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Wein von einem Toten

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Freitagnachmittag war Redaktionskonferenz. Sie fand wie immer in einem kahlen Raum mit Holzparkett und weißen Wanden statt. Es gab keinen Tisch, sondern nur Metallstühle mit schwarzer Bespannung. Verantwortlich für diese Einrichtung war irgendeine arbeitspsychologische Theorie, an die Christine sich nur noch dunkel erinnerte.

Diese Nachmittagsgespräche sollten dem Austausch von Meinungen und Eindrücken zur jeweils letzten Ausgabe der Zeitschrift dienen. Chefredakteurin Gesine Myersberger war zehn Jahre älter als Christine, eine schlanke, hochgewachsene Frau mit schmalem Gesicht und schwarzen Haaren, die in klassischem Schnitt bis auf Kinnhöhe fielen. Sie hielt genau wie Christine und die anderen Kollegen die neueste Ausgabe von Convention in den Händen. Man unterhielt sich sachlich über die Ausstrahlung des Models auf der Titelseite und ob das Mädchen zum Selbstverständnis des Blattes passte.

Einige besonders Eifrige — die Redaktion bestand etwa zu einem Drittel aus Männern und zu zwei Dritteln aus Frauen — blätterten bereits auf die folgenden Seiten, auf denen sie sich Anmerkungen gemacht hatten. Im Lauf der Diskussion kreideten sie Kollegen Verständnisprobleme an, wiesen auf offene Fragen oder zweifelhafte Aussagen hin. Den kritisierten Autoren merkte man an, wie hin- und hergerissen sie sich fühlten. Einerseits wollten sie sich gegen Anwürfe verteidigen, andererseits sich aber offen für Kritik zeigen. Das Ergebnis waren nicht selten ein unnatürlicher Gesichtsausdruck und das angestrengte Bemühen, nicht zu laut zu sprechen.

Heute richtete sich die Aufmerksamkeit mal wieder auf Inga Krone. Sie verantwortete eine kleine Rubrik namens law & order, war Mitte dreißig und hatte ein rundes, weiches Gesicht, dem sie durch eine eckige Designerbrille mehr Kontur zu geben versuchte. Sie liebte die Juristerei und die penible Textrecherche. Immer wieder warf man ihr vor, ihre Themenauswahl und Schreibweise seien zu akademisch. Heute lautete der Vorwurf, sie habe in einem Artikel über Mietrecht ganz die Perspektive des Vermieters eingenommen. «Aber das Urteil, auf das ich mich bezog — da ging es nun mal um eine unzulässige Mietminderung. Der Vermieter hatte recht!»

Die Textchefin von Convention sah genervt zur Decke. Christine schlug die Arme über der Brust zusammen, weil sie ahnte, was jetzt kommen würde.

«Unsere Leserinnen sind aber meistens keine Vermieterinnen», sagte die Textchefin in betont harmlosem Tonfall. «Wohl besitzen sie Immobilien, doch bewohnen sie diese mit ihren Familien in der Regel selbst. Außerdem handelt es sich in dem von dir geschilderten Fall um einen äußerst unsympathischen Vermieter, auch, wenn er vor Gericht recht bekam.»

Es war zu spüren, wie die Kollegen im Geiste nickten. Chefredakteurin Gesine Myersberger lehnte sich mit mildem Lächeln zurück. Sie war sichtlich zufrieden mit der Diskussion, brauchte sich nicht einzumischen.

Christine konnte ein panisches Glitzern in Ingas Augen erkennen. Gleich würde sie mit wilden Gesten eine sinnlose Verteidigungsrede halten. Schon nach wenigen Minuten würde man sie zum ersten Mal unterbrechen, und zum Schluss würde sie den Konferenzraum mit dem Gesichtsausdruck einer Geschlagenen verlassen. Christine schauderte bei der Vorstellung.

«Also, ich finde es gut, wenn wir über den Tellerrand der Durchschnittsleserin blicken.» Die Kollegen sahen überrascht zu Christine herüber, die das Wort ergriffen hatte. «Wenn wir uns nur Klischees aus den Erhebungen der Marktforschung zusammenzimmern, werden wir von den Leserinnen nicht mehr ernst genommen. Viele von ihnen werden in den kommenden Jahren Erbschaften machen. Und auch wenn sie das nicht zugeben, machen sie sich jetzt schon Gedanken über Immobilien, die sie dann besitzen und zum Teil auch vermieten werden. Warum sollten sie nicht jetzt schon jeden Artikel zum Thema mit Interesse lesen?»

Filmkritiker Helge Werbner, ein Lockenkopf, der stets zu lächeln schien, aber gerne bösartige Sprüche von sich gab, nahm seine Brille ab und öffnete den Mund. Doch Christine war noch nicht fertig. «Wir sitzen hier wie in einem Raumschiff, schöpfen aus vorgekautem Material, beschreiben, was andere bereits interpretiert oder zur Mode erklärt haben. Wir sollten aber selbst Entdeckungen für die Leser machen.»

Schlagartig hatten alle Ingas Text vergessen. Die Arbeit der Redaktion in Frage stellen und dann auch noch andeuten, man wüsste, wie es besser geht — das war gefährlich. Gesine Myersberger reagierte wie erwartet. «Und wie stellst du dir das im Hinblick auf deine persönliche Arbeit vor, Christine?»

«Ich brauche mehr Zeit für Recherche. Ich kann Speisen oder Weine nicht in ein paar In-Lokalen kennenlernen. Ich muss öfter und länger die Regionen und Anbaugebiete bereisen. Du weißt, dass ein guter Freund von mir gestorben ist, ein Kenner der Mosel. Ich habe das Gebiet vernachlässigt, und zu einer gemeinsamen Reise dorthin ist es nicht mehr gekommen. Im Glauben, dass auch die Leser es vernachlässigen, habe ich sie mehr über Neuseeland oder Sizilien informiert als über die Anbaugebiete vor der eigenen Haustür.»

«Na ja, haha.» Filmkritiker Werbner hatte eine Hand in den Nacken gestemmt. «Moselwein — erinnere ich früher von Verwandtenbesuchen. Haben damals sogar meine Eltern die Nase drüber gerümpft und mit Wasser verdünnt, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Dies süße, klebrige Zeug.»

Christine klatschte in die Hände. «Genau das ist es! So denken viele. Wenn wir uns mit dem Thema befassen, erfahren sie, wie viel sich dort verändert hat und dass die alten Vorurteile nicht mehr stimmen.»

Gesine Myersbergers Augen wirkten eine Spur samtener als sonst. «Ja, warum schreibst du nicht einen schönen Text darüber, du musst doch nicht um Erlaubnis fragen.»

«Natürlich habe ich schon über die Mosel geschrieben. Aber ich weiß zu wenig aus erster Hand.» Christine holte Luft. Jetzt musste sie sagen, was sie sich lange vorgenommen hatte. «Ich stelle mir vor, dass ich für ein paar Wochen hinunterfahre und in einer Serie über meine Erlebnisse berichte. lch kann Weine und Rezepte empfehlen, Interviews machen...

Die Leserinnen sind für einen längeren Zeitraum wie live dabei, erleben die Region als Fortsetzungsroman.»

«Oh.» Gesine Myersberger machte mit schneller Hand Notizen. Es kam selten vor, dass ihre Mitarbeiter derart weitreichende Wünsche äußerten. «Ein interessanter Gedanke, Christine. Wir sprechen noch darüber.»

Diese Worte ihrer Chefin verfolgten Christine den ganzen Tag: Wir sprechen noch darüber. Es machte ihr noch einmal klar, wie viel ihr daran lag, etwas zu ändern. Es war ein tiefer Wunsch von ihr, den sie nicht der Meinung einer Vorgesetzten unterordnen wollte.

Christine arbeitete lange an diesem Tag. Bevor sie nach Hause fuhr, rief sie noch einmal bei Erik an. Auch dieses Mal läutete sein Telefon vergeblich.

Sie wohnte in einem schlichten Backsteinbau aus den 5oer Jahren, von dem aus Parks, Lokale und Geschäfte gut zu erreichen waren. Die Umgebung bestand aus einem unordentlichen Durcheinander hübscher Bürgerhäuser der vorletzten Jahrhundertwende, riesiger Ausfallstraßen, von Tankstellen und Hochhäusern. Viele Studenten lebten hier.

Das Treppenhaus war in einem schmutzabweisenden cremigen Weiß gestrichen, das bei künstlicher Beleuchtung ölig glänzte. Auf den Steinstufen mit ihrem Dekor aus wirren Punkten hallten die Schritte laut, kühl und sauber durch das Haus. Wenn ein Mieter seine schwere Tür aufschloss, bekamen das viele Nachbarn mit.

Christine hängte ihre Jacke an die Garderobe in der Diele, nahm mechanisch Notizen, Ordner und Prospektmaterial von Weingütern aus ihrer Tasche und beobachtete sich dabei wie in einem Trancezustand.

Mit wenigen Schritten war sie in der Küche, wo sie mit ein paar Handgriffen aufräumte und den Kaffeebecher vom Morgen in der Spüle auswusch. Dann nahm sie eine in Seidenpapier gehüllte Flasche vom Regal. Bert Gernsheim hatte sie ihr am ersten Tag der Weinmesse überreicht. «Habe ich von der Mosel mitgebracht», hatte er hinzugefügt. «Noch jung und ein Prototyp. Deine Meinung würde mich interessieren.»

An den ersten beiden Tagen hatte Christine an der Weinmesse jeweils nur kurz teilnehmen können, weil sie tagsüber arbeiten musste. In der Redaktion war es hektisch zugegangen, wieder einmal sollten Neuerungen und Umstrukturierungen vorgenommen werden, hinzu kamen technische Probleme mit neuen Computersystemen. Abends hatte Christine die Flasche irgendwo abgestellt und dann bis jetzt vergessen.

Christine wickelte sie aus ihrer Umhüllung aus, packte sie am Hals, legte sie in die Fläche der anderen Hand und wog sie bedächtig. Es war ein Rotwein! Hinweise auf einen Erzeuger oder die Rebsorte gab es nicht. Nur ein handbeschriebenes Klebetikett, auf dem Moselblut stand. Es konnte sich um Bert Gernsheims Schrift handeln, doch Christine war sich nicht sicher.

Bert Gernsheim hatte ihr oft schon Weine von der Mosel angeboten. Häufig am Ende von gemeinsamen Essen oder Verkostungen, um den Abend ausklingen zu lassen. Immer waren es Weißweine. Meist Auslesen oder Beerenauslesen, die von besonders reifen Reben stammten. Ihre Farbe schimmerte wie Gold aus einem Märchenschatz, ihre Fruchtaromen und verführerische Süße überwältigten den Gaumen. Es handelte sich um Desserts. Wenn Bert Gernsheim erklärte, auf welchem Boden die Reben gewachsen, welchem Wetter sie ausgesetzt waren und wie der aus ihnen gewonnene Wein über Jahre seine Aromen ausgeprägt hatte, glaubte Christine, vorsintflutliche Gesteinsschichten und paradiesische Gärten voller Blumen und Früchte auf der Zunge zu schmecken.

Mit diesen Süßweinen der Extraklasse hatte sie kein Problem. Doch in der Regel schätzte sie Weine, die richtig trocken waren — wie die französischen. Manche Experten meinten, Moselweine in Vollendung müssten immer eine gewisse Süße haben. Ihre Reben wurzelten tief in Schieferhängen, sie waren intensiver Sonne ebenso wie kühler Feuchtigkeit ausgesetzt. Raffinierte und feine Weine entstanden so, mit einer lebhaften und für manche Geschmäcker zu strengen Säure, die angeblich den Zucker als Puffer brauchte. Wenn dem so war, hatte Christine Pech. Oder musste dazulernen.

Glatt wie Butter ließ sich der Korken mit dem Kellnermesser aus der Flasche ziehen. Christine schenkte den Wein in ein kleines Burgunderglas ein und bereute dies sofort, als sie die satte, tiefdunkle Farbe sah. Anscheinend benötigte dieser Wein ein weit größeres Glas.

Rotwein durfte erst seit einigen Jahren an der Mosel angebaut werden: roter Spätburgunder, der auch Blauburgunder oder Pinot Noir genannt wurde, und der unwichtigere Dornfelder. Aber nur ein Bruchteil der Mosel war mit diesen Sorten bestückt. Früher sahen die Spätburgunder ziemlich hell aus. Ihr Stil hatte sich in der letzten Zeit geändert, doch das Dunkelrot von Berts Wein passte eher zu einem französischen Cabernet. In seinem Duft lag etwas Schweres, Verschlossenes, und als Christine probierte, ähnelte der Geschmack dem Aroma fester, frisch gepflückter Kirschen. Dies sollte ein Spätburgunder sein? Er erinnerte Christine sonst mehr an Beeren aus dem Wald. Aber in solchen Fragen konnte man sich leicht täuschen. Die meisten Aromen auf der Zunge wurden ja in Wahrheit gerochen. Und die Nase war ein Künstler, der unendliche Assoziationen, Erinnerungen und Einbildungen mischen konnte...

Der Wein schmeckte gut, aber noch unreif und würde sich besser entfalten, wenn sie ihn einige Zeit an der Luft stehen ließ. Was hatte sich Bert dabei gedacht? Die Flasche gab keinerlei Aufschluss über ihre Herkunft, und so untersuchte sie den Korken. Immerhin, hier fanden sich zwei Buchstaben: WM.

Vorsichtig drehte sie das einzige Indiz, das ihr vielleicht einmal Aufschluss geben konnte, aus dem Korkenzieher. Sie wickelte den Korken in ein Stück Küchenpapier und legte ihn hinter ihre Kaffeedose. Dort würde sie ihn leicht wiederfinden.

Aus der Nachbarwohnung waren die Schreie eines Babys zu hören. Christine spitzte die Ohren und hörte die begütigende Stimme der Mutter. Manchmal unterhielt sie sich im Hausflur mit der jungen Frau, die den Vater ihres Kindes wegen irgendwelcher Streitigkeiten aus der Wohnung geworfen hatte. Doch er besuchte Mutter und Kind fast jeden Tag. Vielleicht würde die kleine Familie ja wieder zusammenkommen.

Eines war sicher: Der Wein in ihrem Glas kam von der Mosel, und Bert hatte seine Gründe, wenn er keine weiteren Angaben darüber gemacht hatte. Er stammte von einem der steilen Hänge am breiten, verschlungenen Fluss, der das Sonnenlicht auf einige der besten Weinlagen der Welt reflektierte. Die hatte Bert trotz seiner Reisen in alle erdenklichen Anbaugebiete anscheinend am meisten geliebt. Christine griff noch einmal nach dem Glas, während ihre Augen feucht wurden. Sie trank es in einem Zug aus und machte wegen der harten, den Gaumen zusammenziehenden Gerbstoffe eine unfreiwillige Grimasse.

Sie musste endlich mit Erik sprechen. Ob er wirklich nicht zu Hause war? Christine bestellte ein Taxi.

Erik wohnte in einem unansehnlichen Hochhaus aus den 7oer Jahren mit blauverkleideten Balkonen und einem Bataillon metallener Briefkastendeckel neben der Haustür. Christine bezahlte den Taxifahrer, stieg aus, und augenblicklich fuhr ein frischer Wind in ihre Haare. Ein typisch hamburgischer Wind, der sie nur für ein paar Sekunden losließ und dann umso wuchtiger zurückkehrte. Wie automatisch blickte sie hinauf zu Eriks Fenstern im 8. Stock. Ein matter Lichtschein zeigte, dass er zu Hause war.

Christine drückte den Klingelknopf neben seinem Namen. Nichts passierte. Sie wartete eine Weile, klingelte erneut. In der Erwartung des üblichen brüchigen Summtons schärfte sie ihre Ohren, doch sie hörte nur den Verkehrslärm hinter ihrem Rücken und das Geräusch des Windes. Heute war Freitag. Wie oft hatte sie Erik seit Bert Gernsheims Tod angerufen? Und jetzt war er schon wieder nicht da, aber hatte anscheinend vergessen, das Licht in seinem Wohnzimmer auszuknipsen.

Sie lief über dieselben Gehwegplatten zurück, auf denen sie gekommen war. Erneut reckte Christine den Kopf und schaute hinauf zum 8. Stock. Jetzt waren die Fenster von Eriks Wohnung dunkel.

Vielleicht hatte auch Erik einen Einschüchterungsbrief erhalten und wollte sich vor ungebetenen Besuchern verstecken? Oder befand er sich in ganz anderen Schwierigkeiten, die mit seinen Internetgeschäften und dem Eiswein zu hatten, den sie nach der Messe in seiner Tasche entdeckt hatte? In jener Nacht nach Gernsheims Tod hatte sie nicht mehr daran gedacht, ihn noch einmal auf den Vorfall anzusprechen.

Christine ging ein paar Schritte weiter in Richtung Straße und verschloss sorgsam ihre Handtasche. Dann umklammerte sie fest den Henkel mit einer Hand, holte mit dem ganzen Arm aus und ließ die Tasche in weitem Bogen durch die Luft kreisen. Fünf-, sechsmal schwang sie ihre großräumige, schwarze Lacktasche durch die Luft und bemerkte keuchend, dass auf die blauverschalten Balkone Mieter getreten waren und sie beobachteten. Erneut lief sie zur Eingangstür und klingelte — es wurde sofort geöffnet. Erik hatte sie offenbar bemerkt.

Als sie aus dem Fahrstuhl stieg, stand er in der Tür. Im weißen T-Shirt und schwarzer Lederhose, frisch rasiert, was ihm ein noch jüngeres Aussehen gab als mit dem dunklen Flaum, den er gern sprießen ließ. «Du kannst auch hier drinnen üben», meinte er und ließ sie hinein. Mit einem Lächeln, das zeigte, dass er sich freute.

Ein Stapel Schallplatten lehnte malerisch neben einem orientalisch anmutenden Diwan, so als sei die Szene für das Foto in einem Wohnmagazin inszeniert. Taschenbücher und geöffnete Bildbände lagen auf Fußboden und Möbeln und erweckten den Eindruck, als ob er mehrmals täglich zwischen den verschiedenen Leseorten wanderte, eine Art geistigen Globus umrundete und dabei zwischen Themen wie der Musik Schuberts, Elaboraten zur Sprachphilosophie und den Songtexten Bob Dylans wechselte. Er recherchierte seit Monaten für seine Doktorarbeit. Es ging um eine geheimnisvolle Musiksprache, die er entdeckt hatte und beweisen wollte. Weinbücher hatte Christine noch nie bei ihm gesehen. Auf seinem Schreibtisch standen fünf Gläser, und in jedem befand sich eine unterschiedliche Menge Rotwein. Zweifellos eine seiner halbwissenschaftlichen Untersuchungen: Wie schmeckte derselbe Wein unter verschiedener Einwirkung von Luft und Zeit, oder wie reagierten verschiedene Weine im gleichen Glas. Und dergleichen.

Christine setzte sich auf ein mit großen roten Kissen gepolstertes Bastsofa.

«Wieso hast du zuerst nicht aufgemacht?»

Erik bewegte sich in Richtung Küche und machte eine Geste, als ob dort eine dringende Erledigung auf ihn wartete. «Erzähle ich dir gleich. Eine komplizierte Geschichte. Ich wollte gerade etwas zu essen machen.»

Christine folgte ihm.

«Worauf hast du Appetit?»

«Auf etwas, wozu man etwas Restsüßes trinken kann.» Christine fragte sich, ob ihr Tipp für Tatjana wirklich eine so gute Idee gewesen war.

Erik riss die Tür des Kühlschranks auf und schaute konzentriert hinein. Er schloss sie wieder und sagte: «Ich hol noch was vom Griechen.» Dann löschte er im Wohnzimmer das Licht. «Wir brauchen ja keine Festbeleuchtung. Mach niemandem auf, ich komme mit meinem Schlüssel herein. Bis gleich.»

Christine war zum ersten Mal ganz allein in Eriks Wohnung. Die Küche sah wie immer fast klinisch sauber aus. Kein Gewürz, kein Gefäß oder Geschirr stand offen herum.

Sie ging ins Wohnzimmer und schaltete automatisch wieder das Licht an. Erik war einer der wenigen weinbegeisterten Menschen, der zu Hause auf sein Hobby nicht durch Tischdecken mit Abbildungen von Weingütern, Weinreben-Lampenschirme, Chianti-Poster oder Ähnliches hinwies.

Eine halboffene Tür in der Diele lud dazu ein, einen Blick hindurchzuwerfen. Christine sah aufgewühlte Bettwäsche und zugezogene Vorhänge. Auf einer Kommode stand eine Flasche Wein. Oder war es Sekt? Daneben stapelten sich Weinkisten bis unter die Decke. Sein Lager im Keller reichte also nicht mehr. Christine ging ins Wohnzimmer zurück und schaute aus dem Fenster.

Am Rand des Platzes vor dem Hochhaus bemerkte sie zwei Gestalten. Sie trugen Trainingsanzüge und blickten nach oben, genau in ihre Richtung. Schnell wich sie zurück. Unwahrscheinlich, dass die beiden sie gesehen hatten — bei so einem großen Gebäude mit so vielen Menschen. Andererseits, wenn sie die ganze Zeit exakt Eriks Fenster im Visier gehabt hatten ... Christine löschte das Licht und bereute es in derselben Sekunde. Verdammt, jetzt hatte sie genauso auf sich aufmerksam gemacht wie Erik zuvor.

In diesem Augenblick schrillte die Türglocke. Christine schrak so heftig zusammen, dass sie fast aufgeschrien hätte. Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu sagen, dass sie in dieser Wohnung sicher war, dass hier niemand so einfach eindringen konnte. Aber Erik hatte doch erklärt, er wolle seinen Schlüssel benutzen ... Sie machte zwei große Schritte zurück zum Fenster, wobei ihr ihr unsinniges Bemühen auffiel, sich so lautlos wie möglich zu bewegen. Die Typen in den Trainingsanzügen hatten sich in Bewegung gesetzt, in Richtung Hochhaus, einer trug eine voluminöse Tasche unter dem Arm. Jetzt verschwanden sie aus Christines Blickfeld. Es klingelte noch einmal.

Was, wenn die beiden hinter Erik her waren, der in der Eile seinen Schlüssel nicht fand und gleich vor seiner eigenen Haustür von ihnen eingeholt werden würde? Vorsichtig setzte sie Fuß vor Fuß, um den eisernen Wohnzimmertisch und einige andere Möbel zu umrunden, und tastete in der dunklen Diele nach der Gegensprechanlage. Sie fand einen Knopf und drückte ihn.

Wie lange würde es dauern, bis etwas passierte? Würde überhaupt etwas passieren? Wenn Erik dort unten etwas zustoßen sollte und er Hilfe bräuchte, durfte sie nicht zu lange abwarten, sondern musste zu ihm.

Christine starrte auf ihre Armbanduhr. Fünf Minuten. Fünf Minuten waren ein großzügiger Zeitraum, um unten in den Fahrstuhl zu steigen und in den 8. Stock zu fahren. Danach würde sie etwas unternehmen müssen. Gebannt blickte sie auf ihre Uhr. Ohne den stetig vorrückenden Sekundenzeiger hätte sie die Wartezeit schwer ertragen.

Bereits nach einer Minute und dreißig Sekunden hörte sie das schwache Rumsen der Fahrstuhltüren. Schritte näherten sich draußen, und dann drehte sich der Schlüssel im Schloss. Die Tür ging auf, und Erik stand vor ihr.

«Oh, es tut mir leid.» Er trat ein und tippte mit der Hand gegen den Lichtschalter. Christine kniff die Augen zusammen. «Ich habe mich so über den Preis geärgert, dass ich unten vergaß, meinen Schlüssel zu benutzen.» Er schloss die Tür hinter sich und hob einen Plastikbeutel in die Höhe. «500 Gramm rohes Lammfleisch. Daraus macht Thassos sonst einen seiner Eintöpfe. Wenn ich aber nachrechne, verkauft er mir das Fleisch so teuer, als hätte er es in seiner Taverne mit Salat und Retsina serviert.»

«Erik, du machst mich allmählich nervös.»

«Es tut mir leid. Ich kann dir alles erklären.» Sie gingen wieder in die Küche, wo er begann, das Fleisch von Sehnen und Fett zu befreien und abzuwaschen.

«Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, Gudrun. Wir hatten etwas miteinander, nur ganz kurz. Wir haben uns freundschaftlich getrennt, so in der Art, aber sie gibt keine Ruhe. Ständig Anrufe, ständig unangemeldete Besuche, das ganze Programm. Ich fürchtete, du wärst sie, und entschloss mich, nicht zu Hause zu sein.»

Christine dachte an das zerwühlte Bett und fragte sich, wie lange die Trennung wohl zurücklag. Aber das war nicht ihr Problem. Seine Erklärung klang einleuchtend und beruhigend. Mit flinken Fingern trocknete er das Fleisch ab und schnitt es in Stücke, öffnete den Kühlschrank, nahm zwei Joghurtpackungen heraus und füllte sie in ein Porzellangefäß. «Und nun zu Chris Rauras Eiswein», sagte er. «Ich habe ihn nicht geklaut. Trotzdem hast du mich am Sonntag bei einer heiklen Sache erwischt.»

«So heikel, dass aus dir kein Wort herauszubekommen war.» «Nein, dir hätte ich es schon erzählt. Aber ich fürchtete, wir würden jeden Moment wieder mit Bert zusammentreffen und der würde mir den Kopf abreißen. Ich schäme mich, wenn ich jetzt daran denke.» Er quetschte zwei Knoblauchzehen aus und fügte sie dem Joghurt bei, rieb etwas frischen Ingwer hinein, den er aus einem Küchenschrank holte, und streute ein gelbes Pulver dazu, bei dem es sich nach Christines Einschätzung um Cumin handelte.

«Auf der Weinmesse habe ich Chris Rauras Kellermeister getroffen. Das ist zumindest seine offizielle Bezeichnung, er ist Mädchen für alles, wozu Raura und seine Frau keine Lust haben.» Erik schüttete Kräuter und Chilipulver in den Joghurt, rührte die Mischung um und legte das Fleisch hinein. «Dieser Kellermeister — Henrik — brachte mir eine Flasche des oser Eisweins mit, die es im Handel noch überhaupt nicht gibt. Es handelt sich um eine Abfüllung für Weinkritiker. Für Experten in der ganzen Welt, die den Tropfen hoch bewerten sollen, damit er sich gut verkauft. Es wird von den Rauras penibel darauf geachtet, wer in den Genuss eines solchen Vorausexemplares kommt. Glaub mir» — er wühlte auf den Knien in einem seiner Küchenschränke und schaute zu ihr auf —, «ich nicht.» Mit zwei Zwiebeln kam er wieder nach oben und bearbeitete sie mit einem großen Messer. «Wenn der Wein außergewöhnlich gut sein sollte — ein Urteil darüber traue ich mir zu —, kann ich ihn jetzt günstig vorbestellen. Lange bevor die Medienleute seine Qualität hinausposaunen und es schwer wird, größere Mengen zu bekommen. In zwei, drei Jahren dann, wenn es überhaupt keine Flaschen mehr auf dem ersten Markt gibt, kann ich alle, die ich nicht selbst trinken will, für eine hübsche Summe versteigern.»

«Also hat Henrik die Flasche geklaut.»

«Nicht direkt. Er hat sie nur an eine Person weitergegeben, die nicht dafür bestimmt war. Und das kann ihn den Job kosten. Es wäre nett, wenn du diese kleine Geschichte nicht gleich in deiner Zeitschrift veröffentlichst.»

Erik stellte die fein geschnittenen Zwiebeln neben den Herd. «Ich bin immer froh, wenn ich damit fertig bin.» Seine Augen glitzerten feucht.

Christine hielt ihm den Drohbrief hin, den sie mit ihrer Post erhalten hatte. «So was hast du wahrscheinlich nicht bekommen?»

Erik ergriff den Zettel mit spitzen Fingern, legte ihn hin und wusch sich die Hände. Er trocknete sie ab, dann las er.

«Es dauerte, bis mir klar wurde, dass diese Zeilen überhaupt nicht im Zusammenhang mit dem Mord an Bert stehen müssen», sagte Christine. «So was flattert ab und zu mal rein von frustrierten Lesern. Gleich nach Berts Tod habe ich natürlich etwas anderes gedacht.»

Er sah sie an. «Welcher Mörder wäre so dumm, seine Tat schriftlich zu kommentieren? Aber du solltest den Zettel der Polizei übergeben.»

Gedankenverloren blickte Christine zum Fleischberg in der Joghurtmarinade. Sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und seit dem Morgen nichts gegessen. Erik registrierte ihren Blick. «Eigentlich muss das Fleisch drei Stunden einliegen, aber wir brauchen nicht so lange zu warten.»

Er nahm eine beschichtete Pfanne aus dem Schrank, träufelte Öl hinein und fing an, die Zwiebeln anzubraten.

«Soll ich dir helfen?»

«Im Kühlschrank sind Tomaten. Einfach klein schneiden, das wäre nett.»

Als sie damit fertig war, hatte er das Fleisch bereits angebraten und ließ die Tomaten mitköcheln. Er streute Gewürze ein und füllte die Pfanne mit Wasser auf.

«Es muss noch ein bisschen einschmoren, dann ist es fertig. Ich mache Reis dazu, okay?»

«Ist das indisch oder dein Rezept?»

«Lamm auf Andhra-Art, nein, nicht von mir. Ich koche selten indisch, aber es fiel mir ein, als du mich fragtest. Wobei man süßere Weine auch zu weniger exotischen Gerichten trinken kann. Ist doch oft nur eine Sache der Gewohnheit.»

«Aber wenn man mit seinem Liebsten einen tollen Abend verbringen will, ist diese Kombination wohl nicht schlecht.»

Erik lachte schreckhaft auf und stellte große, bauchige Gläser und eine 1990er Spätlese aus Ürzig auf den Tisch. Der Winzer war Christine unbekannt. Mit einem saftigen Geräusch verließ der Korken den Flaschenhals, dann strömte eine mattgoldene, schwerfällige Flüssigkeit in die Gläser. Christine hob ihres an die Nase und schnupperte: der typische Geruch eines Moselweins. Noten von zarten Blüten und wie von einer frisch aufgeschnittenen, hellen und eher herben Frucht stiegen auf. Sie nahm einen Schluck und konnte keine Alterungsnoten feststellen, was in Anbetracht des erhöhten Zuckergehaltes normal war. Die Süße wirkte nicht aufdringlich. Alle Elemente bildeten ein Ganzes.

«Ich habe es nicht so scharf gemacht, wie es eigentlich sein müsste», erklärte Erik, als er das Lammgericht in einer großen Schale auf den Tisch stellte. Die Stücke waren von einer gelb-lichbraunen Soße überzogen und mit zerkochten Tomatenstückchen bedeckt.

Trotz der moderaten Schärfe hatte Erik unverwechselbar indisch gekocht. Der Knoblauch drang nur schwach hindurch, das Fleisch war zart. Der Wein dazu war allerdings gewöhnungsbedürftig. Erst nach mehreren Schlucken genoss es Christine, wie die pikante Würze des Essens mit den fruchtigen Rieslingnoten zusammentraf. Sie fand den Wein in keinem herkömmlichen Sinne «passend», er wirkte zunächst wie ein Widerspruch zu den Bissen auf der Gabel, ein Widerspruch, der sich nach einem Moment aber auflöste und dann etwas ganz Neues schmecken ließ.

«Ach, ich muss dir noch etwas zeigen!« Christine kramte den Korken der Flasche Moselblut aus ihrer Handtasche. «Der gehört zu einer Flasche, die Bert mir gegeben hat. Ein Rotwein von der Mosel, über den er meine Meinung wissen wollte ... Genaueres weiß ich nicht. Kommt dir der Korken bekannt vor?»

Erik starrte konzentriert auf das Stück Eichenrinde. «Nicht wirklich. WM könnte Schlossweingut Meckling bedeuten. Eines der ganz großen an der Mosel. Aber deren Korken sehen eigentlich anders aus.»

«Könnte aber passen, Bert hat oft von Meckling gesprochen.»

Moselblut

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