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Der Luftballon

Tom Davids

Der Mann ließ den Blick über die unberührte Landschaft schweifen und sog die erfrischende Luft tief in seine Lungen. Es roch nach Frühling. Doch die Freude über die beruhigende Idylle erreichte seine Augen nicht. Sie wirkten leer und leblos. In sich gekehrt beobachtete er den Appenzeller Sennenhund, der lebhaft am Waldrand herumtollte. Gemächlich folgte er dem Hund den knirschenden Schotterweg entlang.

»Komm Rocky, lass uns etwas in den Wald gehen.«

Doch der Appenzeller hörte nicht. Aufgeregt schnüffelte er im Graben und blickte den Mann erwartungsvoll mit mandelförmigen Augen an.

»Rocky, nun komm schon!«

Nachdenklich ging er ein paar Schritte auf den Hund zu. Es war ungewöhnlich, dass er seinen Kommandos nicht folgte. Immer wieder sah der Vierbeiner ihn flehend an, während er ihn mit heller Stimme anbellte.

»Was hast du denn da gefunden?«

Mit ausdrucksloser Miene bückte sich der Mann und starrte in den Graben.

»Ein Luftballon.« murmelte er.

Grimmig musterte er den herzförmigen roten Ballon. An einer silbernen Schnur war ein kleines Kärtchen befestigt. Er griff nach dem Luftballon und nahm die verzierte Karte in die Hand. In einem kunstvoll geschwungenen Herz waren die Worte »Anna & Basti« abgedruckt.

Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er die beiden Namen las. Er wandte den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe.

»Wir wünschen euch …«, flüsterte er leise, als er endlich in der Lage war, weiterzulesen. Mit einem edlen silbernen Stift hatte jemand handschriftlich »... dass ihr die besten Eltern auf der ganzen Welt werdet« daruntergeschrieben.

Kraftlos sank seine zitternde Hand hinab neben die Hüfte. Wie gelähmt fixierte er die Äste im Graben. Doch er ließ den Zettel nicht los. Mit starrem Griff klammerte er sich daran fest. Wie an einem Anker, der Rettung, Erlösung versprach. Bis sein gequälter Blick auf die Rückseite der Karte fiel, einen kurzen Moment lang das Foto des glücklichen, verliebten Paars streifte. Die verkrampfte Hand löste sich. Das Kärtchen glitt aus den mutlosen Fingern und segelte langsam aber unaufhaltsam zu Boden.

Die Uhr an der Wand tickte. Rocky schlummerte friedlich auf einer kuscheligen Decke. Das Wohnzimmer war klein und spartanisch eingerichtet. Es hingen keine Bilder an den Wänden. Keine Erinnerungen. Nichts. Müde rieb sich der Mann die Schläfen. Es war spät. Weit nach Mitternacht. Er wusste nicht, wie lange er schon so da saß. Zweifel spiegelten sich in dem von Sorgenfalten zerfurchten Gesicht. Kopfschüttelnd stand er schließlich auf und holte sich eine Jacke. Rocky hörte das Klappern des Hausschlüssels und eilte treu an seine Seite. »Komm, mein Junge. Wir müssen nochmal in den Wald.«

Der Mann schluckte schwer, als er durch die Windschutzscheibe des Wagens das Haus betrachtete. Immer wieder legte er seine Hand an den Türgriff. Zögerte. Zog sie zurück. Haderte. Gequält verzog er das Gesicht, als Sehnsucht, Scham und Angst miteinander rangen.

Plötzlich schlug er mit der Faust auf das Lenkrad. Die Haut an seinem Fingerknöchel platzte auf. Doch er hieß den Schmerz willkommen. Er war zweihundert Kilometer gefahren, um sich endlich seiner Vergangenheit zu stellen. Entschlossen öffnete er die Tür des Autos und lief mit verbissener Miene auf das Haus zu. Ein letztes Mal atmete er tief durch. Dann drückte er auf den Klingelknopf und schloss angespannt die Augen.

Er hörte Schritte, riss die Augen auf. Und starrte wortlos in das Gesicht, das er so vehement verdrängt hatte.

»Du?« Die Frage klang überrascht. Aber auch anklagend. Ablehnend. Verletzt. »Was zum Teufel willst du hier?«

Seine Stimme brach, als er nach Worten rang. »Ich wollte dich sehen.«

»Du wolltest mich sehen?«, wiederholte sie ungläubig. »Sag mal, spinnst du? Was fällt dir eigentlich ein?«

Wortlos griff er in seine Gesäßtasche und holte das Kärtchen hervor, das er an dem Luftballon im Wald gefunden hatte. »Der Wind hat dich zu mir getragen.«

Verbissen starrte sie auf die Karte in seinen zitternden Händen. Dann hob sie den Kopf. Ein feindseliges Funkeln flammte in ihren Augen auf. »Lass mich einfach in Ruhe!«

»Anna, ich habe mich geändert.« Beschämt blickte er zu Boden. Seine Stimme bekam einen flehenden Unterton. »Es ist vorbei.«

»Das freut mich für dich«, erwiderte sie kalt. »Aber für mich ist es auch vorbei.«

Machtlos sah er zu, wie sich die Tür vor seiner Nase schloss. Das Geräusch war wie ein dumpfer Schlag ins Gesicht. Er sank zu Boden und blinzelte mutlos in die Morgensonne.

Der Aufstieg hatte etwas Reinigendes. Im Gegensatz zur beklemmenden Einsamkeit seiner Wohnung liebte er es, sich allein mit Rocky in der freien Natur aufzuhalten. Das Unterhemd klebte bereits auf dem schweißnassen Rücken. Die Gegend, in der er heute lebte, war flacher. Weite Felder, dichte Wälder. Nicht so viele Hügel und Berge wie hier. Er atmete die entfernt vertraute Luft in seine Lungen. Spürte, wie sehr er das Walberla vermisst hatte. Das Tor zur Fränkischen Schweiz. Den einzigen Zufluchtsort, der ihm einst vermutlich das Leben gerettet hatte, als die heile Welt auseinanderbrach, die er mit verzweifelten Lügen zusammenhalten wollte.

Schwer atmend erreichte er das Gipfelkreuz am nordwestlichen Hang des Tafelberges. Erschöpft ließ er sich auf der Bank nieder und ließ seinen Blick über das weitläufige Tal schweifen. Rocky legte sich neben ihm auf den steinigen Boden und ruhte sich ebenfalls aus. Es war ein kühler Vormittag. Der Wind strich dem Mann erfrischend über seine geröteten Wangen. Die Ruhe auf dem verlassenen Berg war genau richtig, um die turbulenten Gedanken zu ordnen, die wie ein Wirbelsturm durch seinen Kopf fegten.

»Sie hat ja recht«, seufzte er traurig zu sich selbst. »Ich habe sie alle im Stich gelassen.«

Die Erinnerungen trafen ihn schwer, als er seine alte Heimat von dem Aussichtspunkt aus der Vogelperspektive betrachtete. Die vielen Fehler. Versäumnisse, die nicht mehr aufzuholen waren. Lügen, die er nicht ungeschehen machen konnte. Tief in seinen bedrückenden Gedanken versunken, bemerkte er die sich nähernden Schritte erst, als direkt hinter ihm die Kieselsteine knirschten.

»Ich wusste, dass ich dich hier finde.« Die Stimme fuhr ihm durch Mark und Bein. Schweigend harrte er aus, wagte es nicht, sich umzudrehen. »Hier hast du schon immer nach Vergebung gesucht.«

»Das stimmt«, erwiderte er leise mit zugeschnürter Kehle. »Dieser Ort hat etwas Magisches, findest du nicht?«

Sie setzte sich ans andere Ende der Bank und musterte die traumhafte Landschaft. »Bist du wirklich trocken?«

Der Mann nickte langsam. »Ja. Seit vier Jahren schon.«

»Warum hast du dich nie mehr gemeldet?«

»Ich hatte genug mit mir selbst zu kämpfen.« Zum ersten Mal, seit sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, blickte er sie direkt an. »Und ich habe mich geschämt. Wollte, dass ihr mich vergesst.«

»Nach Mamas Tod hätten wir dich mehr denn je gebraucht.«

Der Mann nickte stumm. Er wusste, dass er versagt hatte. Doch der Kampf um ein normales Leben, das ausweglose Duell gegen den Alkohol, hatte ihm alle Kraft abverlangt, die er aufzubringen vermochte.

»Ich habe gelesen, es ist eine Krankheit, nicht wahr?«

»Ja, das ist es«, flüsterte er heiser.

»Warum bist du nach all den Jahren wieder hierher gekommen?«

»Der Luftballon hat die Nachricht deiner Hochzeit zu mir getragen. Ich wollte dich sehen, dir gratulieren.«

»Was versprichst du dir davon?«

Der Mann schluckte. Ratlos starrte er auf den kleinen Felsen unter seinem rechten Fuß, um ihr nicht in die anklagenden Augen zu schauen.

»Du warst ein miserabler Vater.« Es klang mehr wie eine Feststellung als ein Vorwurf. Doch für den Mann machte das die Aussage umso bitterer.

»Ja, das war ich«, wisperte er. »Und es tut mir schrecklich leid.«

Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich bei seiner Tochter entschuldigt hatte. Aber Anna quittierte die überfälligen Worte mit Schweigen. Er hörte ihre bebenden Atemzüge. Lauter und angestrengter als nach dem steilen Aufstieg. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie ihren Blick über die ländliche Weite schweifen ließ und die wärmenden Strahlen der Sonne in sich aufsaugte. Zu gerne hätte er gewusst, was sie dachte. Was er sagen musste, damit sie ihm vergeben konnte.

»Du wirst mir niemals verzeihen, oder?«

Anna seufzte tief. Dann rutschte sie auf der Bank an ihn heran, so dass sie sich beinahe berührten. Der Mann hielt den Atem an. Unruhig wartete er auf ihre Antwort. Sie mied die flehenden Augen. Doch plötzlich griff sie mit den Fingerspitzen nach seiner Hand. Er war überrascht, aber zuckte nicht zusammen. Doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die schlagartige Nähe erweckte Hoffnungen, von denen er nie zu träumen gewagt hatte.

»Nein«, sagte sie nachdenklich. »Vermutlich nicht.«

Er schloss die Augen, wollte die Hand wegziehen. Doch sie ließ seine Finger nicht los.

»Es ist einfach zu viel passiert, verstehst du?«

Er nickte stumm, unfähig zu sprechen.

»Die Narben sind zu tief. Und selbst wenn ich dir vergebe, werde ich dir nie vertrauen können.«

Seine Miene war wie versteinert.

»Aber vielleicht kann er es eines Tages.«

Wie vom Donner gerührt fuhr er herum. Er? Wovon redete sie?

Langsam hob sie mit ihren zarten Fingern seine Hand, führte sie wie in Zeitlupe an ihren Bauch und legte sie sachte dort ab.

»Versprich mir, dass du ihn nie so enttäuschen wirst wie mich.«

Der sanfte Wind trug ihre eindringlichen Worte durch den kalten Frühlingsmorgen. Und die stumme Träne des Mannes glitzerte in der tröstenden Sonne. Ehrfürchtig nickte er mit dem Kopf.

»Das verspreche ich dir«, flüsterte er mit belegter Stimme. »Ihn werde ich nicht enttäuschen.«

Touché - und andere Generationengeschichten

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