Читать книгу Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918 - Carsten Burhop - Страница 10
Оглавление|►11|
I. Einleitung
Während der nahezu fünf Dekaden zwischen Reichsproklamation und Novemberevolution wandelte sich Deutschland vom wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch rückständigen Agrarstaat zum wirtschaftlich modernen sowie zum gesellschaftlich und politisch revolutionären Staat. Wirtschaftliches Wachstum und ökonomische Modernisierung waren mit gesellschaftlich-politischer Rückständigkeit nicht mehr zu vereinbaren und die gesellschaftlich-politischen Gruppen begaben sich während des Ersten Weltkriegs zunehmend in eine innenpolitische Frontstellung zueinander. Während die Wirtschaft in jahrzehntelangen Trippelschritten in die Moderne gewandert war, kollabierte das politisch-gesellschaftliche System und wurde in ein neues, republikanisches Gewand gekleidet. In dieser Monographie zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs geht es nicht um die großen Wendemarken an seinem Anfang und Ende, sondern um die zahlreichen kleinen Wendungen und Bewegungen der Gesamtwirtschaft, der Wirtschaftspolitik und der in der Wirtschaft handelnden Unternehmen und Menschen. Es ist somit ein Buch über die Trippelschritte des wirtschaftlichen Fort- und Rückschritts zwischen 1871 und 1918.
Viele methodische Wenden, die in der historischen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen wurden, werden in meinem Buch nicht nachvollzogen: weder eine kulturalistische noch eine linguistische oder eine räumliche. Vielmehr verfolge ich einen geradezu traditionell anmutenden sozialwissenschaftlichen Ansatz der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichtsschreibung. Die den Argumenten in diesem Buch zugrundeliegenden sozialwissenschaftlichen Modelle sind der Volks- und Betriebswirtschaftslehre entnommen, sodass grundlegende Kenntnisse dieser Disziplinen für das Verständnis des Buches sicherlich hilfreich, aber keinesfalls notwendig sind, da die zentralen theoretischen Konzepte im Text erläutert werden.
Der wirtschaftswissenschaftliche Ansatz bedingt, dass die beiden zentralen ökonomischen Aktivitäten – Produktion und Konsum – im Zentrum des Buches stehen. Aus den primären Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Land werden mit Hilfe verschiedenster Produktionstechnologien Güter erzeugt, die ihrerseits entweder als Zwischengüter im weiteren Produktionsprozess untergehen, als Investitionsgüter in den Kapitalstock der Wirtschaft eingehen oder als Konsumgüter der Bedürfnisbefriedigung zugeführt werden.
Dementsprechend behandelt der erste Hauptteil des Buches, bestehend aus den Kapiteln III bis V, die großen Strömungen von Produktion und Konsum zwischen 1871 und 1918. Wie entwickelten sich das deutsche Sozialprodukt und seine Komponenten? Können wir genau abschätzen, wie sich die Gütererzeugung,|11◄ ►12| die Verteilung der Einkommen auf die primären Produktionsfaktoren und die Einkommensverwendung in diesem Zeitraum veränderten? Wie stellten sich Niveau und Verlauf der deutschen Wirtschaftsentwicklung in international vergleichender Perspektive dar? War Deutschland ein Nachzügler der industriellen Revolution, der zur Jahrhundertwende zur Wirtschaftslokomotive Europas oder der Welt wurde? Schließlich stellt sich die Frage, ob die Wirtschaft gleichmäßig wuchs oder ob der Wachstumsprozess von markanten konjunkturellen Zyklen überlagert wurde.
Der zweite Hauptteil des Buches umfasst die Kapitel VI bis VIII und beinhaltet Darstellungen zentraler Felder der Wirtschaftspolitik. Steuern, Zölle, Staatsausgaben und Geldversorgung setzen den Rahmen, in dem Wirtschaftssubjekte handeln und sie stellen die Infrastruktur bereit, die ökonomisches Interagieren ermöglicht. In Kapitel V, das sich mit der Fiskalpolitik beschäftigt, wird zunächst der Frage nachgegangen, in welchem Umfang der Staat Einkünfte erzielte und welche Leistungen er dafür dem Bürger zur Verfügung stellte. Des Weiteren werden die politischen Prozesse untersucht, die die Gestaltung von Steuer- und Leistungssystemen determinierten. Schließlich werden einige Folgen der Fiskalpolitik, insbesondere die steuerliche Belastung unterschiedlicher Einkommen und der Steuerwettbewerb zwischen Regionen und Städten beleuchtet. Eng mit der Fiskalpolitik verknüpft war die Zoll- und Außenhandelspolitik des Deutschen Reichs, die in Kapital VII dargestellt wird. Die Zollpolitik war eines der wichtigsten Politik- und Konfliktfelder im Deutschen Reich. Einerseits gab es Konflikte zwischen dem Zentralstaat und den Bundesstaaten über die Aufteilung der Zolleinnahmen. Andererseits wurden Konflikte auch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ausgetragen, wie die aus Zöllen resultierenden Lasten auf inländische Konsumenten und Produzenten zu verteilen wären. Schließlich folgt in Kapital VIII ein Abschnitt über die Geld- und Währungspolitik, ein relativ konfliktarmes Politikfeld, dem jedoch eine zentrale ökonomische Funktion zukommt. Ein stabiles Geldsystem ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für wirtschaftliche Prosperität. Daher gilt es darzustellen, wie stabiles Geld im Deutschen Reich geschaffen und erhalten wurde.
Der dritte Hauptteil des Buches, der die Kapitel IX bis XII umfasst, widmet sich Unternehmen und Märkten. Güter werden in Unternehmen erzeugt, dort werden die Einkommen auf Unternehmenseigentümer und Arbeitnehmer verteilt. Über Gütermärkte fließen die Waren von den Firmen zum Konsumenten und über Finanzmärkte fließen nicht für Konsum verwendete Haushaltseinkommen den Unternehmen oder dem Staat als Kredit zu. In Unternehmen und auf Märkten finden somit die Basisprozesse statt, die die Grundlage für Produktion und Konsum sind. Kapitel IX stellt den Aufstieg der zumeist als Aktiengesellschaft organisierten Großunternehmen in den Mittelpunkt. Es wird unter anderem untersucht, welchen Bedeutungszuwachs diese Unternehmen in verschiedenen|12◄ ►13| Branchen im Zeitablauf hatten, wie innerbetriebliche Informations- und Organisationsschwierigkeiten angegangen wurden und wie sich die Beziehungen zwischen Unternehmensleitung, Eigentümern und Arbeitnehmern gestaltet haben. Ein Teilaspekt der Beziehungen zwischen Unternehmen bildet den Mittelpunkt von Kapitel X, das sich mit Unternehmenskonzentration und Kartellen beschäftigt. Insbesondere wird den Fragen nachgegangen, inwieweit horizontale und vertikale Unternehmenszusammenschlüsse, internes Wachstum und Kartellabsprachen die Unternehmensentwicklung im Kaiserreich mitbestimmten und welche Auswirkungen Konzentration und Kartellierung auf die Performanz von Unternehmen und die Gesamtwirtschaft hatten. Kapitel XI widmet sich schließlich einer wichtigen Teilmenge von Unternehmen und Märkten, nämlich Banken und Börsen. Die klassische Historiographie zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs hat vor allem die wichtige Rolle von großen Aktienkreditbanken für die deutsche Wirtschaftsentwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert herausgestellt. Diese Sichtweise wird in dieser Monographie kritisch beleuchtet: Hatten die großen Aktienkreditbanken tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung? Welche Relevanz hatten andere Kreditinstitute und der Wertpapiermarkt für die Unternehmensfinanzierung? Welche Interaktionen bestanden zwischen Banken und Börsen?
Kapitel XII widmet sich der Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Auch in diesem Kapitel stehen die zentralen ökonomischen Kategorien Produktion und Konsum im Zentrum: Wie haben sie sich während des Krieges verändert? Welche Verteilungswirkungen hatte die Kriegswirtschaft? Wie reagierte die Wirtschaftspolitik auf die Herausforderung eines langwierigen und materialintensiven Stellungskriegs? Die Kriegswirtschaftsgeschichte als integralen Bestandteil der Wirtschaftsentwicklung des Kaiserreichs zu betrachten hebt die vorliegende Monographie von vielen anderen ab – unter anderen Knut Borchardt, Friedrich-Wilhelm Henning, Hans-Ulrich Wehler, Karl-Erich Born sowie Hubert Kiesewetter sehen eine Zäsur im Jahre 1914.1 Da der Erste Weltkrieg sowohl Kontinuitäten zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs als auch zur Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik aufweist, habe ich mich dafür entschieden diese Übergangsperiode mit zu behandeln.
Wie in Knut Borchardts knapper Darstellung der Industriellen Revolution in Deutschland stehen auch bei mir gesamtwirtschaftliche Aspekte im Vordergrund. Er wies bereits 1972 auf die Probleme der Historischen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hin, verwendet aber trotzdem die damals gerade neu erstellten Zeitreihen. Dem damaligen Forschungsstand entsprechend überschätzt |13◄ ►14| Borchardt die Wachstumsdynamik. Allerdings arbeitet er zentrale strukturelle Kennzeichen heraus: Verschiebung der Einkommen zugunsten von Kapitaleinkommen, hohe Bedeutung steigender Gesamtfaktorproduktivität für das Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitsproduktivität als Ursache von Reallohnsteigerungen. 2 Borchardt fundiert die makroökonomische Perspektive mit Hilfe sektoraler Entwicklungen, die bei mir nicht in einzelnen Kapiteln untersucht werden. Für mich bilden nicht Sektoren, sondern Unternehmen und Märkte die Basisprozesse. Zudem nimmt die Betrachtung der Wirtschaftspolitik bei mir einen wesentlich breiteren Raum als bei Borchardt ein. Die als relevant erachteten Felder der Wirtschaftspolitik – Staatsfinanzen, Geldordnung und Außenwirtschaft – stimmen überein. In meiner Monographie konnten jedoch wirtschaftshistorische Erkenntnisse der vergangenen vier Dekaden verarbeitet werden.
Andere Gesamtdarstellungen der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind kaum mit der vorliegenden Monographie vergleichbar. Beispielsweise behandelt Friedrich-Wilhelm Henning gesamtwirtschaftliche Aspekte nur am Rande und fokussiert seine Darstellung auf die Entwicklung im Agrar- und Dienstleistungssektor. Wirtschaftspolitische Gesichtspunkte werden von Henning kaum gewürdigt, und unternehmenshistorische werden nahezu vollständig ausgeblendet.3 Auch Hans-Ulrich Wehlers monumentale Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914 hat einen gänzlich anderen Ausgangspunkt. Für Wehler bildete nicht Wachstum, sondern schufen Krisen und Konjunkturen den Basisprozess wirtschaftlicher Entwicklung.4 Begünstigt von der jeweiligen konjunkturellen Entwicklung entstanden ein Interventionsstaat sowie Großunternehmen und Kartelle .5 Karl-Erich Born wie auch Hubert Kiesewetter wählen in ihren Monographien einen strukturell-chronologischen Aufbau. Kiesewetter behandelt zunächst in chronologischer Reihenfolge Konjunkturschwankungen und wirtschaftspolitische Ereignisse, gefolgt von einer systematischen Behandlung der Entwicklung einzelner Sektoren und Branchen.6 Ebenso wie bei Wehler und im Gegensatz zur vorliegenden Monographie formten also konjunkturelle Entwicklungen den für die Wirtschaftsgeschichte relevanten Basisprozess. Dieser wurde durch die technologischen, organisatorischen und ökonomischen Wandlungen einzelner Branchen und Sektoren gestützt. Bei Karl-Erich Born bewirkten schließlich Demographie und Technologie den Basisprozess wirtschaftlicher Entwicklung, der sich auf die Evolution einzelner Sektoren auswirkt.7 Parallel dazu liefen wirtschaftspolitische Prozesse ab, deren zentrale |14◄ ►15| Politikfelder – die Zoll- und die Sozialpolitik – von realwirtschaftlichen Prozessen beeinflusst wurden.8
Weitestgehend besteht somit Einigkeit darüber, dass gesamtwirtschaftliche und wirtschaftspolitische Fragen in einer Monographie zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs behandelt werden müssen. Im Detail ergeben sich jedoch Unterschiede: Dominierte der langfristige Wachstumstrend oder dominieren die kurzfristigen konjunkturellen Schwankungen? Ich stelle das langfristige Wachstum in den Vordergrund und behandle den Konjunkturverlauf als nachrangiges Phänomen. Auch hinsichtlich der relevanten Felder der Wirtschaftspolitik bestehen divergierende Ansichten. Alle Autoren behandeln die Außenwirtschaftspolitik. Darüber hinaus bilden Fiskalpolitik, Sozialpolitik, Geldpolitik und Bildungspolitik Interessenfelder einzelner Autoren. Auch ich habe hier eine Auswahl getroffen. Für viele Autoren sind Strukturwandel und sektorale Wirtschaftsentwicklung wichtige Teilaspekte. Diese werden bei mir nachrangig behandelt. Dafür stelle ich unternehmenshistorische Aspekte stärker in den Vordergrund, da Produktion meistens in Unternehmen stattfindet und die Faktoreinkommen zu großen Teilen in Unternehmen erzielt und verteilt werden.
|15◄|