Читать книгу Touché - und andere Generationengeschichten - Carsten Bohn - Страница 16
ОглавлениеDie Mancinis und der Bardolino
Hermann Bauer
Gerne höre ich auch heute noch auf den Rat des Ehepaares Sonja und Pietro Mancini. Ob die Probleme klein oder groß sind, die Mancinis finden immer einen Ausweg.
Sonja und Pietro Mancini sind schon weit über 80 Jahre alt. Im Herzen sind sie aber jung und modern geblieben. Pietro Mancini hatte einen Beruf, in dem er in der ganzen Welt herumkam. Er lebte viele Jahre mit seiner Sonja in Asien und Südamerika. Heute wohnen die beiden am Münchner Stadtrand, direkt am Ufer des Starnberger Sees. Ein breiter Kiesweg führt zu der geräumigen Villa.
Ich sitze in einem schwarzen Ledersessel und betrachte das Kaminfeuer. Kein Wohnzimmer strahlt eine solche Gemütlichkeit und Geborgenheit aus wie dieses. Und ich war schon in vielen Wohnzimmern zu Gast.
Pietro schenkt mir einen Rotwein ein, traditionell seine Hausmarke, einen Bardolino. Pietro meint, es gäbe bessere Rotweine, aber seit sich Sonja aus München und Pietro aus Sirmione am Gardasee vor ewigen Zeiten bei einem Glas Bardolino kennen lernten, sind sie der Rebsorte treu geblieben, denn so wärmen sie ihr Verliebtsein immer wieder auf.
Wir stoßen alle an, und Sonja bemerkt: »Es wird höchste Zeit, dass wir mal wieder gemeinsam einen netten Abend verbringen.«
Pietro steht auf, was ihm große Mühe bereitet. Wie so viele Senioren hat auch er Schwierigkeiten mit seinen Beinen. Sie tragen ihn nicht mehr so gut.
Er geht zum Kamin, bückt sich und greift nach dem Korb, um Holz zu holen. Ich springe auf, um ihm die Arbeit abzunehmen. Aber schon steht Sonja neben mir und bittet uns, beide wieder Platz zu nehmen, denn sie möchte Brennholz holen. Sie lässt sich nicht von mir helfen.
Als sie wieder das Zimmer betritt, geht Pietro auf sie zu, bedankt sich bei ihr und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange.
Ich bin gerührt. Es ist jedes Mal eine Freude für mich zu sehen, wie glücklich und harmonisch die beiden immer noch sind – nach so vielen Ehejahren.
Ich trinke einen Schluck Wein und frage sie: »Was ist eigentlich das Geheimnis eurer glücklichen Ehe?« Beide lächeln sich an, und Pietro antwortet: »Ein Geheimnis gibt es da sicher nicht. Die Ehe ist ein Bündnis, das gehegt und gepflegt werden muss. Für manche ist die Ehe bzw. die Liebe lediglich ein Boogie-Woogie der Hormone. Wenn solche Bindungen dann scheitern, muss man sich nicht wundern.« Sonja nickt und fährt fort: »Leider sind die meisten Menschen nicht auf die Ehe vorbereitet. Pietro und ich waren es auch nicht. Als wir vor über 60 Jahren heirateten, hatten wir keine Ahnung. Wir wussten nicht, wie man über seine Gefühle und Empfindungen spricht, wie man Kritik einsteckt und Kritik übt, ohne den anderen gleich in Bausch und Bogen zu verdammen. Oder wie man konstruktiv streitet und es schafft, auch mal nachzugeben, Probleme auch mal eine Weile im Raum stehen zu lassen, um einen günstigeren Augenblick zu ihrer Bewältigung abzuwarten. Die ersten Jahre waren deshalb ziemlich schwierig, und der Haussegen hing oft schief.«
Pietro geht in die Küche. Er kramt aus dem hintersten Eck einen Gegenstand hervor, bringt ihn mit ins Wohnzimmer, reicht ihn mir und sagt: »Vielleicht gibt es doch ein Geheimnis unserer glücklichen Ehe – dies hier hat eine Menge dazu beigetragen.«
Gespannt wartet er auf eine Reaktion von mir. Ich bin jedoch ratlos. Was er mir in die Hand gedrückt hat, ist eine uralte vergammelte Bratpfanne. Sie ist nicht schön, der Boden schon angebrannt und der Henkel wackelt.
Sonja lacht und erzählt: »Diese Pfanne ist schon sehr alt. Ich habe sie bei einem alten Italiener auf einem Markt am Gardasee gekauft. Dieser Mann sagte zu mir, in Deutschland sei die Ehe mit einer heißen Pfanne zu vergleichen, die man auf eine kalte Platte stelle und die nach und nach abkühle. In Italien sei die Ehe eine kalte Pfanne, die man auf eine heiße Platte oder Feuerstelle stelle, so dass sie sich langsam erwärme und immer heißer werde. Diese Worte haben mir damals sehr gut gefallen, und bis heute habe ich sie nicht vergessen.«
Pietro unterbricht Sonja und stellt klar: »Nicht, dass unsere Ehe zu Anfang ein kalte Pfanne gewesen wäre, ganz im Gegenteil, dazu bin ich viel zu temperamentvoll. Aber ich glaube, dass viel zu viele Menschen lediglich darauf hoffen, dass sich die Anfangshitze möglichst lange hält, anstatt immer wieder kräftig nachzuheizen. So verstehe ich die Ehe: Die Freundschaft vertiefen, sich immer näher kommen, sich immer besser verstehen lernen.«
Verträumt beobachte ich, wie die lodernden Flammen auf die gerade aufgelegten Holzscheite übergreifen.
Sonja unterbricht die Stille: »Wir reden oft über Ehe und Partnerschaft. Und wenn jemand Schwierigkeiten hat, so wie du, versuchen wir ihm zu helfen.« Dabei schaut sie mir tief in die Augen. Pietro legt seine Hand auf meine Schulter und sagt: »Ich finde es wichtig, auch von anderen Menschen zu hören, welche Probleme sie haben. Zu sehen, wie sie damit umgehen, das hilft auch uns weiter.«
Ich bin nicht in der Stimmung, jetzt über die Schulprobleme meiner Kinder zu sprechen. Auch nicht über die voraussichtliche Kündigung unserer Mietwohnung, den Wahnsinnsstress in der Firma und schon gar nicht über meine momentane Ehekrise. Da kann mir keiner helfen, denke ich mir, da muss man eben durch.
Also trinke ich mein Glas leer, stehe auf, gehe wie ein Tiger in seinem Käfig nervös auf und ab und sage etwas vorwurfsvoll: »Das alles hört sich recht einfach an, ist jedoch, wie alles Üben, eine schwierige Arbeit. Es erfordert eine Menge Geduld.« Ich bedanke mich für den netten Abend und möchte mich verabschieden.
Sonja reagiert überhaupt nicht und holt noch eine zweite Flasche Bardolino aus der Küche. Pietro kommentiert trocken: »Setz dich.«
Sonja reicht Pietro die Flasche und den Korkenzieher. Er öffnet die Flasche und gießt allen die Gläser nach.
Ich fühle mich unausgeglichen und ausgelaugt vom beruflichen und häuslichen Ärger.
Der Hausherr deutet mit seinem Zeigefinger auf die Vitrine mit den vielen Schnitzereien, Statuen und Vasen. »Jedes Stück teilt eine Geschichte mit«, sagt er. »In welches Land sollen wir dich heute entführen? Nach Thailand, Indonesien, Indien, Guatemala, Mexiko, Peru...?«
Er greift sich aus der Vitrine eine Holzfigur, hält sie in den Händen, betrachtet sie immer wieder von allen Seiten, und dann erzählen beide über Indonesien. Das klingt alles so echt, als ob ich damals selbst dabei gewesen wäre.
Ich schließe meine Augen, und manchmal habe ich das Gefühl, als könnte ich sogar die Gerüche der Speisen, von denen sie mir erzählen, wahrnehmen. So vergesse ich für einige Stunden meine Sorgen. Wie machen die beiden das nur? Die Erzählungen wirken auf mich wie eine Hypnose und Seelenmassage zugleich. Nach etwa vier Stunden verabschiede ich mich und trete den Heimweg an.
Zu Hause fragt mich meine Frau: »War es nett? Haben die beiden wieder über ihre Auslandsabenteuer gesprochen? Haben sie dir wieder ihren billigen Rotwein angeboten? Außer Erdnüssen haben sie dir vermutlich nichts zum Essen angeboten, stimmt’s? Von Millionären kann man das Sparen lernen.«
Ich nicke mit dem Kopf: »Ja, es war wieder sehr schön. Diesmal haben sie mich mit nach Indonesien genommen. Aber sie haben mir auch eine kleine Geschichte über eine italienische Bratpfanne erzählt. Diese Erzählung gefiel mir am besten. Willst du sie hören?«
Verständnislos schaut meine Frau mich an, wobei sie erwidert: »Heute nicht mehr. Ich bin schon zu müde. Vielleicht morgen. Dann erzähle ich dir auch eine Geschichte über Pfannen, Kochtöpfe, Bestecke, Teller, Tassen und Gläser, die ich heute abgespült habe, während du dich amüsiert hast. Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht.«
Ich bin noch nicht müde. Zu viele Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum. Dabei denke ich an eine kühle Bratpfanne und wünsche mir, sie möge sich noch einmal erwärmen und vielleicht sogar sehr heiß werden.