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Ines Wagner stand vor dem Spiegel.

Zögernd wagte sie ein verführerisches Lächeln, drehte sich ein wenig zur Seite und neigte kokett den Kopf, gab dann die ungewohnte Pose verlegen lächelnd auf, um sich jetzt ganz kritisch zu mustern. Sie nickte. Doch, ihr gefiel, was sie sah. Das ausdrucksstarke Gesicht sprach von Sensibilität, die großen braunen Augen von Wärme, die gerade, wohlgeformte Nase von Glück und der etwas zu breite Mund von Genussfähigkeit. Ihr kinnlanges, kräftiges, kastanienrotes Haar schmiegte sich, bis auf eine widerspenstige Strähne an der Stirn, perfekt geschnitten wie ein Helm um ihren Kopf und verlieh ihr etwas anmutig Jugendliches – Ines Wagner war eine attraktive Frau, und sie war zweiundfünfzig Jahre alt. Um die Besonderheit des Augenblicks zu unterstreichen, war sie das Wagnis eingegangen, ihr Haar mit Hilfe eines unsichtbaren Haarteils und vielen Klämmerchen hochzustecken. Das Ganze hatte eine geschlagene Stunde in Anspruch genommen, ihre Arme fühlten sich durch das ungewohnte Recken inzwischen wie Blei an, aber endlich war sie mit dem Ergebnis zufrieden: Das ovale Gesicht, der zarte Hals und ihre kleinen Ohren kamen vollkommen zur Geltung.

Mit einem Ruck wandte Ines sich jetzt vom Spiegel ab. Der enge Rock des neuen, figurbetonten, schwarzen Kleides mit dem tiefen Dekolletee hinderte sie daran, die üblichen, an Hosen gewöhnten Schritte zu machen. Sie lachte. Jeden Tag konnte man ein solches Kleid sicher nicht tragen. Aber das war unwichtig. Der heutige Abend sollte ein ganz besonderer werden. Ein Abend, an den sie sich später immer gern erinnern wollte, weil er einen neuen Lebensabschnitt einläutete.

Ihre hohen Absätze klapperten über den Boden, während sie nun die Diele durchschritt. Plötzlich hielt sie inne, um schnuppernd die Luft durch die Nase einzuziehen. Der verführerische Duft mediterraner Kräuter, der jetzt durch die Räume ihrer Altbauwohnung zog, orderte sie augenblicklich zurück in die Küche. Es roch fast wie im Da Enzo, ihrer Lieblingstrattoria in Umbrien, die während ihrer Italienurlaube so etwas wie ihr zweites Zuhause war. Dort ließ sich Signora Russo, die begnadete Köchin, von Ines in der Küche immer wieder gern über die Schulter schauen. Dabei hatte sich Ines so manchen Profitrick abgeschaut, den sie dann beim geselligen Beisammensein mit Freunden erfolgreich in die Tat umsetzte. Jetzt reduzierte sie die Temperatur des Backofens, in dem der südlich gewürzte, weingeschwängerte Kalbsbraten schmorte und schickte sich an, einen frischen Salat vorzubereiten. Ines schaute auf die Uhr – schon halb elf – wenn alles normal verlief, konnte Felix in einer Stunde da sein.

Sie goss sich ein Glas Weißwein ein und schlenderte ins Esszimmer, um den festlich gedeckten Tisch erneut in Augenschein zu nehmen. Das weiße Tischtuch stammte noch von ihrer Großmutter, die es nur zu besonderen Anlässen aufgelegt hatte, ebenso wie das Tafelsilber, das im Schein der Kerzen schimmerte und den edlen Weingläsern kleine Lichter aufsetzte.

Die Rosenblätter … Ines griff sich an die Stirn. Fast hätte sie die Rosenblätter vergessen. Sie eilte in die Diele, nahm den Schlüssel von der alten Kirschholzkommode und lief, nachdem sie die hohen Schuhe abgestreift und den engen Rock, wegen der erforderlichen Schrittlänge, ein wenig hochgezogen hatte, die zwei Treppen nach unten. Vor der Haustür umgab sie laue Sommerluft. Auch zu dieser Abendstunde war es noch nicht vollständig dunkel, und der schwarze, verspielt anmutende, schmiedeeiserne Zaun, mit seinen lanzettähnlichen Pfeilern, hob sich im Mondschein wie ein Scherenschnitt vom dahinterliegenden hellgrau gepflasterten Gehsteig ab.

Ines blieb für einen Augenblick stehen und genoss die Atmosphäre. Ihr Blick wanderte nun in den mit üppig duftendem Lavendel bepflanzten kleinen Vorgarten, in dessen Mitte der alte Rosenstrauch stand. Dank ihrer hingebungsvollen Pflege trug er wieder Blüte an Blüte. Entschlossen trat sie mit nackten Füßen auf die weißen, kleinen Kiesel, die das Beet umgaben, und schnitt fünf prächtige Rosen ab. Zurück in der Wohnung zupfte sie nach einem kurzen Moment zögernden Bedauerns entschlossen die Blütenblätter ab. Intensiver Rosenduft stieg auf, und fast schien es Ines, als ob die Blumen, jetzt, wo sie durch ihre Hand ihr Leben ließen, ihr größtes Aroma verströmten. Bald lagen die Blätter malerisch verteilt auf dem Tisch und auf dem Boden in einem angedeuteten Kreis darum herum. Ob das nicht zu viel des Guten war? Ines zögerte, umschloss die Blüten, die sie noch in der Rechten hielt und drückte sie für einen kurzen Moment in ihrer Faust zusammen. Dann hob sie entschlossen den Kopf und nickte. Heute war der Abend der Abende, und er sollte es gleich sehen, wenn er zur Tür hereinkam. Mit einer ausholenden Geste verstreute sie die restlichen Blätter großzügig im Raum.

Der Mann jedoch, um dessentwillen all das geschah, ahnte unterdessen nicht das Geringste …

Felix Meister und Ines Wagner waren Nachbarn. Als Felix vor einem Jahr die großzügige Gründerzeitwohnung gleich neben Ines in der Goethestraße, im schönsten Viertel der Stadt, bezog, fühlte sie sich sofort von ihm angezogen. Außerdem passte er, wie sie fand, sehr gut in diese Gegend, die aufgrund ihrer Schönheit für kreative Menschen geradezu wie geschaffen war. Dicht an dicht säumten hier die schmucken Jugendstilhäuser die schmalen Straßen.

Sie selbst genoss es, das Viertel mit seinen variantenreichen Fassaden immer wieder zu durchstreifen. Dezentes Weiß, zarte Pastelltöne und gelbe oder rote Klinker gaben den Ton an, wobei die Fronten oftmals durch weiße, zurückhaltend-stilvoll gehaltene Fensterumrahmungen und dazu passende Ornamentstreifen unterbrochen wurden. Hier und da war ein Haus in charmanter Morbidität malerisch von Efeu oder wildem Wein berankt, deren Üppigkeit kaum zu bändigen war.

Wie verschieden die Fassaden aussehen können, auch wenn zwei Nachbarhäuser spiegelverkehrt gebaut wurden. Ines schaute bewundernd daran empor. Überhaupt wirkte es darüber hinaus so, als hätten die Architekten bei der Gestaltung der Ornamente damals geradezu mit den verschiedensten Stilarten gespielt. Hier gab es klassizistische Säulen und Giebel, dort gotische Spitzbögen und Frauenköpfe des Jugendstils. Figuren, sogenannte Atlanten, schienen Balkone und Erker zu tragen. Manchmal, wenn sie im Dämmerlicht daran vorbeiging, erschienen die Figuren ihr im Halbschatten fast unheimlich, weil die Konturen dann stärker hervortraten und andere Stimmungen hervorzaubern konnten, aber Ines wusste auch, dass sie als fantasiebegabter Mensch schon immer anfällig für solche Eindrücke gewesen war. Ihre besondere Vorliebe galt allerdings den Häusern mit den Dachtürmchen. Diese Belvedere waren früher eher typisch für den Adel gewesen, hatten aber rund um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert romantischen Einzug in die bürgerliche Bauweise gehalten.

Als Ines vor fünf Jahren die Wohnung in der Goethestraße bezog, machte sie es sich zur Aufgabe, die drei großzügig geschnittenen Räume und die Diele nach und nach liebevoll zu renovieren. Gleich im ersten Augenblick hatte sie sich in die zurückhaltend geschmückte Fassade des weißen, vierstöckigen Hauses mit den Ecktürmchen verliebt und bei der anschließenden Besichtigung der Räume vollkommen ihr Herz verloren. Der Stuck, der in einem Oval die Mitte der hohen Wohnzimmerdecke in Form von romantischen Blumenranken schmückte, war in zarten Farben ansprechend und nicht allzu üppig gehalten, was Ines gefiel. Dazu glänzte die schöne, restaurierte Doppelflügeltür, die Wohn- und Esszimmer miteinander verband, in strahlendem Weiß und bot einen wunderbaren Kontrast zu den alten, frisch abgezogenen Pinienholzdielen. Alles war stilvoll restauriert worden. Die hohen Fenster mit den Rundbögen tauchten die Räume selbst im Winter in eine angenehme Helligkeit. Die große Küche mit den quadratischen, großen schwarzen und weißen Fliesen, die den Boden in Form eines Schachbrettes schmückten, erkor Ines gleich – neben dem Arbeitszimmer, das absolut ruhig wie eine Oase zur Gartenseite hin gelegen war – zu ihrem Lieblingsraum, in dem sie in ihrer Freizeit der Kochleidenschaft frönen konnte.

Sie musste diese Wohnung haben, die Heim und Inspirationsstätte zugleich zu sein schien, und genauso war es auch.

Nach seinem Einzug hatte Felix seine Nachbarin auf ein Glas Wein zu sich eingeladen. Ines gefiel auch hier, was sie sah. Der Einrichtungsstil des Sängers entsprach fast ihrem eigenen. Auch sie fand es reizvoll, alte, restaurierte Möbel, denen man ihre Geschichte ansah, mit modernen, schlichten Einzelstücken und zeitgenössischer Kunst zu kombinieren, weil sie fand, dass die hohen Räume mit den schönen Holzböden auf diese Weise besonders gut zur Geltung kamen. Ästhetik spielte eine große Rolle in Ines’ Leben, und Felix traf auch hier genau ihren Geschmack. Die beiden stellten im Laufe dieses ersten Abends erfreut fest, dass sie sich bestens unterhalten konnten. Als sie sich nach Stunden beseelt voneinander verabschiedeten, taten sie das mit einem uneingeschränkten Gefühl gegenseitiger Sympathie.

Während der nächsten Tage hatte Ines sich dabei ertappt, dass sie darauf lauschte, wann Felix nach Hause kam. Sie schalt sich neugierig, was ja auch stimmte, gestand sich aber gleichzeitig ein, dass sie sich deshalb für den Lebensrhythmus ihres neuen Nachbarn interessierte, um nur allzu gern Ähnlichkeiten mit dem ihren festzustellen. Beide waren Nachtmenschen und schliefen in den Vormittag hinein, das hatte sie schon herausgefunden. Als Theaterkünstler blieb Felix auch gar nichts anderes übrig, Ines als freiberuflich arbeitender Übersetzerin natürlich schon, aber sie liebte die Abendstunden, wenn die Stadt zur Ruhe kam, und fast schien es ihr, als ob Wörter und Bedeutungen dann leichter zu finden waren und sich besonders gern zu klangvollen Sätzen zusammenfügen ließen. Die Arbeit war ihr Leben und Ines’ Name hatte in Verlegerkreisen längst einen guten Ruf.

Im Moment übersetzte sie einen kürzlich erschienenen Roman aus dem Englischen; eine tiefgründige Kindheitsgeschichte, in die sie selbst eintauchte und geradezu in ihr lebte. So erging es ihr mit fast allen Büchern, die sie bearbeitete, und inzwischen konnte sie unter vielen interessanten Stoffen wählen. Oft, wenn sie tief in der Nacht ihre Arbeit beendete, fühlte sie sich vollkommen glücklich, ja geradezu privilegiert, weil sie einen Beruf ausübte, der ihrem innersten Wesen entsprach, obwohl sie trotz allem keine Reichtümer anhäufte. Daher gab es auch eine Kehrseite, die ganz pragmatisch finanzieller Natur war. Ines brauchte für ihre Kreativität eine angemessene Atmosphäre, die natürlich etwas kostete. Sie zuckte bei diesem Gedanken immer automatisch mit den Schultern, als ob es sich dabei um ein unabänderliches Schicksal handelte. Deshalb arbeitete sie so viel wie Kopf und Herz hergaben.

Als Felix sie eines Mittags im Hausflur zerknirscht fragte, ob sie nicht eine nette Haushälterin wisse, die ihm zur Hand gehen könne – er selbst sei nicht der geborene Hausmann und sozusagen schon damit überfordert, Kaffeewasser aufzusetzen – war ihr gleich klar, dass sie diese Person selbst sein wollte.

Seit jenem Tag führte Ines auch Felix den Haushalt und kochte für sie beide. Was bedeutete, dass sie oft noch, spät nach der Vorstellung, zusammen aßen, was sie einander noch näher brachte. Manchmal stand er auch nach der Vorstellung, durch die absolute Konzentration auf der Bühne ganz aufgekratzt, mit einer Weinflasche und zwei Gläsern in der Hand vor ihrer Tür, weil an Schlaf sowieso noch nicht zu denken war.

Beide liebten diese Nächte, in denen sie redeten und redeten, bis sie sich in den frühen Morgenstunden, wenn es meist schon dämmerte, voneinander trennten und jeder in sein Bett fiel.

Das Sie hatten sie schon nach ihrem ersten Treffen aufgegeben, weil die vertraute Anrede die natürlichere zu sein schien, und außerdem war das Du in ihren Kollegenkreisen allemal üblich, sodass es eher umgekehrt eine Umstellung bedeutet hätte.

»Hast du eigentlich in der ersten Nacht in deiner Wohnung etwas geträumt?«, hatte Ines Felix lächelnd gefragt, als sie das erste Mal abends bei einem Glas Wein zusammensaßen. »Man sagt doch immer, dass das in Erfüllung geht.«

Felix hatte einen Moment überlegt und dann zögerlich genickt. »Na ja …, was heißt geträumt …? Ich glaube, es war durchweg wirres Zeug. Warte mal …«, er legte den rechten Zeigefinger senkrecht auf seine Lippen und schaute in eine imaginäre Ferne, »ja, da war irgendwas, ich glaube, es hatte mit einem Auftritt zu tun …«

»Kannst du dich an das Gefühl erinnern, das du dabei hattest?«, fragte Ines nach.

»Hm, nö, nicht richtig, auf jeden Fall fühlte es sich irgendwie chaotisch an, aber nicht wirklich negativ.«

»Na ja, dann wollen wir mal das Beste hoffen«, Ines lachte, »aus einem Chaos kann ja auch etwas wirklich Positives entstehen.«

»Hast du das schon mal erlebt?« Felix’ Miene verdüsterte sich für einen Moment, bevor sich seine Züge wieder entspannten.

»Ja, durchaus. Ich will nicht sagen, dass das bei mir immer der Fall ist, aber die besten Veränderungen meines Lebens sind alle aus einem unübersehbaren Chaos entstanden.«

»Was denn, zum Beispiel?« Felix war neugierig geworden.

»Okay, nehmen wir die Sache mit meinem Beruf. Weißt du, ich habe lange fest für einen Verlag gearbeitet. Morgens um neun saß ich im Büro an meinem Schreibtisch. Ich liebe meine Arbeit, aber morgens fällt mir wenig ein. Ist eben nicht meine Zeit. Also quälte ich mich durch den Tag, und das ging auf Kosten der Qualität. Um es kurz zu machen: Mir wurde die Kündigung nahegelegt, und ich wusste von einem Tag zum andern nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Wochenlang konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen, und dann hatte ich die Erleuchtung. Wenn ich den Beruf nicht wechseln und irgendwo als ungelernte Kraft arbeiten wollte, musste ich mich selbstständig machen. Die Kontakte zu den Verlagen hatte ich, also begann ich mich als »Freie« zu bewerben, und siehe da – nach anfänglicher Stagnation begann es peu à peu zu laufen. Jetzt kann ich meinen Rhythmus leben und in meinem Traumberuf arbeiten.« Ines seufzte erleichtert in der Erinnerung und streckte die Hand nach ihrem Glas aus. Bedächtig nahm sie einen großen Schluck Rotwein und ließ ihn genüsslich im Mund hin und her kreisen.

Felix lächelte. Es war schön, Ines zu beobachten, wenn sie so engagiert sprach und ihre Worte mit ausdrucksvollen Gesten unterstrich. Außerdem schien sie ein Genussmensch zu sein, was ihm sehr gefiel …

»Also gehe ich mal davon aus, dass mein geträumtes Chaos sich klärt und in der Wirklichkeit etwas Positives daraus erwächst.« Felix hob ebenfalls sein Glas und prostete Ines verschmitzt lachend zu.

So bitter die Erkenntnis

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