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IV. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft in internationaler Perspektive

Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, dass die deutsche Volkswirtschaft zwischen Reichsgründung und Weltkrieg deutlich wuchs, sich das Einkommen pro Kopf signifikant erhöhte und sich die Wirtschaftsstruktur vom Agrar- zum Industriestaat wandelte. In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, ob Deutschland damit ein Land unter vielen war oder ob sich die Entwicklung in Deutschland punktuell oder insgesamt von derjenigen in anderen Nationen unterschied. Der Bezugspunkt der komparativen Wirtschaftsgeschichte war und ist Großbritannien. Bereits während der deutschen Frühindustrialisierung forderte Friedrich List den Schutz der aufstrebenden deutschen Industrie vor der übermächtigen englischen Konkurrenz durch die Einführung von Zöllen. Friedrich Engels analysierte wenige Jahre später die Auswirkungen der englischen Industrialisierung auf die Lage der Arbeiter und Adolf Soetbeer verglich auf Basis von Einkommensteuerdaten das Volkseinkommen in Preußen mit jenem im Großbritannien.91

In der Historiographie wurde lange Zeit ein wirtschaftlicher Sonderweg Deutschlands gezeichnet. Dabei wurden insbesondere die wachstumsfördernde Rolle der Großbanken und des Staates durch gezielte Kreditvergabe und Förderpolitik, die moderne Organisation der deutschen Unternehmen in großen Aktiengesellschaften sowie deren Koordination in Kartellen betont. Am Schnittpunkt zwischen Staat und Unternehmen wurden zudem die vorbildliche Wissenschafts- und Technologiepolitik und die frühe Errichtung von industriellen Forschungslaboratorien gewürdigt. Demgegenüber sah man in England Familienunternehmen, die die Entstehung von effizienten Großunternehmen behinderten. Englische Banken sollen zudem die Kapitalversorgung der Industrie beschränkt und sich stattdessen zunehmend der Finanzierung von Kolonialgesellschaften zugewandt haben. Verfehlte Wissenschaftspolitik habe zudem dazu beigetragen, dass englische Unternehmer den Anschluss an die neuen Wachstumsindustrien verpassten. Ganz anders hingegen die Entwicklung in den Vereinigten Staaten: Dort hätten sich wie in Deutschland moderne Großunternehmen entwickelt, die ihre Aktivitäten, wenn nicht über Kartelle, so aber in Konzernen bzw. Trusts koordiniert hätten. Industrieforschung sei zwar nur in vergleichsweise geringem Umfang in Unternehmen durchgeführt worden, aber dafür habe es einen regen Markt für Technologie gegeben. Kurzum: Die klassi-sche|49◄ ►50| Wirtschaftsgeschichte sieht in Deutschland und den Vereinigten Staaten zwei rasch aufwärts strebende Volkswirtschaften, während die englische stagnierte und von den beiden neuen Kontrahenten schließlich überholt wurde.92 Diese Sichtweise steht zumindest teilweise im Widerspruch zu den Ergebnissen der vergleichenden quantitativen Wirtschaftsgeschichte. Sie zeigt, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts das Pro-Kopf-Einkommen und die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität in Großbritannien wesentlich höher als in Deutschland waren und dass es nur eine gemächliche Konvergenz der Einkommen gegeben hat.93 Der scheinbare Widerspruch kann teilweise aufgelöst werden, denn der moderne Industriesektor – auf den sich die klassische Forschung bezog – wuchs in Deutschland tatsächlich vergleichsweise rasch und zog zumindest mit Großbritannien gleich. Gleichwohl blieb Deutschland sowohl hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen wie auch der industriewirtschaftlichen Entwicklung weit hinter den Vereinigten Staaten zurück.94

Der wirtschaftshistorische Vergleich hat somit verschiedene Länder und Maßgrößen zur Beurteilung der deutschen Wirtschaftsentwicklung verwendet. Die komparative Wirtschaftsgeschichte hat das Augenmerk auf den Vergleich des Sozialprodukts, des Sozialprodukts pro Kopf, der Arbeitsproduktivität, der Beschäftigungsstruktur sowie der Veränderung dieser Größen über die Zeit gerichtet. Ebenso wurden die Faktoren, die in den einzelnen Ländern hinter dem Wachstum standen, miteinander verglichen: der technische Fortschritt, die Kapitalintensivierung und der Strukturwandel. Tabelle T4 fasst wichtige Kennzahlen – Sozialprodukt, Bevölkerung, Sozialprodukt pro Kopf – für die vier größten Volkswirtschaften jener Jahre und für die beiden Stichjahre 1871 und 1913 zusammen. 95 1871 war das neu gegründete Deutsche Reich mit einem Sozialprodukt von 17,2 Milliarden Mark, nach den Vereinigten Staaten von Amerika mit |50◄ ►51| einem Sozialprodukt von 27,3 Milliarden Mark und Großbritannien mit einem Sozialprodukt von 21,3 Milliarden Mark, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, gefolgt von Frankreich mit einem Sozialprodukt von 15,4 Milliarden Mark. Bis 1913 arbeitete sich das Deutsche Reich mit einem Sozialprodukt von nun 53,7 Milliarden Mark auf den zweiten Rang vor. Den Abstand gegenüber Frankreich, das 1913 auf ein Sozialprodukt von nur 31,1 Milliarden Mark kam, vergrößerte sich vor allem aufgrund des wesentlich stärkeren Bevölkerungswachstums. Großbritannien, das im letzten Vorkriegsjahr ein Sozialprodukt von 46,4 Milliarden Mark aufwies, konnten die Deutschen aufgrund des stärkeren Produktivitätswachstums hinter sich lassen. Auch gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, die ein Sozialprodukt von 118,7 Milliarden Mark erwirtschafteten, wies das Deutsche Reich eine überlegene Entwicklung des Pro-Kopf-Wachstums auf. Allerdings fiel man in Bezug auf die Gesamtgröße der Volkswirtschaft aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums in den Vereinigten Staaten deutlich zurück. Nimmt man das Niveau des Volkseinkommens pro Kopf als Maßstab für den Wohlstand eines Landes, dann zeigt sich, dass Frankreich und das Deutsche Reich etwa gleichauf lagen, allerdings beide nur die Hälfte bzw. drei Viertel des britischen Pro-Kopf-Einkommens in den Jahren 1871 bzw. 1913 aufwiesen. Durchschnittlich erzielte ein Einwohner in Deutschland und Frankreich in den Jahren 1871 bzw. 1913 ein jährliches Einkommen von rund 420 bzw. 790 Mark. Der Durchschnittsbrite kam auf 810 bzw. 1.120 Mark. Das Einkommen pro Kopf in den Vereinigten Staaten war eineinhalb Mal so hoch wie in Deutschland und betrug 690 Mark bzw. 1.235 Mark.96 Tabelle T4 belegt, dass die deutsche Wirtschaftsentwicklung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht außergewöhnlich war.97 Erklärungsbedürftig scheint vor allem der vergleichsweise geringe Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens in Großbritannien und das relativ niedrige Wachstum der Bevölkerung in Frankreich. Die wirtschaftshistorische Forschung hat sich in den vergangenen Dekaden vor allem der ersten Frage zugewandt. Die zweite Frage fällt vornehmlich in das Feld der Sozialgeschichte. Da sich das Einkommen pro Kopf per definitionem aus dem Einkommen je Beschäftigtem – der Arbeitsproduktivität – multipliziert mit der Erwerbsquote – dem Quotienten aus Erwerbstätigen und Bevölkerung – ergibt, können unterschiedliche Pro-Kopf-Einkommen zumindest vordergründig |51◄ ►52| auf Unterschiede in der Arbeitsproduktivität und der Erwerbsquote zurückgeführt werden.

Tatsächlich blieb die Erwerbsquote in Großbritannien zwischen 1871 und 1913 nahezu konstant – 1871 betrug sie 44,5 Prozent, vier Dekaden später 45 Prozent. In Deutschland stieg sie von 42,3 auf 46,2 Prozent an. Dies bedeutet, dass ein Teil des im Vergleich zu Großbritannien rascheren Wachstums des deutschen Pro-Kopf-Einkommens auf das relative Wachstum der Erwerbsquote zurückzuführen ist. Ungleich stärker fiel der Anstieg in Frankreich aus, wo sich die Erwerbsquote zwischen 1872 und 1911 von 40,7 auf 53,4 Prozent vermehrte. Frankreich kompensierte also sein schwaches Bevölkerungswachstum zumindest teilweise durch eine stärkere Partizipation am Produktionsprozess.98

Neben dem Anstieg der Erwerbsquote könnte das Wachstum der Arbeitsproduktivität zur vergleichsweise raschen Erhöhung des deutschen Pro-Kopf-Einkommens in der Zeit des Kaiserreichs mit beigetragen haben. Die Arbeitsproduktivität kann sowohl auf aggregierter Ebene anhand von Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als auch auf disaggregierter Ebene ermittelt und mit Hilfe von Beschäftigungsanteilen auf das gesamtwirtschaftliche Niveau extrapoliert werden. Unter der disaggregierten Ebene versteht man die Ebene der einzelnen Sektoren und Branchen. Prinzipiell sollten beide Ansätze zu ähnlichen Ergebnissen führen. Im vorherigen Kapitel haben wir jedoch gesehen, dass die historische volkswirtschaftliche Gesamtrechnung lediglich ein ungefähres Bild der wirtschaftlichen Entwicklung in einem Land gibt. Werden nun zwei möglicherweise mangelhafte volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen zueinander in Beziehung gesetzt, dann können sich die Unzulänglichkeiten zufällig aufheben –sie können sich aber auch verstärken. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass die Kaufkraft des Geldes in Ländern unterschiedlich sein und vom Wechselkurs durchaus abweichen kann. Daher basiert die moderne komparative quantitative Wirtschaftsgeschichte auf branchenspezifischen Produktivitätsvergleichen bei Verwendung von Kaufkraftparitätswechselkursen. Das Verfahren wird hier anhand der relativen Produktivität der deutschen und britischen Automobil- und Motorradindustrie im Jahre 1907 illustriert.99 1907 produzierte diese Branche in Großbritannien 8.800 Autos, 1.500 Karosserien und 3.700 Motorräder zu Stückkosten von 335, 425 und 37 Pfund. In Deutschland wurden im |52◄ ►53| gleichen Jahr 7.318 Automobile, 2.126 Karosserien und 3.703 Motorräder zu Stückkosten von 6.537, 9.472 und 607 Mark hergestellt. Unter der Annahme, dass in beiden Ländern im Durchschnitt Automobile, Karosserien und Motorräder gleicher Qualität produziert wurden, kann man die Kaufkraftparität für die drei Güter aus dem Verhältnis der Stückkosten in den jeweiligen Ländern berechnen. Diese Rechnung ergibt eine Kaufkraftparität von 19,51 Mark je Pfund für Automobile, von 22,29 Mark je Pfund für Karosserien und von 16,41 Mark je Pfund für Motorräder. Gewichtet man diese drei Kaufkraftparitäten mit den Produktionsanteilen der drei Güter in den beiden Ländern, dann ergibt sich für diese Branche eine Kaufkraftparität von 20,04 Mark je Pfund.100 Neben den drei Gütern, die miteinander verglichen werden konnten, produzierte die jeweilige Industrie Waren, die nur in einem Land hergestellt bzw. die nur in einem Land in der Produktionsstatistik separat ausgewiesen wurden. Man nimmt an, dass für diese Waren dieselbe Kaufkraftparität gilt. Insgesamt produzierte die britische Automobilindustrie bei einem Einsatz von 54.043 Mitarbeitern und Vorleistungen im Wert von 5,7 Millionen Pfund Waren im Wert von 11,6 Millionen Pfund, d. h. die Bruttowertschöpfung betrug 5,9 Millionen Pfund bzw. 109 Pfund je Mitarbeiter. Gemäß der oben ermittelten Kaufkraftparität entspricht dies einer Arbeitsproduktivität von 2.188 Mark. Die Bruttowertschöpfung je Mitarbeiter der deutschen Automobilindustrie betrug lediglich 1.925 Mark oder 88 Prozent der britischen. 101

Tabelle T4: Vergleich des Sozialprodukts


Quelle: Nettosozialprodukt für Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Bruttosozialprodukt für die Vereinigten Staaten; in Mrd. Mark bzw. Mark pro Kopf. Bevölkerung in Mio. Umgerechnet nach Kaufkraftparitäten nach Williamson, Evolution, S. 184. Britische Daten aus B.R. Mitchell, British Historical Statistics. Französische Daten aus Levy-Leboyer und Bourguigon, L’economie francaise. Amerikanische Daten aus Balke / Gordon, Estimation.

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Nun kann mit diesem Verfahren Branche für Branche miteinander verglichen werden. Mit Hilfe der Beschäftigtenzahlen in den jeweiligen Produktionszweigen können weiterhin die branchenspezifischen relativen Produktivitätsniveaus zunächst auf der sektoralen und schließlich auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene zusammengefasst werden.102 Tabelle T5 stellt das Ergebnis für die drei Länder Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika für die Zeit um 1910 dar, wobei das Arbeitsproduktivitätsniveau in Deutschland gleich 100 gesetzt wurde.103 Dies impliziert, dass ein Tabellenwert über 100 einen Produktivitätsvorteil des jeweils anderen Landes gegenüber Deutschland indiziert, ein Wert unter 100 aber einen deutschen Produktivitätsvorsprung anzeigt. Um das Jahr 1910 wies die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika in allen sieben marktwirtschaftlich orientierten Zweigen eine deutlich niedrigere Arbeitsproduktivität auf. Insgesamt waren Beschäftigte in den Vereinigten Staaten rund 58 Prozent produktiver als in Deutschland. Das durchschnittliche Niveau der Arbeitsproduktivität in Deutschland betrug lediglich 63 Prozent des amerikanischen. Im Vergleich mit Großbritannien schneidet Deutschland hingegen besser ab. Einerseits gab es erhebliche Produktivitätsrückstände in der Landwirtschaft, im Bergbau und im Handel sowie bei Banken, Versicherungen und sonstigen Dienstleistungen. Andererseits war die Arbeitsproduktivität in Deutschland im verarbeitenden Gewerbe, im Baugewerbe, in der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie im Transport- und Kommunikationswesen deutlich höher.

Im Durchschnitt waren Erwerbstätige in Großbritannien um 1910 lediglich 16 Prozent produktiver als deutsche Werktätige. Deutschland schloss somit am |54◄ ►55| Vorabend des Weltkriegs nahezu zum Mutterland der Industrialisierung auf. Diese Ermittlung der relativen Arbeitsproduktivität ergibt folglich ein für Deutschland verhältnismäßig positives Bild, denn die Arbeitsproduktivität, ermittelt aus der historischen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und mit Hilfe von amtlichen Wechselkursen transformiert, weist für Deutschland einen Rückstand von 36 Prozent gegenüber Großbritannien im Jahre 1910 aus.104 Gleichwohl belegen beide Verfahren einen Rückstand Deutschlands.

Tabelle T5: Relative Arbeitsproduktivität


Quelle: eigene Berechnungen aufgrund von Daten aus Broadberry, How did the United States, S. 380; Broadberry / Burhop, Comparative productivity, S. 321; Broadberry, Anglo-German productivity in services, S. 233; Broadberry, Anglo-German productivity differences, S. 251.

Eine Ursache der markanten Unterschiede der komparativen Arbeitsproduktivität zwischen den drei Ökonomien könnte eine unterschiedliche Kapitalausstattung gewesen sein. Offensichtlich ist dieser Effekt in der Landwirtschaft, bei der auf jeden männlichen Landarbeiter in Deutschland im Jahre 1910 nur 6,6 Hektar fruchtbarer Boden entfiel. In Großbritannien waren es hingegen 11,4 Hektar und in den Vereinigten Staaten 44,1 Hektar.105 Die positiven Wirkungen |55◄ ►56| des höheren Kapitaleinsatzes auf die Arbeitsproduktivität werden berücksichtigt, wenn man anstelle der Arbeitsproduktivität die Gesamtfaktorproduktivität betrachtet. Dies ist jedoch, da Kapitalstockdaten nur auf stark aggregierter Ebene vorliegen, lediglich in der Landwirtschaft, dem verarbeitenden Gewerbe und der Gesamtwirtschaft möglich. Hier zeigt sich, dass die Gesamtfaktorproduktivität um das Jahr 1910 in der Landwirtschaft in Großbritannien 140 und den Vereinigten Staaten 166 Prozent der deutschen ausmachte. Im verarbeitenden Gewerbe lagen die entsprechenden Raten bei 80 bzw. 145 Prozent und in der Gesamtwirtschaft schließlich bei 133 bzw. 126 Prozent. Relative Arbeitsproduktivität und komparative Gesamtfaktorproduktivität lagen somit in der Landwirtschaft nur wenige Prozentpunkte – neun im Falle von Großbritannien und viereinhalb im Falle der Vereinigten Staaten – auseinander. Im verarbeitenden Gewerbe stand Deutschland bei Verwendung der Gesamtfaktorproduktivität vergleichsweise gut dar, denn die deutsche Position verbesserte sich gegenüber Großbritannien um 15 und gegenüber den Vereinigten Staaten sogar um 47 Prozentpunkte. 106 Auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene hatte Großbritannien eine im Vergleich zur Arbeitsproduktivität höhere Gesamtfaktorproduktivität. Daraus kann gefolgert werden: Deutschland akkumulierte relativ mehr Kapital als Großbritannien. Allerdings hatten die Vereinigten Staaten bei Verwendung der Gesamtfaktorproduktivität einen geringeren Vorteil gegenüber Deutschland als bei Verwendung der Arbeitsproduktivität. Dies zeigt, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika vergleichsweise kapitalintensiv produziert wurde, sowohl im Vergleich mit Deutschland als auch mit Großbritannien. Die relativ hohe Bedeutung des Produktionsfaktors Kapital für das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft zeigt sich auch bei einer vergleichenden Wachstumsbilanzierung.107 Zwischen der Jahrhundertmitte und dem Ersten Weltkrieg weisen die Wachstumsbilanzen für die drei Länder Beiträge des Produktionsfaktors Arbeit am Wirtschaftswachstum von 33,5 Prozent (Deutschland), 31,2 Prozent (Großbritannien) und 40,7 Prozent (Vereinigte Staaten) aus. Der Produktionsfaktor Kapital trug in Deutschland 25,2 Prozent, in Großbritannien 24,2 Prozent und in den Vereinigten Staaten 32,2 Prozent zum Wirtschaftswachstum bei. Auf das Wachstum der Gesamtfaktorproduktivität – den sogenannten technischen Fortschritt – sind in Deutschland 41,1 Prozent, in Großbritannien 44,6 Prozent und in den Vereinigten Staaten nur 27 Prozent der Produktionssteigerung zurückzuführen. Im Großen und Ganzen wurde das Wachstum in den Vereinigten Staaten von Amerika größtenteils durch Faktorakkumulation verursacht, in den |56◄ ►57| beiden europäischen Volkswirtschaften war stattdessen die höhere Gesamtfaktorproduktivität für das Einkommenswachstum verantwortlich.

Tabelle T6: Beschäftigungsstruktur


Quelle: Broadberry, Anglo-German productivity differences, S. 252; Broadberry, How did the United States, S. 385.

Eine höhere Gesamtfaktorproduktivität kann sowohl durch höheres technisches Wissen als auch durch eine Reallokation von Produktionsfaktoren von verhältnismäßig unproduktiven Sektoren in produktive Sektoren verursacht werden. Die relative Arbeitsproduktivität zweier Volkswirtschaften hängt somit, neben der komparativen Arbeitsproduktivität in den einzelnen Branchen, auch von der Verteilung der Arbeitskräfte auf die Branchen ab. Ein außerordentlich großer Produktivitätsvorteil in einer unwichtigen Branche kann bei aggregierter Betrachtung durch einen kleinen Produktivitätsnachteil in einer wichtigen Branche ausgeglichen werden. Mit Hilfe der in Tabelle T6 zusammengestellten Beschäftigtenzahlen kann dieses Problemfeld weiter untersucht werden.

Im Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten von Amerika waren rund ein Drittel aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Anteil dieses Sektors in Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte dagegen lediglich rund ein Zehntel aus. Großbritannien und die Vereinigten Staaten hatten im Vergleich zu Deutschland in diesem Sektor einen erheblichen Vorsprung bei der Arbeits- und Gesamtfaktorproduktivität. Dies bedeutet, dass vor allem die geringe Bodenintensität der deutschen Landwirtschaft bzw. die Überbesetzung des Bodens mit Arbeitskräften für die Produktivitätslücke verantwortlich war. Der deutsche Agrarsektor war ineffizient. Hohe Agrarzölle verhinderten eine Größenanpassung des Agrarsektors und erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein deutlicher Rückgang des Beschäftigungsanteils ein. Im verarbeitenden |57◄ ►58| Gewerbe war in Deutschland und Großbritannien rund ein Drittel, in den Vereinigten Staaten rund ein Fünftel der Erwerbstätigen beschäftigt. In diesem Sektor hatte Deutschland einen Vorsprung bei der Arbeits- und der Gesamtfaktorproduktivität gegenüber Großbritannien, aber zugleich einen Rückstand gegenüber den Vereinigten Staaten. Diese Gemengelage macht eine detaillierte Untersuchung des verarbeitenden Gewerbes notwendig. Tabelle T7 zeigt die relative Arbeitsproduktivität Deutschlands im Vergleich zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten für das verarbeitende Gewerbe sowie für vier Branchen innerhalb dieses Sektors. Verglichen mit Großbritannien zeigt Deutschland eine sehr ungleichmäßige relative Arbeitsproduktivität: Deutschland war in der chemischen Industrie, der Metallerzeugung und der Metallverarbeitung – dazu zählen der Maschinenbau und die Elektroindustrie – sehr produktiv, in der Textil-und Bekleidungs- sowie Nahrungs- und Genussmittelindustrie hingegen weniger produktiv. Verglichen mit den Vereinigten Staaten gab es in Deutschland, mit Ausnahme der chemischen Industrie, durchweg eine sehr niedrige Arbeitsproduktivität.

Tabelle T7: Relative Arbeitsproduktivität

circa 1910Deutschland = 100
GroßbritannienVereinigte Staaten von Amerika
Chemie87,8137,3
Metallerzeugung und Metallverarbeitung71,8205,7
Textilien und Bekleidung121,5183,1
Nahrungs- und Genussmittel149,5205,1
verarbeitendes Gewerbe95,2192,3

Quelle: eigene Berechnungen. Broadberry und Burhop, Comparative productivity, S. 321; Broadberry, Manufacturing, S. 786.

Das Verständnis der Produktivitätsunterschiede wird durch branchenspezifische Fallstudien vertieft. Allerdings liegen nur für sehr wenige Branchen länderübergreifende, quantitativ vergleichende Studien vor. Eine der wenigen drei Länder umfassenden Branchenstudien untersucht die Eisen- und Stahlindustrie. In dieser lassen sich im 19. Jahrhundert anhand der Außenhandelsstatistik drei Phasen des internationalen Wettbewerbs feststellen.108 Bis 1870 dominierte Großbritannien den Welthandel von Eisen und Stahl, wobei deutsche und nordamerikanische Produzenten nicht auf dem Weltmarkt aktiv waren. Im Verlauf der 1870er Jahre trat Deutschland als Mitbewerber auf dem Weltmarkt auf. Die |58◄ ►59| Vereinigten Staaten importierten nach wie vor große Mengen Eisen und Stahl aus Großbritannien. Im Verlauf der 1890er Jahre stieg jedoch die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Industrie an, weshalb die britischen Importe dorthin deutlich zurückgingen und amerikanische Hersteller ihre Waren auf dem Weltmarkt zunehmend verkauften. Diese drei Phasen lassen sich vordergründig durch die Preisentwicklung erklären: Der Tonnenpreis für Eisenbahnschienen betrug beispielsweise um 1860 rund 129 Mark in Großbritannien, 227 Mark in Deutschland und 224 Mark in den Vereinigten Staaten. In der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg kostete dieses Produkt 121 Mark in Großbritannien, 110 Mark in Deutschland und 115 Mark in den Vereinigten Staaten. Die Preiskonvergenz zwischen den drei Ländern kann einerseits durch fallende Gewinne der Produzenten in Deutschland und den Vereinigten Staaten und andererseits durch fallende Kosten für Zwischenprodukte und Produktionsfaktoren – Kohle, Eisenerz, Arbeit, Kapital – sowie durch technischen Fortschritt begründet sein. In den Vereinigten Staaten nahm zwischen 1880 und 1913 vor allem die Kapitalintensität stark zu – bei allerdings leicht fallender Kapitalproduktivität –, wodurch auch die Arbeitsproduktivität stark anstieg. Wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts einem amerikanischen Stahlarbeiter Maschinen mit einer Leistungsfähigkeit von 10,8 PS zur Verfügung standen, dann konnte ein englischer und deutscher Arbeiter lediglich 5,3 bzw. 4,8 PS zu Hilfe nehmen. Die Kapitalproduktivität war aber in Europa deutlich höher als in Übersee: In den Vereinigten Staaten betrug die Kapitalproduktivität 7,8 Tonnen Eisen und Stahl je PS, in Deutschland und Großbritannien waren die entsprechenden Raten nur 14,6 bzw. 9,0 Tonnen. Die im Vergleich zu Deutschland etwa 20 Prozent höhere Arbeitsproduktivität in den Vereinigten Staaten kann daher vollständig durch die höhere Kapitalintensität erklärt werden. Die Gesamtfaktorproduktivität war in beiden Ländern identisch und etwa 15 Prozent höher als in Großbritannien. In Deutschland trug noch ein weiterer Faktor zur Preiskonvergenz mit dem britischen Niveau bei. Zur Jahrhundertmitte lagen die deutschen Preise erheblich über den britischen, weil die Unternehmensgewinne in Deutschland außergewöhnlich hoch waren. Die amerikanischen Preise lagen dagegen über den britischen, weil die Kosten deutlich höher waren. Um 1850 schwankten die Produktionskosten für eine Tonne britisches Roheisen zwischen 47 und 52 Mark, die Produktionskosten beliefen sich in den Vereinigten Staaten auf 89 Mark und in Deutschland auf 52 bis 53 Mark. Das deutsche Roheisen wäre somit auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig gewesen, wenn die Gewinnmarge geringer gewesen wäre: In Großbritannien betrug der Unterschied zwischen Verkaufspreis und Stückkosten rund 4 Mark je Tonne, in Deutschland hingegen 27 Mark je Tonne. Diese hohe Marge konnte gehalten werden, da der deutsche Zollverein den Markt gegen die ausländische Konkurrenz teilweise abgeschirmt hatte. Erst die erhebliche Kapazitätsausweitung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie während|59◄ ►60| der Gründerjahre und die nahezu gleichzeitig erfolgte Abschaffung der Roheisenimportzölle führten zu einer Reduktion der Preis-Kosten-Marge in Deutschland. Die hohen amerikanischen Kosten lassen sich insbesondere auf die niedrige Energieeffizienz der amerikanischen Hersteller zurückführen: Sie verbrauchten ein Drittel mehr Kohle als die britischen Hersteller und Kohle war in den Vereinigten Staaten wesentlich teurer als in England. In Deutschland war zwar Kohle teurer als in den Vereinigten Staaten, aber die Energieeffizienz war deutlich besser. Insgesamt lagen die Energiekosten in Großbritannien 50 und in Deutschland 25 Prozent unter dem amerikanischen Niveau. Darüber hinaus trugen die hohen Löhne in den Vereinigten Staaten erheblich zu den hohen Kosten bei, denn die Lohnkosten waren dort etwa doppelt so hoch wie in Europa. Auf diese Weise lässt sich rund ein Fünftel des Kostenunterschieds mit dem Lohnkostendifferential erklären. Die vergleichsweise hohen Löhne wiederum führten zur stärkeren Substitution von Arbeit durch Kapital bei amerikanischen Firmen. Neue Rohstoffquellen für amerikanische und deutsche Produzenten trugen dann ab den 1890er Jahren zu sinkenden Kosten in beiden Ländern bei. Die verstärkte Verwendung von eisenreichen Magnetiterzen in Deutschland und Amerika führte gegenüber den in England üblichen Hämatiterzen zu Kosteneinsparungen. Gleichzeitig trugen die hohe Energieeffizienz deutscher Hersteller und die niedrigen Kohlepreise in den Vereinigten Staaten zu den fallenden Kosten bei. Die Lohnkosten in den Vereinigten Staaten blieben jedoch deutlich höher als in Deutschland. Kurzum, um 1910 lagen die mittleren Preise für Vorleistungen und Produktionsfaktoren in Großbritannien und den Vereinigten Staaten etwa gleichauf, in Deutschland 17 Prozent unter dem britischen Niveau. Da gleichzeitig die Gesamtfaktorproduktivität in Deutschland und den Vereinigten Staaten das britische Niveau um 15 Prozent übertraf, beliefen sich die deutschen Stückkosten auf lediglich 72 Prozent des britischen und 80 Prozent des amerikanischen Niveaus.

Die in Tabelle T7 ausgewiesenen gravierenden Produktivitätsdifferentiale in der Metall erzeugenden Industrie finden sich somit in einer detaillierten Betrachtung nur teilweise wieder. Berechnet man die relative Arbeitsproduktivität eines britischen Arbeiters im Vergleich zu der eines deutschen anhand der zu Kaufkraftparitäten bewerteten Bruttowertschöpfungen, so gelangt man zu einer Rate von 72 Prozent. Verwendet man hingegen die Produktionsmenge, so gelangt man zu einer Rate von 67 Prozent. Diese entspricht im Großen und Ganzen den in Tabelle T7 ausgewiesenen Werten. Für den Vergleich mit den Vereinigten Staaten führen die beiden Methoden zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Die Tonnenproduktivität lag in Amerika bei 120 Prozent des deutschen Niveaus, die Bruttowertschöpfung je Arbeiter allerdings bei 205 Prozent. Dieser Wert wird auch in Tabelle T7 ausgewiesen. Der große Unterschied zwischen den beiden Kennzahlen deutet darauf hin, dass Deutschland und Großbritannien|60◄ ►61| ähnliche Input-Output-Koeffizienten hatten, während die Wertschöpfungsstruktur der amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie davon abwich. Da die Gesamtfaktorproduktivität in Deutschland und den Vereinigten Staaten sehr ähnlich war, dürfte der Vergleich der Bruttowertschöpfungen den Vorsprung der Vereinigten Staaten überzeichnen: Dort waren die Kapitalintensität und damit auch die Kapitalkosten höher als in Deutschland. Ein Nettowertschöpfungsvergleich – und dies wäre die ökonomisch eigentlich relevante Größe – dürfte daher einen geringeren amerikanischen Vorsprung ausweisen.

Kehren wir von der Branchenebene zurück zur Analyse sektoraler Arbeitsproduktivitätsunterschiede und wenden uns der Landwirtschaft zu. Um 1910 waren in Deutschland und den Vereinigten Staaten rund ein Drittel aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, in Großbritannien hingegen nur 12 Prozent. Die Arbeitsproduktivität der deutschen Landwirtschaft betrug lediglich zwei Drittel der Produktivität in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten. Ein Blick in sektorspezifische Produktivitätsstudien zeigt jedoch, dass die Angaben zur deutsch-britischen komparativen Arbeitsproduktivität stark davon abhängen, ob man die Bruttowertschöpfung oder die physische Produktionsmenge miteinander vergleicht. Nach dem ersten Konzept war die Arbeitsproduktivität in Großbritannien 28 Prozent höher als in Deutschland, nach dem zweiten Konzept jedoch 75 Prozent, sodass der oben genannte Wert von 49 Prozent etwa in der Mitte liegt.109 Des Weiteren hängt das relative Produktivitätsniveau sehr stark von der Definition des Arbeitseinsatzes ab. Dividiert man nämlich die in Deutschland und Großbritannien erzeugte Gütermenge bzw. die erzielte Bruttowertschöpfung durch die Anzahl der männlichen Arbeitskräfte anstatt durch die Anzahl aller Arbeitskräfte (Männer, Frauen und Kinder), dann zeigt sich, dass die deutsche Landwirtschaft um 1910 mindestens ebenso produktiv war wie die britische Landwirtschaft.110 Dieses engere Arbeitskräftekonzept gibt möglicherweise ein präziseres Bild über die tatsächlich geleistete landwirtschaftliche Arbeit, da Kinder und Frauen möglicherweise stärker anderen Tätigkeiten, beispielsweise in der Hausindustrie, nachgingen. Jedoch sind auch bei diesem Vergleich wieder erhebliche Datenprobleme anzutreffen. Insbesondere für Deutschland herrscht Unsicherheit über den Grad der weiblichen Beschäftigung im Agrarsektor, da sich, so die amtlichen Daten des Kaiserlichen Statistischen Amts, die Frauenerwerbsquote in ländlichen Regionen zwischen 1895 und 1907 |61◄ ►62| von unter 30 auf über 50 Prozent erhöht haben soll.111 Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der Fragebogen des Zensus von 1907 – im Gegensatz zum 1895 verwendeten Fragebogen – weitaus präziser war, da er auch Angaben über Familienmitglieder, die durchgängig im Betrieb des Familienvorstandes beschäftigt waren, verlangte. Diese mithelfenden Familienangehörigen wurden in den vor 1907 durchgeführten Berufszählungen offensichtlich nur unzureichend erfasst. Andererseits bedeutet die Erfassung der durchgängig im Betrieb Beschäftigten auch, dass nur vorübergehend oder in Teilzeit Beschäftigte explizit ausgeschlossen wurden. Die Division der Wertschöpfung oder Produktionsmenge durch die Anzahl der männlichen Arbeitskräfte impliziert folglich eine falsche Darstellung des tatsächlichen Arbeitseinsatzes.

Wie bereits oben ausgeführt, war das niedrigere Verhältnis von bewirtschafteter Fläche je Arbeiter ein Grund für die niedrigere Arbeitsproduktivität in Deutschland. Ein deutscher Erwerbstätiger in der Landwirtschaft hatte um 1910 rund 6,6 Hektar zur Verfügung, ein britischer 11,4 Hektar und ein amerikanischer 44,1 Hektar. Die Produktivität je Hektar war in Deutschland außergewöhnlich hoch und betrug das 2,3-fache der britischen Bodenproduktivität.112 Gerade im Vergleich zu den Vereinigten Staaten kann somit die relativ niedrige Bodenintensität den Rückstand bei der Arbeitsproduktivität erklären. Betrachtet man die Entwicklung in diesen beiden Staaten zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg, so zeigt sich, dass in den Vereinigten Staaten 40 Prozent des Produktionswachstums in der Landwirtschaft auf zusätzlichen Arbeitseinsatz, 31 Prozent auf zusätzlichen Kapitaleinsatz und 29 Prozent auf eine höhere Gesamtfaktorproduktivität zurückgeführt werden können. In Deutschland hingegen können 59 Prozent des Produktionswachstums mit einer gesteigerte Gesamtfaktorproduktivität, allerdings nur 20 bzw. 21 Prozent mit erhöhtem Arbeits- bzw. Kapitaleinsatz begründet werden.113 In allen Länder kann man die gesteigerte Gesamtfaktorproduktivität wiederum mit den Erfolgen des technischen Fortschritts erklären: beispielsweise mit dem Einsatz verbesserter Pflüge oder der zunehmenden Mechanisierung von Sä-, Mäh- und Dreschvorgängen. Diese arbeitssparenden Erfindungen wurden zunächst in Nordamerika und Großbritannien eingesetzt, da dort Arbeitskräfte relativ knapp waren bzw. der gewerbliche Sektor stärker um sie konkurrierte. Besonders schnell stieg in Deutschland hingegen der Dünger- und Kunstdüngereinsatz, wodurch die Bodenproduktivität stieg. Der technische Fortschritt konzentrierte sich somit auch in Deutschland auf die Vermehrung des knappen Faktors Boden. Insbesondere |62◄ ►63| der verstärkte Anbau von Kartoffeln und Zuckerrüben veränderte die deutsche Landwirtschaft im internationalen Vergleich nachhaltig. Da die Saat- und Erntezeiten für diese Früchte später im Jahr liegen, überschnitten sie sich mit der Haltung von Tieren auf den Allmenden. Als Konsequenz wurden die Allmenden nach und nach abgeschafft und in effizienter genutztes Privateigentum überführt. Zudem benötigen Kartoffeln und Zuckerrüben andere Bodennährstoffe, weshalb die Fruchtfolge geändert und bisher nicht genutzte sandige Böden für die Landwirtschaft erschlossen werden konnten. Darüber hinaus wurden gerade Zuckerrüben oft durch Pilze und Insekten befallen und ihr zunehmender Anbau förderte daher den Ausbau der Pflanzenschutzforschung, der langfristig auch anderen Pflanzen zugute kam. Fernerhin wurden Kali, Nitrat und Ammoniumsulfat stärker als in anderen Ländern als Dünger eingesetzt. Insbesondere nachdem die Eisenindustrie verstärkt phosphorhaltige schwedische Eisenerze verwendete, stand zudem Phosphat in der Form von Thomasschlacke als Dünger zur Verfügung. Schließlich erlaubte der Kunstdüngereinsatz eine zunehmende Arbeitsteilung innerhalb der Landwirtschaft, da zuvor Art und Anzahl der gehaltenen Tiere die Düngermenge bestimmt hatte. Nun konnten tierische und pflanzliche landwirtschaftliche Produktion getrennt werden.114

Neben der Arbeits- und Gesamtfaktorproduktivität können auch Löhne international miteinander verglichen werden. Diese Art des Vergleichs ist bisher in der Forschungsliteratur wenig beachtet, kann jedoch aus methodischer Sicht ebenso wie der Produktivitätsvergleich vorgenommen werden: Die erzielten Arbeitseinkommen müssen zunächst mit Hilfe von Kaufkraftparitäten in eine einheitliche Währung umgerechnet und können dann zueinander in Beziehung gesetzt werden. Beim internationalen Vergleich von Reallöhnen ist zu beachten, dass die für die einbezogenen Länder verwendeten Lohnreihen eine identische Gruppe von Erwerbstätigen abbilden. Ferner ist darauf zu achten, dass die zur Umrechnung von Nominal- in Reallöhne benutzen Preisindizes die tatsächlich konsumierten Güter in den jeweiligen Ländern widerspiegeln. Ebenso gilt, dass, – zumindest wenn eine lange Periode untersucht wird – der zur Berechnung der Kaufkraftparitäten zwischen den Ländern und zur Ermittlung des Konsumentenpreisindex innerhalb der Länder zugrunde liegende Warenkorb an die aktuellen Ausgabenstrukturen der Lohnempfänger angepasst wird.115 Für einen internationalen Reallohnvergleich wurden Nominallöhne für vollzeitbeschäftigte Erwerbstätige in der Landwirtschaft, der Industrie und im Dienstleitungssektor erhoben und mit Hilfe von Kaufkraftparitäten in eine gemeinsame Währung transformiert.116 Die Kaufkraftparitäten beruhen auf deutschen und britischen |63◄ ►64| Haushaltsbudgets für das Jahr 1905, wobei der Warenkorb 18 Güter sowie deren Preise in den beiden Ländern und den Anteil dieser Güter an den Haushaltsausgaben umfasst. Beispielsweise gaben deutsche Haushalte 0,6 Prozent ihres Budgets für Tee und 5,5 Prozent für Kaffee aus. Britische Haushalte hingegen gaben vier Prozent ihres Budgets für Tee und 1,4 Prozent für Kaffee aus. Da Tee in Deutschland 2,31 Mark und in England 18 Pence kostete, betrug die Kaufkraftparität für Tee 30,80 Mark je Pfund. Kaffee hingegen kostete 93,6 Pfennige in Deutschland und 18,20 Pence in England, sodass die Kaufkraftparität 12,34 Mark je Pfund betrug. Gewichtet man die Kaufkraftparitäten für die beiden Güter mit dem geometrischen Mittel der Ausgabenanteile in den beiden Staaten, dann ergibt sich eine Kaufkraftparität für Genussmittel von 18,95 Mark pro Pfund. Für die anderen Konsumgüter geht man ebenso vor und schließlich ergibt sich für das gesamte Konsumgüterbündel eine Kaufkraftparität im Jahre 1905 von 20,62 Mark je Pfund. Diese liegt sowohl nahe an der oben vorgestellten Kaufkraftparität aus Sicht der Produzenten als auch am offiziellen Wechselkurs von 20,43 Mark je Pfund. Tabelle T8 präsentiert die deutschen und britischen Nominallöhne im Jahre 1905 für sieben Branchen und die gesamte Volkswirtschaft sowie die realen Kaufkraftverhältnisse der Löhne. Schließlich zeigt die rechte Spalte in Form der relativen Lohnstückkosten das Verhältnis zwischen Lohn und Leistung, d.h. das Verhältnis von relativen deutsch-britischen Reallöhnen zur relativen deutsch-britischen Arbeitsproduktivität.

Tabelle T8: Löhne in Deutschland und England


Quelle: Broadberry / Burhop, Real wages.

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In fast allen Branchen wurde in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger verdient als in Großbritannien. Ausnahmen von dieser Regel waren lediglich der öffentliche Dienst und der sich größtenteils im Staatsbesitz befindliche Verkehrs- und Kommunikationssektor mit Eisenbahnen und Post. Besonders niedrig waren die Löhne in der Landwirtschaft, im Handel, bei Banken und Versicherungen. Da dies jedoch Branchen mit vergleichsweise niedriger Arbeitsproduktivität waren, entsprachen Lohn und Leistung einander. Die Lohnstückkosten waren etwa gleichauf mit denen in England. Im deutschen Transportsektor war die Arbeitsproduktivität sehr hoch, weshalb die Lohnstückkosten sich hier als sehr niedrig erwiesen. Ebenfalls sehr niedrige Lohnstückkosten hatten das Baugewerbe und die Industrie. Die relativ hohe Arbeitsproduktivität der deutschen Industrie ging mit vergleichsweise niedrigen Löhnen einher. Ihre hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit kann also zumindest teilweise den niedrigen Löhnen zugeschrieben werden. Es ist allgemein anerkannt, dass Deutschland vor allem in der frühen Phase der Industrialisierung aufgrund von niedrigen Löhnen international konkurrenzfähig war,117 für die Zeit um die Jahrhundertwende wird die Wettbewerbsfähigkeit dagegen der deutschen Industrie vor allem mit der hohen Innovationskraft in der Chemie-, Elektro- und Maschinenbauindustrie begründet.118 Gleichwohl deuten die Ergebnisse in Tabelle T8 darauf hin, dass niedrige Industrielöhne bis zum Ersten Weltkrieg entscheidend zum Aufstieg Deutschlands auf dem Weltmarkt beitrugen.

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Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918

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