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Kulturelle Aneignung, die neue Gotteslästerung
ОглавлениеEine Anekdote brachte mich darauf, dieses Buch zu schreiben. Ich erhielt einen Anruf meiner Freundin Tania de Montaigne. Wir hatten eine Buchreihe auf den Weg gebracht, die wir mit Fiammetta Vener bei Grasset betreuen: »Unsere Heldinnen«. Sie soll vergessene Frauen wieder zum Leben erwecken: eine wahrhaft feministische Relektüre der Geschichte. Tania wählte Claudette Colvin, eine der ersten schwarzen Frauen, die sich geweigert hatten, ihren Platz in einem Bus einem Weißen zu überlassen, lange vor Rosa Parks.
Mit diesem Buch, das auch einen Aufsatz von ihr enthält, zog Tania durch Schulklassen, um zugleich Rassismus und kulturelle Zuschreibung zu bekämpfen.6 Als sie mich anrief, wurde es gerade für die Bühne bearbeitet und sollte bald als Comic herauskommen. Ein Erfolg, der ihr zu hoffen erlaubte, Leuten die Augen zu öffnen. Doch es bildete sich eine unerwartete Front. Ich vernahm ihre Stimme und erkannte die Verdrossenheit wieder, die uns eint angesichts derjenigen, die die Welt nur nach Hautfarben betrachten, seien sie weiß oder schwarz.
»Sie wollen das Buch nicht Schwarz nennen«, sagte sie mir niedergeschlagen.
»Wer?«
»Eine Verkaufsleiterin des Verlags, der den Comic herausgibt. Sie sagt, man könne es wegen des Verkaufs der englischsprachigen Ausgabe nicht Schwarz nennen.«
»Aber warum? Das ist der Titel des Buches.«
»Weil die Zeichnerin weiß ist. Sie fürchten, man werde mich der kulturellen Aneignung bezichtigen.«
»Ist das ein Witz?«
»Ich wünschte, du hättest recht.«
Wir brachen in Gelächter aus. Ein Gelächter allerdings, dem nach Heulen zumute ist.
»Aber die Autorin bist du, und schließlich handelt das Buch doch von antischwarzem Rassismus… Wie wollen sie es nennen… Weiß?!«
»Jedenfalls nicht Schwarz.«
Wir legten auf in der Überzeugung, dass diese Welt verrückt geworden ist, zum Bersten identitär. Machen wir uns einmal klar, dass solche Panikmache häufig von weißen Angestellten ausgeht, die den geringsten Zorn voraussehen. Dieses Mal, zum Glück, bewahrte die Verlegerin ruhig Blut und gab den Autorinnen recht. Das Buch durfte also Black heißen. Wir waren beruhigt. Zumindest ein bisschen.
Gleichwohl versuche ich, den Beginn der Panik zu begreifen. Ich hätte verstanden, dass das Wort »schwarz« in einer Sprache, in der man gewöhnlich »afroamerikanisch« sagt, Probleme bereitet.7 Doch darum geht es nicht. Hier fürchtet man, dass eine weiße Zeichnerin einen Band gegen antischwarzen Rassismus unterzeichnet. Als ob ihre Hautfarbe es ihr untersagte, sich mit diesem Thema zu befassen.
Ich meine durchaus, man sollte sich in Acht nehmen vor Leuten, die mit dem Antirassismus unaufrichtig Geschäfte machen. Sie sind zahlreich, und nicht allesamt weiß. Ich verstehe, dass man Rachel Dolezal, einer Aktivistin, die sich selbst gegen kulturelle Aneignung ausspricht, vorwerfen kann, dass sie den Eindruck zu erwecken suchte, sie sei eine Afroamerikanerin, während sie durch und durch WASP ist, und dass sie ihre Haut gebräunt hat, um als Opfer des Rassismus durchzugehen, den sie anprangert. Dennoch sollten Weiße sich befugt fühlen dürfen, Bücher gegen Rassismus zu publizieren oder zu illustrieren, ohne dass man ihnen ihre Hautfarbe zum Vorwurf macht.
Das Ziel des Antirassismus besteht letztlich nicht darin, ein Opferdasein zu fristen, sondern die Vorurteile aus der Welt zu schaffen. Wie will man darauf hoffen, die Stereotype zu überwinden und den Kreis der Aufgeklärten zu erweitern, wenn man weiterhin den alten Reflex bedient, der die Menschen und deren Gemüt entsprechend ihrer Hautfarbe beurteilt?
Im Falle dieses Comics steckte die weiße Zeichnerin Émilie Plateau ihr ganzes Herz und all ihr Talent in diesen Band nicht in der Hoffnung, reich zu werden (was im französischen Verlagswesen selten vorkommt), sondern weil dieser Text sie berührt hat und weil sie dementsprechend handeln wollte. Wenn sie einen Comic nach einem Text der auf dem Umschlag ebenfalls namentlich genannten Tania de Montaigne veröffentlicht, eignet sie sich deren Werk nicht an, und wenn doch, dann um sie zu würdigen. Genau so eignet Tania sich das Leben und den Schmerz von Claudette Colvin an, nicht um sie zu bestehlen, sondern um sie der jungen Generation bekannt zu machen. Eine solche Aneignung ist absolut notwendig. Es handelt sich um eine Teilhabe, die weder mit Raub noch mit kultureller Aneignung etwas zu tun hat: ein Schlagwort, das dazu missbraucht wird, Schranken zwischen Menschen zu errichten und sie zurechtzuweisen, wenn sie ihre Werke nicht zensieren.
Hält man sich an das Englisch-Oxford-Wörterbuch, bezeichnet kulturelle Aneignung die »Wiederaufnahme von Formen, Themen oder kreativen oder künstlerischen Praktiken durch eine kulturelle Gruppe zum Nachteil einer anderen«. Ursprünglich geht es dabei um die »westliche Aneignung nicht-westlicher oder nicht-weißer Formen zum Zwecke der Ausbeutung oder Herrschaft«. Der Artikel des Oxford-Wörterbuchs nennt als genaues und überzeugendes Beispiel westliche Museen, die Kunstwerke ausbeuten, die sie oft unter zweifelhaften Bedingungen erworben haben, wie etwa die Bronzen von Benin. In diesem Fall ist die Aneignung tatsächlich keine Würdigung, sondern ein Raub.
Der Vorwurf der Aneignung behält seinen Sinn, wenn man sich an die genaue Definition des Oxford-Wörterbuchs hält, nämlich die Absicht, auszubeuten oder zu beherrschen. Dies ist der Fall bei Werken, die während der Kolonialzeit geraubt wurden: ein afrikanisches Erbe, das Frankreich erst schrittweise zurückerstattet. Die Debatte wird jedoch abwegig, wenn man eine solche Aneignung überall zu erkennen meint, selbst wenn die Absicht schlicht darin besteht, die kulturelle Vielfalt zu preisen. Das geht so weit, dass man Anleihen oder Mischformen in der Musik, in der Küche oder in der Mode ablehnt, den Wettstreit der Ideen erstarren lässt und das künstlerische Schaffen schikaniert.
Diese Wendung verdankt sich zunächst dem separatistischen Radikalismus des Black Feminism, doch nicht nur ihm. Man findet eine solche Verschiebung – oder sollte man von Aneignung sprechen? – auch bei einer mächtigen und bekannten weißen Rechtsanwältin namens Susan Scafidi wieder. Sie ist Professorin an der Fordham University in New York, und ihr Spezialgebiet ist der Schutz von Mode und Designern vor Leuten, die sie kopieren. Ihr kommerzielles Verständnis leitet sich vom Begriff der kulturellen Aneignung her. Diesem wiederum schneiderte sie in ihrem 2005 erschienenen Buch Wem gehört die Kultur?, auf das andere sich später beriefen, ein allzu großes Kostüm.
Ausgehend von einem ihrem Fach gemäßen Verständnis von Copyright entfernt sich ihre Definition bald von der genauen Bedeutung, die das Oxford-Wörterbuch umreißt. Scafidi zufolge bezeichnet kulturelle Aneignung einen Vorgang, bei dem jemand »geistiges Eigentum, traditionelles Wissen, kulturelle Ausdrucksformen oder Artefakte der Kultur eines anderen ohne dessen Erlaubnis an sich reißt«. Mir nichts, dir nichts haben wir in ein paar Worten die Absicht, auszubeuten oder zu beherrschen, verloren. Auf die aber kommt es an.
Fortan genügt es, dass eine Gruppe bei der »Kultur einer anderen« Anleihen macht, um somit den Tatbestand kultureller Herrschaft zu erfüllen. Darin inbegriffen, der eben zitierten Anwältin nach, »die nicht-autorisierte Adaption eines Tanzes, einer Art sich zu kleiden, Musik, Sprache, Folklore, Küche, traditioneller Musik und religiöser Symbole«, »heiliger Gegenstände«, die in den Rang unantastbarer Kultur erhoben werden. Im Namen solcher Ehrerbietigkeit sah die Unterwäschemarke Victoria's Secret sich dem Vorwurf ausgesetzt, ihren Models für heilig befundene indianische Kopfbedeckungen aufgesetzt zu haben.
In einer ganz anderen Tonlage, wiewohl derselben Logik folgend, spricht man den atheistischen Zeichnern von Charlie Hebdo das Recht ab, Mohammed darzustellen, denn damit begingen sie die doppelte Sünde der Gotteslästerung und der kulturellen Aneignung. Weshalb es ihnen passieren kann, dass sie von Fanatikern und gewissen Antirassisten gemeinsam an den Pranger gestellt und auf einem öffentlichen Platz gelyncht werden, ehe man sie ermordet.
Als ahnte sie, die Büchse der Pandora geöffnet zu haben, stellt Susan Scafidi immerhin klar, dass es »wahrscheinlich keinen Schaden anrichtet, wenn die ursprüngliche Gemeinschaft eine Minderheit ist, die unterdrückt oder ausgebeutet wurde, oder wenn der Gegenstand der Aneignung besonders empfindlich ist, wie dies bei heiligen Gegenständen der Fall ist«.8 Wenn man es genau liest, bleibt dennoch die kulturelle Würdigung potentiell als Aneignung klassifiziert, nur als eine weniger schwerwiegende.
Diese Nuance hat allerdings in einer Epoche, in der die sozialen Netzwerke durchdrehen, keine Chance, beachtet zu werden. Die Tür steht allen Exzessen offen. Da das Kriterium nicht mehr die Absicht ist – ausbeuten oder beherrschen zu wollen –, wird selbst nur die Vermischung kultureller Einflüsse verdächtig. Die identitäre Linke hat soeben eine neue, der Gotteslästerung sehr nahekommende Unterstellung erfunden.