glasscheibe, schnappte sich ihre Handtasche und verließ den Empfang durch eine Tür im Hintergrund.

Ratlos blieb Lisa stehen. Und nun? Sie schaute sich nochmal genau im Foyer um und entdeckte einen Aufzug, hinter einer großen Glastür einen langen Gang sowie eine kleine Tür, über der ein Schild angebracht war, auf dem „Eingang zum Treppenhaus“ stand. Lisa entschied sich für die Glastür, stellte irritiert fest, wie schwer diese war und betrat den dahinterliegenden Gang. Zahlreiche Zimmer gingen links und rechts davon ab. Und ganz hinten sah sie weißgekleidetes Personal mit schwer beladenen Rollwägen in einen weiteren Raum hineinfahren.

„Aha, wahrscheinlich der Speisesaal“, meinte sie zu sich selbst und ging weiter in diese Richtung. Und tatsächlich, schon bald hörte sie das Klappern von Besteck und Stimmengewirr. Mehrmals sprach sie vorbeieilende Angestellte des Altenheims an, doch noch bevor sie nach Frau Rosen fragen konnte, hasteten diese mit gemurmelten Kommentaren wie „Keine Zeit!“ weiter. Schon wollte sie auf einen Tisch zugehen, an dem mehrere alte Damen beim Essen saßen, um sich bei den Heimbewohnern nach Frau Rosen zu erkundigen, als sie von einem jungen Typen mit nettem Grinsen angesprochen wurde: „Kann ich behilflich sein? Ich bin Ricky und einer der Zivis hier.“ Erleichtert lächelte Lisa zurück: „Ja, danke. Ich suche eine Bewohnerin, ihr Name ist Rosa Rosen. Die Frau am Empfang konnte sie im Computer nicht finden.“

Das Grinsen verschwand: „Ja, die hat hier gewohnt. Aber sie ist leider vor etwa einem halben Jahr verstorben. Tut mir leid.“ Lisa erschrak. Sie hatte sich darauf gefreut, die ihrer Meinung nach so begabte und auf dem Foto so sympathisch wirkende Rosenmalerin persönlich kennenzulernen. Eigenartigerweise fühlte sie, dass ihr sogar Tränen in die Augen stiegen. Aus Enttäuschung, aber auch aus Frust über sich selbst. Wäre sie doch gleich letzten Sommer hergekommen, statt den geplanten Besuch immer wieder zu verschieben.

Mitfühlend betrachtete der Zivildienstleistende die hübsche, junge Frau mit dem langen, kastanienbraunen Haar, dem beredten Mienenspiel und den Tränen in den Augen.

„Kannten Sie die Dame gut? Sind Sie vielleicht sogar mit ihr verwandt?“, fragte er leise.

Lisa verneinte: „Ich habe Sie nie kennengelernt, aber ich habe eines ihrer Bilder gekauft. Ein wundervolles Gemälde mit rosa Rosen und ich wollte sie gerne kennenlernen. Das Bild ist so lebendig und so schön.“

Ricky sagte: „Oh, ich wusste gar nicht, dass sie gemalt hat. Sie hat nie darüber gesprochen. Aber Rosen hat sie wirklich geliebt. Wir haben manchmal gemeinsam darüber gescherzt, dass sie selbst ja auch eine rosa Rose sei. Sie war eine sehr nette, alte Dame und wohl ganz allein auf dieser Welt, denn sie bekam nie Besuch. Sie ist auf dem hiesigen Friedhof beerdigt worden. Ich weiß allerdings nicht genau, wo ihr Grab ist. Doch die auf dem Friedhof können da Auskunft geben. Jetzt muss ich leider weiterarbeiten. Tschüss!“

Er nickte ihr nochmal zu, ging zu einem der Tische und kümmerte sich dort um einen alten Herrn im Rollstuhl, der Schwierigkeiten hatte, alleine zu essen, weil er das Besteck nicht richtig halten konnte. Gleichzeitig ärgerte er sich maßlos über sich selbst. Dieses Mädchen hatte ihm ausnehmend gut gefallen. Wieso hatte er sie nicht nach ihrem Namen gefragt?! Dann hätte er wenigstens mal bei Facebook nach ihr suchen können. Aber, wäre ja schon ein doofes Timing gewesen, nachdem er ihr gerade diese wenig erfreuliche Mitteilung gemacht hatte. Und wahrscheinlich, so überlegte er weiter, hat eine so tolle Frau ja sowieso einen festen Freund. Er schaute sich nochmals nach ihr um, aber sie war nicht mehr da. Da gab er sich einen Ruck, entschuldigte sich kurz bei seinem Schützling und eilte aus dem Speisesaal in Richtung Ausgang. Vielleicht würde er sie noch erwischen. Doch das Foyer war leer und auch auf dem Parkplatz sah er sie nicht. Sollte er schnell zum Friedhof laufen und schauen, ob er sie dort finden würde? Aber das wäre ja wohl auch ganz schön schräg. Und überhaupt, nein, er musste zurück zu seiner Arbeit. Bedauernd ob der verpassten Gelegenheit, kehrte er mit hängenden Schultern und unzufrieden mit sich selbst ins Haus zurück. Doch er nahm sich vor, irgendwann zumindest mal das Grab der wirklich netten Frau Rosen aufzusuchen.

Lisa war zu diesem Zeitpunkt, nachdem sie ihr Auto direkt am Tor des Friedhofs abgestellt hatte, bereits auf dem Weg ins Büro der Friedhofsverwaltung, die sich in einem kleinen Gebäude gleich rechts hinter dem Eingang befand. Sie bekam die gewünschte Auskunft und stand schon bald darauf an dem Urnengrab der Malerin. Sie betrachtete den schlichten Grabstein mit dem Namen und den Daten von Rosa Rosen. Auf dem kleinen Grab wuchsen einige bunte Geranien und zweifarbiger Efeu – doch keine einzige Rose. Und das bei einer Frau, die Rosen so sehr geliebt, sie so wunderbar lebensecht gemalt hatte und auch noch so hieß. Lisa fühlte sich zutiefst deprimiert. „So ist das Leben“, dachte sie resigniert. Dann holte sie von dem nicht weit entfernten Friedhofsbrunnen eine grüne Plastikvase, füllte sie mit Wasser aus dem Hahn und steckte die Vase mit dem mitgebrachten Strauß aus rosa Rosen in die Erde auf dem kleinen Grab.

Auf der Heimfahrt dachte sie über das Leben, den Tod, die Kunst, Frau Rosen und – den Zivildienstleistenden namens Ricky nach. Ein gutaussehender Typ, schöne Augen, tolles Lächeln und nett. Schade eigentlich, dass sie nicht etwas mehr miteinander geredet hatten. Vielleicht hätte man ja Handynummern austauschen können. Sie seufzte, denn es kam nur sehr selten vor, dass ihr mal jemand so richtig gut gefiel. Wirklich schade! Immer diese verpassten Gelegenheiten. Und dann nahm sie sich felsenfest vor, bald einmal wieder zu diesem Friedhof zu fahren und ein kleines, rosa Rosenstöckchen aufs Grab von Rosa Rosen zu pflanzen.

„Der größte Verlust fürs Leben ist das Hinausschieben;

es verträumt immer den ersten Tag

und entreißt die Gegenwart,

indem es auf die Zukunft verweist.

Aber alles, was kommen wird,

steht unsicher:

Lebe für den Augenblick!“

Seneca

Schein oder Sein? 12 außergewöhnliche Erzählungen

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