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Der letzte Riesling
ОглавлениеDie Winzerin blickte gespannt in Eriks Richtung. Mehrere Flaschen standen vor ihm auf dem Probiertisch, vor dem die Menschen sich drängelten, aufeinander einredeten und versuchten, noch etwas eingeschenkt zu bekommen. Doch aus irgendeinem Grund interessierte sich die Frau nur für Eriks Reaktion. Christine, die mit ihm etwas abseits stand, beobachtete es genau. Erik merkte nichts.
«Der schmeckt zu breit», sagte er und nahm das Glas von den Lippen. Er sprach leise, und Christine vermutete, dass die Winzerin es nicht verstehen konnte. Erik zwinkerte der Frau im Weggehen zu, kippte den Wein in einen der bereitstehenden Auffangbehälter und ging zum nächsten Stand.
Es war kurz vor 19 Uhr, in wenigen Minuten sollte die Weinmesse schließen. Auf den langen, weißgedeckten Tischreihen zeichneten sich Rotweinflecken ab, die weißen sah man nicht. Christine blickte über zerknüllte Preislisten, einsame Prospektstapel und unzählige leere Flaschen hinweg. Viele Winzer würden sich noch heute auf die Rückfahrt zu ihren Gütern machen, und einige würden ihre Weinberge erst am Morgen erreichen. Christine wäre jetzt auch gerne gegangen. Doch Erik deutete mit dem Zeigefinger in Richtung eines Tisches, an dem sich drei Männer miteinander unterhielten. «Das könnte interessant werden.»
Mit einem der Männer war sie befreundet: Bert Gernsheim, ein 72-jähriger Hamburger Weinhändler. Gestern, am vorletzten Tag der Messe, hatte sie hier mit ihm zusammen viele Weine probiert. Über den zweiten wusste sie aus Zeitschriften Bescheid: Chris Raura, Star-Winzer von der Mosel.
Ein stämmiger Mittvierziger, der häufig dunkle Lederkleidung trug und vom Augenschein her auch Sänger einer Rockband hätte sein können.
Aber wer war der dritte Mann?
Erik steckte seine Adlernase bereits ins nächste Weinglas, während er die drei konzentriert beobachtete. «Lass uns mal rübergehen.»
Christine nahm einen Schluck vom Grünen Veltliner und schmeckte die typisch pfeffrigen Noten der Weißweinsorte. Doch nach sechsstündiger, fast ununterbrochener Probe befanden sich ihre Geschmacksnerven nicht mehr in optimaler Verfassung. Sie wollte nach Hause.
Die Männer schienen über etwas Ernstes zu sprechen. Kein Lächeln, kein Griff zum Glas. Ab und zu hob Gernsheim die Hände für kurze, gemessene Gesten.
Der dritte Mann war blond und von gedrungener Gestalt. Irgendwo meinte sie auch ihn schon einmal gesehen zu haben. Er mochte etwas älter als Christine mit ihren 33 Jahren sein, Erik war drei Jahre jünger als sie. «Wer ist dieser blonde Frosch da?», fragte sie Erik.
Er antwortete nicht sofort, da er einen Schluck Wein gemächlich in seinem Mund hin und her bewegte. «Peer Steiger, praktisch ein Kollege von dir», erklärte er, nachdem er die Flüssigkeit gekonnt in den silbernen Degustierkübel gespuckt hatte. «Hat im Internet ein Weinmagazin gegründet und Leute dazu gebracht, jeden Monat ein paar Euro dafür zu zahlen. An und für sich schon eine Leistung, Leute dazu zu bringen, im Internet Geld auszugeben.»
Christine hatte keine Lust mehr auf anstrengende Gespräche, aber sie wollte sich von Bert Gernsheim verabschieden. «Also gut, lass uns hingehen.» Sie kippte den Rest des Veltliners in den Kübel.
Während Christine und Erik auf den Tisch der Männer
zu steuerten, brach deren Gespräch ab. Der Winzer Chris Raura betrachtete die Näherkommenden mit einem Blick, als wollte er sagen: Ihr seid eingeladen, ich gebe gerne etwas zu probieren, aber zeigt euch meiner Weine würdig. Seine dunklen, halblangen Locken sahen frisch gewaschen aus, und er machte nicht den Eindruck, als ob ihn die Verkostungen und der Rummel der letzten Tage angestrengt hätten.
Bert Gernsheim lachte auf seine typische, herzliche Art. «Christine, Erik! Wo wart ihr den ganzen Tag? Ich habe euch heute überhaupt noch nicht gesehen.» Der Weinhändler hatte braungraue Haare, die seitlich an der Stirn gescheitelt waren, ein freundliches, aufmerksames Gesicht und hellblaue Augen. Zu seinem braunen Anzug trug er ein blaues Hemd mit Krawatte.
«Es sind so viele Stände hier ...», sagte Christine und schüttelte ihm die Hand. Sie freute sich, ihn zu sehen. Von Bert Gernsheim hatte Christine viel über Wein gelernt. Er besuchte immer noch fast jedes der Güter selbst, deren Weine in den Regalen seines Geschäfts standen.
«Christine und Erik», stellte Gernsheim die beiden Peer Steiger und Chris Raura vor. «Gute Freunde von mir und große Genießer.»
Rauras Miene wirkte nun milder, während der Weinjournalist verlegen grinste. Christines Erfahrung nach musste man sich in ihrem Beruf vor den unsicheren Typen am meisten in Acht nehmen.
Erik schien sofort in einer anderen Welt zu sein. Er betrachtete die Flaschen auf dem Probiertisch von Weingut Raura, hob welche auf, um ihr Etikett besser studieren zu können, blätterte in der Angebotsliste. Er studierte Musikgeschichte und verbrachte viel Zeit bei Weinverkostungen. Christine hatte ihn vor drei Monaten zufällig in einer Konzertpause kennengelernt, als sie sich beide über die Qualität der ausgeschenkten Weine ärgerten.
Chris Raura hob die Arme. «Was wollen wir noch probieren? Oder besser gefragt, was haben Sie heute von meinen Weinen noch nicht probiert?» Bei diesen Worten lächelte der Winzer eine Spur zu selbstverliebt. Trotzdem strahlte er etwas aus, das Christine reizte. Während der viertägigen Weinmesse hatte Christine nur einmal kurz seinen Stand besucht. Raura war berühmt für seine Süßweine, und die ließen sich den Leserinnen von Convention — der Zeitschrift, für die sie arbeitete — nur schwer nahebringen. Zwar interessierten sich die jungen, erfolgreichen Frauen für hochwertigen Wein. Umfragen, die jeden Artikel daraufhin beleuchteten, wie intensiv er genutzt und wie er bewertet wurde, ergaben: Mancher Gourmet-Report mit Weinempfehlungen stach sogar die Mode- und Partnerschaftsrubriken aus. Allerdings wurde Trockenes bevorzugt. Ab und zu ein Dessertwein zum Käse oder zur Crème brûlée war ja okay, aber der sollte dann nicht 28o Euro pro Halbflasche kosten, wie es bei einigen von Rauras Tropfen der Fall war.
Er blickte Christine in die Augen, als ob nur sie seine Frage beantworten könnte.
«Suchen Sie doch etwas für uns aus», sagte sie.
«Sind Sie mit Chris’ Kollektion gut vertraut?», fragte Peer Steiger. Er hatte auffallend helle Wimpern und auf den Wangen und der breiten Nase zahlreiche Sommersprossen.
«Nein.»
Der Weinjournalist hob verblüfft die Augenbrauen.
«Na gut, Kinder.» Chris Raura stützte sich mit den Handflächen auf dem Probentisch ab. «Wenn Frau ...»
«Sowell», sagte Christine.
«Wenn Frau Sowell erst wenig von mir kennt, sollten wir bei den Ursprüngen beginnen. Für solche Anlässe habe ich immer was dabei — kommt ihr mit?»
Chris Raura lud sie mit einer Handbewegung hinter einen der Vorhänge ein, die neben den Verkostungstischen hingen. Dies war der einzige abgetrennte Bereich, den die Winzer für sich alleine nutzen konnten. Hier standen in langen Reihen Kühlschränke, Kisten und Handkarren.
Chris Raura öffnete einen Klimaschrank und nahm eine Halbflasche heraus. Er umfasste sie mit Daumen und Zeigefinger direkt unterhalb des Korkens und ließ sie in der Luft hängen, als ob er ein seltenes Tier an den Ohren hielt. Raura, Trockenbeerenauslese 1998, war auf dem Etikett zu lesen, und Christine wusste, dass dieser Wein das Gut einst schlagartig berühmt gemacht hatte. Gekeltert aus Reben mit einem extrem hohen, natürlichen Gehalt an Zucker und Geschmacksstoffen. Nun hatte Christine also die Flasche vor Augen, mit der alles begonnen hatte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als Chris Raura sie mit einer ruckartigen Bewegung seines Korkenziehers öffnete.
Zügig schenkte er das Elixier in die Probiergläser ein, deren blasse Flecken davon zeugten, dass bereits reichlich australischer Shiraz und spanischer Tempranillo, französische Burgunder und deutsche Rieslinge in ihnen gebadet hatten. Jeder Besucher bekam am Eingang des Messesaales ein Glas gegen eine Leihgebühr ausgehändigt, und dann wurde versucht, das Exemplar so gut es ging immer wieder mit Mineralwasser auszuspülen. Christine kam das so vor, als würde in Hotels die Bettwäsche nach Abreise eines Gastes nur kurz ausgelüftet werden, bevor sich der nächste hineinlegte, aber sie vertrieb die Vorstellung und konzentrierte sich auf den mattgolden funkelnden Wein.
Gernsheim und Steiger hielten schon ihre Nasen in die Gläser, auch Raura fing an zu schnuppern. Wo war Erik? Wahrscheinlich war ihm in letzter Sekunde ein Weinfreund oder Winzer über den Weg gelaufen, mit dem er fachsimpeln musste — weshalb er den Genuss eines der begehrtesten Getränke versäumte, die in den letzten Jahren in Deutschland produziert worden waren. Seine Leidenschaft für Wein machte ihn manchmal buchstäblich blind. Immerhin konnte er damit sein Studium finanzieren, indem er gesuchte Gewächse preiswert erstand und später teuer verkaufte, meist über das Internet.
Nun hob auch Christine das Glas an ihre Nase, roch und spürte augenblicklich diesen Schock — für sie vergleichbar mit dem Gefühl, wenn die Plombe eines Zahns oder ein Schuhabsatz abbricht. Sie schaute zu den anderen. Die Männer beschäftigten sich versunken mit ihren Gläsern und nahmen bereits den ersten Schluck. Wo war Erik?
Sie machte zwei Schritte zur Seite und lugte durch den Vorhang. Nein, Erik unterhielt sich nicht, er stand hinter Rauras Stand und kramte mit tiefgebeugtem Rücken in Weinkisten. Christine hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn schon schauten Raura, Gernsheim und Steiger mit erwartungsvollen Blicken über ihre Gläser.
Christine trank. Sie wusste, dass sie recht hatte.
«Kork.»
Sie spürte, wie ihr Wort seine zerstörerische Macht entfaltete und in den Augen der anderen Erregung und Angst auslöste. Sie mussten es doch auch schmecken, dieses dumpfe, muffige Aroma, das von einem fehlerhaften Korken ausging und die feinen Noten des Weines überlagerte. Christine empfand es so deutlich, dass sich ihr Gaumen zusammenkrampfte.
Peer Steiger schwieg, Bert Gernsheim kaute grimmig auf dem Wein herum, und Chris Raura roch noch einmal.
In diesem Moment schob sich Eriks schmaler Körper durch die Öffnung des Vorhangs. «Oh, habe ich etwas verpasst?» «Nein», sagte Chris Raura. «Der Wein wurde leider vom Korken verseucht. Das gab es noch bei keiner von diesen Flaschen. Aber irgendwann musste es ja mal passieren.»
Chris Raura bot als Ersatz andere Weine zum Probieren an. Sie waren schön zu trinken und wurden anerkennend kommentiert, doch die Stimmung war nach dem Erlebnis mit dem legendären 98er getrübt. Christine hatte fast ein schlechtes Gewissen.
Sie verabschiedeten sich von Chris Raura, der lange Christines Hand schüttelte und sie auf sein Gut einlud, gaben danach ihre Probiergläser ab und erhielten jeder zwei Euro Pfand zurück. Bert Gernsheim legte seinen Arm auf Christines Schulter und sagte mit gedämpfter Stimme: «Sag mal, kommt ihr gleich noch mit, du und Erik?»
Christine zögerte — morgen war Montag, ein harter Arbeitstag in der Redaktion stand bevor, und eigentlich freute sie sich auf ein paar Stunden Ruhe.
Bert Gernsheim blickte konzentriert zu Boden, als er sagte: «Ein paar Winzer haben mir wertvolle Proben frisch aus dem Fass mitgegeben, weißt du. Es ist mir etwas peinlich, das sagen zu müssen, aber ich habe Angst, alleine nach Hause zu gehen.»
«Ja, aber natürlich!» Christine drückte seinen Ellenbogen. «Gerne kommen wir mit.»
Bert Gernsheim wohnte direkt über seinem Weingeschäft und lebte allein. Dass er plötzlich Angst hatte, dorthin zurückzukehren, erstaunte Christine. Es war noch hell draußen, viele Menschen waren auf den Straßen unterwegs, und so wertvoll konnten seine Fassproben auch nicht sein. Bei ihren letzten Besuchen in seinem Laden hatte er manchmal geistesabwesend gewirkt, und hätte er vorhin nicht sofort den Kork in Rauras Wein schmecken müssen? Schnell verwarf sie den Gedanken, dass Gernsheim abbauen könnte. Ein vitaler Mann wie er?
Während Gernsheim umständlich die Fläschchen mit den Fassmustern in seinem schwarzen Koffer ordnete, stellte Erik seinen Leinenbeutel neben einem der Raumteiler ab und bat Christine, darauf aufzupassen, während er noch einmal zur Toilette wollte. Der Saal leerte sich jetzt rapide. Schon morgen wollte Christine über ihre Erlebnisse schreiben. Sie freute sich darauf, auch wenn die Chefredaktion ihr nur begrenzt Platz einräumen würde. Die Verkostung von Rauras 98er wäre der Knüller gewesen. Erik hatte mit seiner Ahnung, dass es interessant werden würde, recht gehabt.
Ein klirrendes Geräusch ließ sie herumfahren. Ein Raumpfleger, der mit einem großen Besen den Boden fegte, hatte versehentlich Eriks Beutel umgestoßen. Christine hob ihn schnell auf und schaute, ob etwas kaputtgegangen war. Verblüfft erkannte sie ein Etikett: Raura Eiswein 2005. Wie kam die Flasche in seine Tasche? Sie war im Handel noch nicht erhältlich.
Christine erschrak, als er plötzlich wieder neben ihr stand und ihr mit einem gemurmelten «Danke» seinen Beutel aus der Hand nahm. Sie blickte in sein Gesicht. Manchmal kam ihr der Verdacht, sein schmaler, schöngeschwungener Mund und die kessen, aber oft wie in sich gekehrten Augen drückten etwas anderes aus, als was sie zu sehen glaubte.
Bert Gernsheim stand bereits am Ausgang und wartete unruhig auf sie. Christine lächelte ihm aufmunternd zu und berührte Erik, der schon wieder mit einem anderen Weinfreund im Gespräch war, an der Schulter. Es lag nun eine fröhliche Wärme in seinem Blick, die dazu verführte, die letzten Minuten zu vergessen.
«Bert wartet.»
Endlich bewegten sie sich zum Ausgang der Messehalle.
«Kommt, Kinder», sagte Bert Gernsheim und hielt ihnen die Tür auf. Er trug seinen Koffer mit beiden Armen vor seiner Brust und war ihnen gleich ein paar Schritte voraus.
Bis zur U-Bahn-Haltestelle mussten sie nur wenige Minuten zu Fuß gehen. Christine genoss die frische Luft und den Anblick der Menschen, die an diesem Sonntag zu einem Restaurant, einer Aufführung oder einem Rendezvous unterwegs sein mochten. Viele von ihnen würden auch Wein trinken, und einige würden sich später die letzten Tropfen von den Lippen küssen. Wenn der Wein gut war, würden sie anerkennend nicken, sich vielleicht sogar seinen Namen merken, aber nie etwas anderes im Sinn haben als ihren persönlichen Genuss. Davon konnte bei einer stundenlangen Verkostung, wie Christine sie gerade erlebt hatte, keine Rede sein.
Warum rannte Bert Gernsheim bloß so — es kostete Mühe, im Strom der Fußgänger auf Sichtkontakt mit ihm zu bleiben. Erik schwieg. Nach gemeinsamen Verkostungen sprach er üblicherweise viel, um Christine seine Erkenntnisse über die probierten Weine mitzuteilen. Sein jetziges Verhalten irritierte sie und fachte ihren Verdacht erneut an.
«Wieso hast du die Flasche mitgenommen?»
«Welche Flasche?»
«Rauras Eiswein. Du hast ihn an dich genommen, während wir hinter dem Vorhang standen!» Sie sprach zu laut, vorbeigehende Leute blickten sich zu ihnen um.
Erik schüttelte den Kopf, sagte aber kein Wort auf den letzten Metern bis zur U-Bahn. Christine löste einen Fahrschein, während Erik einfach neben ihr wartete. Die zugige Luft wehte ihr die langen, blonden Haare ins Gesicht.
«Wieso klaust du den Winzern ihre Weine?» Sie steckte den Schein in ihre Handtasche, und sie liefen auf die Rolltreppe zu. «Bist du vielleicht Kleptomane? Oder Alkoholiker, der nach jeder Flasche grabschen muss?»
Er blieb stehen. «Nein, Christine ...» Etwas jungenhaft Verunsichertes lag in seinem Blick. «Bitte, mach nicht so eine Geschichte daraus. Bei solchen Messen gehen Hunderte Flaschen verloren oder werden verschenkt.»
«Lass uns weitergehen.»
Vor ihnen betrat ein Paar mit Kinderwagen vorsichtig die Rolltreppe, und Christine wollte sich nicht an ihnen vorbeidrängeln. Endlich glitten sie abwärts, unten stand bereits der Zug. Christine winkte lächelnd Bert Gernsheim zu, der sich erneut zu ihnen umdrehte und nun einstieg.
Was erzählte Erik für einen Unsinn? Hätte er die Flasche geschenkt bekommen, würde er sich kaum so seltsam benehmen.
«Erik, du spinnst doch. Diese Leute produzieren mühsam in Handarbeit, damit es nicht nur Weine von der Stange gibt, und du bestiehlst sie.»
Er fuhr sich mit der Hand nervös durchs Haar. «Also ganz so romantisch würde ich die Arbeit unserer Lagenwinzer auch nicht sehen ... Davon träumen vielleicht deine Leser, aber an das Bild vom Weinbauern, dessen höchstes Ideal die Natur und nicht der Profit ist, glauben nur ganz Naive.»
Christine mochte Erik. Er teilte gern seine Freuden und Entdeckungen mit anderen und war kein Angeber. Sie kannte wenige, die so gut wie er die Herkunft eines Weines allein anhand der Aromen auf seiner Zunge erkennen konnten. Erik trat zur Seite, um einen Drängler vorbeizulassen, und berührte Christines Arm.
Sein Ton hatte sich wieder beruhigt. «Ich kann mit dir jetzt nicht darüber reden.»
«Wie bitte?»
«Ich erkläre es dir später.»
Während das Paar den Kinderwagen auf die Plattform bugsierte, ertönte der Signalton, der das Schließen der Türen anzeigte. Vor Christines und Eriks Augen versanken die letzten Stufen der Rolltreppe, als sich mit einem saftigen, metallischen Geräusch die U-Bahn-Türen schlossen. Verdammt, sie hatten die Bahn verpasst, in die Bert Gernsheim eingestiegen war. Christine glaubte, sein erschrockenes Gesicht zu erkennen, als er jetzt ohne sie abfuhr: «Mist!»
Sie starrte auf die Gleise und hatte das Gefühl, gleich zerspringen zu müssen. Es dauerte ewig, bis der nächste Zug eintraf.
Als sie endlich fuhren, wirkten der schummrig vorbeirauschende Schacht, die im Neonlicht vor sich hin starrenden Passagiere und das tosende Fahrgeräusch beruhigend. Nach drei Stationen stiegen sie wieder aus. Christines Hoffnung, Bert Gernsheim würde hier auf sie warten, erfüllte sich nicht. Während sie zum Ausgang eilten, kam es ihr schon albern vor, dass sie sich solche Sorgen um ihn machte. Um einen Mann, der vor einem Monat ganz allein Neuseeland bereist hatte.
Oben auf der Straße schien grell die Abendsonne. Viele Autos fuhren mit Licht, um ihren tiefliegenden Strahlen zu begegnen. In diesem Stadtviertel mit gediegenen Geschäften, zahllosen Restaurants, Kneipen und Gründerzeithäusern befand sich Gernsheims Weinladen an einem kleinen Platz. Beim Näherkommen sah Christine die Flaschen und Gläser in seinem Schaufenster funkeln. Sie glaubte, ihn dahinter in seinem braunen Anzug zu erkennen, und winkte.
Die Tür stand halb offen, und sie trat ein. Bert Gernsheim saß zurückgelehnt auf einem Stuhl an dem großen Holztisch in der Mitte seines Ladens. Sein Kopf baumelte, als sei er kurz eingenickt, seitlich über der rechten Schulter. Eine blutige Wunde klaffte auf seiner Stirn.
Christine spürte einen mächtigen, dumpfen Schlag in der Brust. Ihr Mund öffnete sich automatisch zu einem Schrei, den sie im letzten Moment unterdrückte. Ihr Blick irrte durch den Raum auf der Suche nach irgendetwas, um die Wunde zu versorgen. Sie griff nach einem gemusterten Tuch, als Erik sie an den Schultern packte. «Hier kann noch jemand sein. Ruf die Polizei, ich kümmere mich um Bert.»
Christine wühlte in ihrer Tasche nach dem Handy und musste sich konzentrieren, um die richtigen Tasten zu finden. Warum brauchte das Ding so lange, bis es sich einschaltete? Endlich war die Leitung frei, sie tippte 112 und alarmierte so ruhig sie konnte einen Notarztwagen. Es war ihr unmöglich, den Blick abzuwenden. Erik bettete Bert Gernsheims schweren Körper auf den Boden und begann ächzend mit einer Herzdruckmassage. Zum Glück konnte er das! Es gab noch Hoffnung. Dann sah er kurz zu ihr herüber. Mit einem jammervollen, wie um Gnade flehenden Gesichtsausdruck. Christine legte das Tuch über Bert Gernsheims Beine.