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In der Redaktion
ОглавлениеDas Verlagshaus war in einem früheren Lagerhaus mit einer Fassade aus braunrotem Klinker untergebracht. Die Designer-Fenster und langen, metallenen Balkone, die erst vor wenigen Jahren angebaut worden waren, verliehen dem Gebäude neuzeitlichen Schick, ohne seine angenehme, beruhigende Ausstrahlung zu zerstören. Es lag an einem Kanal, der an beiden Ufern von weiteren, ähnlich aussehenden Gebäuden gesäumt wurde. Christines Büro bot Ausblick auf diesen Kanal mit seiner mal in der Sonne glitzernden, mal schwer und ölig unter Regenwolken dahinströmenden Schönheit. Es besaß nur einen Makel: das tägliche Stimmengewirr in der Redaktion, die klingelnden Telefone, die durch die Luft schwirrenden Bitten und Befehle und den immer leuchtenden Monitor des Computers.
Seit vier Jahren arbeitete Christine für die Frauenzeitschrift Convention. Es handelte sich um ein Monatsmagazin mit den üblichen Rubriken für Mode, Partnerschaft, Kochen, Gesellschaft, Reisen und Ratgeber sowie mit kleinen Buch- und Filmvorstellungen. Launige Glossen, Reportagen über Frauen in den verschiedenen Winkeln der Welt und ein wenig Berichterstattung über aktuelle politische Themen gehörten zur Mischung, die alle paar Monate verändert wurde. Marktanalysen und Leserbefragungen diktierten die Themenauswahl.
Christine hatte als freie Autorin bei der Zeitschrift angefangen, war aber bereits nach drei Monaten von Gesine Myersberger gefragt worden, ob sie Interesse an einer Anstellung habe. Angesichts ihrer mageren Auftragslage hatte sie zugesagt. Ihrem Spezialgebiet, dem Schreiben über Reiseziele, konnte sie danach nur noch ab und zu nachgehen, denn sie wurde fast für jede Seite eingesetzt, wenn Bedarf bestand. Inzwischen betreute sie allerdings ein eigenes, festes Ressort mit dem Titel food & travel. Dort berichtete sie vom Naherholungsgebiet und seinen kulinarischen Verlockungen ebenso wie von der Wiener Spitzengastronomie.
Es gab allerdings ein Problem: Christine konnte viele der Orte, über die sie schrieb, nur oberflächlich oder überhaupt nicht selbst in Augenschein nehmen. Wenn es in der Redaktionskonferenz hieß: «Thailand ist das Thema im Moment, Konkurrenzblatt soundso macht eine Thai-Kochschule, und sogar meine Tochter und ihre Freundinnen essen kaum mehr etwas anderes», blieb Christine nichts anderes übrig, als sich per Archivmaterial, Internetrecherche und Telefon ihre Informationen zu besorgen. Um dann einen stimmungsvollen Artikel zu schreiben, der keine Zweifel darüber zulassen durfte, dass sie soeben aus der asiatischen Metropole zurückgekehrt war. Eine gute Informationsquelle war immer Bert Gernsheim gewesen. Der war fast überall schon hingereist.
Christines Gefühl, mit Bert Gernsheims Tod ein Stück vom Leben verloren zu haben, war immer noch allgegenwärtig. Ihre Trauer beeindruckte es nicht, dass sie ihn nur ab und zu gesehen hatte und er kein intimer Freund gewesen war. So gut es ging versuchte sie, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und sich abzulenken.
Nach dem Mord hatte sie zwei Tage Urlaub genommen und ihren niederdrückenden Gefühlen alle Freiheit gelassen. Sie hatte mit ansehen müssen, wie Bert Gernsheim im Sarg aus seinem Laden getragen worden war. Eigentlich hatte sie sofort gewusst, dass er tot ist — in dem Moment, als sie ihn mit der klaffenden Wunde an seinem Probiertisch sitzen sah, entstand die Welt neu als eine, zu der er nicht mehr gehörte. Auch wenn er noch so nah zu sein schien, als könnte es genügen, die Hand nach ihm auszustrecken.
Offiziell vermutete die Polizei, das Verbrechen habe mit Drogenkriminalität zu tun. Ein seltsamer Verdacht. Nichts in seinem Laden ließ auf einen Raub schließen. Die offene Tür deutete darauf hin, dass er seinen Mörder selbst hereingelassen hatte und womöglich sogar im Begriff gewesen war, ihm Wein einzuschenken. Jedenfalls standen zwei leere Gläser auf dem Tisch, die er natürlich auch für Christine und Erik dort postiert haben konnte ...
Man hatte sie nach der Tat stundenlang verhört, und ein junger Beamter namens Bandow hatte penetrant Fragen nach ihrem privaten und geschäftlichen Verhältnis gestellt. Es war ihm schwer zu vermitteln gewesen, dass Erik und sie gemeinsam mit dem Weinhändler zum Laden aufgebrochen, aber erst kurz nach seiner Ermordung dort eingetroffen waren. Der Beamte räsonierte über die Möglichkeit eines «Streits unter Alkoholeinfluss» — obwohl ihre Promillewerte nicht der Rede wert gewesen waren. Ganz offensichtlich waren sie die wichtigsten Verdächtigen. Diente die Informationspolitik der Polizei also nur dazu, sie beide in Sicherheit zu wiegen, damit sie früher oder später einen Fehler begingen? Wurde ihr Telefon abgehört? In diesem Fall sollten sie so schnell wie möglich miteinander telefonieren. Allein der Klang ihrer Stimmen, so glaubte Christine, würde ihre Unschuld beweisen.
Sie war froh, dass sich kein Kollege ungewöhnlich verhalten oder gar Beileid gewünscht hatte. Womöglich wusste nur Chefredakteurin Gesine Myersberger Näheres über Christines Verstrickung in den Fall. Sie hatte, wie sie Christine berichtete, der Kripo Fragen über ihre Mitarbeiterin beantworten müssen.
Auf Christines Computerbildschirm flackerte ein vor kurzem angefangener Artikel über ihre Lieblingsregion Bordeaux und die Gepflogenheit dortiger Winzer, neben einem teuren Hauptwein einen zweiten, weniger anspruchsvollen und preiswerteren zu produzieren. Lohnte sich der Kauf? Oder handelte es sich nur um einen faden Abklatsch, der sich seinen Namen viel zu hoch bezahlen ließ? Ein interessantes Thema, aber Christines Fingerkuppen hingen unbeweglich über den kleinen schwarzen Quadraten ihrer Tastatur. Jeder Satz, der ihr einfiel, erschien ihr albern und ungelenk.
Christine trank tagsüber nie Alkohol, aber wenn jetzt ein gefülltes Glas neben ihr gestanden hätte, hätte sie vielleicht zugegriffen. Es gab Mitarbeiter im Verlag, deren Alkoholkonsum während der Arbeitszeit ein offenes Geheimnis war. Man tuschelte darüber, sonst nichts — die Betreffenden leisteten normale Arbeit.
Christine löschte ihre Sätze und starrte auf das jetzt völlig blanke Textfeld. In drei Jahren könnte sie immer noch hier sitzen, oder in zehn, wenn sie vorher nicht die Kündigung erhielt. Diesen Job hatte sie von Anfang an lediglich als Zwischenstation gesehen, um in finanzieller Sicherheit Pläne zu schmieden. Doch es war nichts geschehen. Sie arbeitete Tag für Tag, Woche für Woche und wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, nicht zu der großen Zahl arbeitsloser oder unwürdig bezahlter Journalisten zu gehören. Aber wann kümmerte sie sich endlich darum, ihre Tätigkeit so weiterzuentwickeln, wie es ihr vorschwebte?
Sie verlor endgültig die Lust an ihrem Artikel und versuchte ein weiteres Mal, Erik zu erreichen. Wieder erfolglos. Seit dem Mordtag hatte sie nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen. Sie wandte sich ihrer Post zu, die sie gerade deshalb noch nicht geöffnet hatte, um sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Als Redakteurin für Reisen, Essen und Trinken bekam Christine viele Briefe. Fast täglich befanden sich Einladungen darunter: eine dreitägige Journalistenreise durchs Loire-Tal mit Verkostungen unter freiem Weinbergshimmel und Unterkunft in romantischen Schlössern, Bordeaux Grand Cru der 8oer Jahre — außergewöhnliche Verkostung des Weinhandelshauses soundso im Berliner 5-Sterne-Hotel, Gourmet-Entdeckungsreise auf die Liparischen Inseln ... Zwischen vielen Hochglanzbroschüren fiel ein kleiner roter Umschlag auf, der an «Christine Sowell — persönlich» adressiert war. Darin steckte ein ebenfalls rotes, mit gedruckten Lettern beschriebenes Kärtchen: Vorsicht! Jedes weitere Wort ist gefährlich, und wo Beweise fehlen, werden sie gemacht. Ein Freund.
Hitze schoss Christine ins Gesicht. Was war damit gemeint? Jedes weitere Wort über den Mord an Bert Gernsheim? Beweise werden gemacht. Von diesem Satz ging eine Bedrohung wie von einer Waffe aus. Stammte die Warnung von jemandem, der mehr wusste als sie und ihr helfen wollte? Oder handelte es sich vielleicht um einen Trick der Polizei, um sie aus der Reserve zu locken?
Vor der Glastür zu Christines Büro tauchte ihre Kollegin Tatjana Neiders auf und prüfte mit lächelnden Augen, ob sie stören durfte. Mit dumpfem Erschrecken fiel Christine die plausibelste Erklärung ein: Die Karte stammte von dem Menschen, der Bert ermordet hatte.
«Komm doch rein.» In der Hoffnung, ihre Besorgnis überdecken zu können, verzog Christine ihr Gesicht zu einem übertrieben breiten Lächeln. In der Tat schien Tatjana nichts zu bemerken. Ihre vollen Lippen waren dick mit Lippenstift bemalt, ihre Wangen trugen überdeutlich Rouge, aber dies ließ sie keineswegs unnatürlich aussehen, sondern passte zu ihren langen rotblonden Haaren, ihrer fröhlichen Art und dem oft vernehmbaren Lachen. Sie war wie geschaffen für das Ressort love & emotion — oder sah zumindest so aus, als hätte sie sich dafür verkleidet. Tatjana Neiders bekam die meiste Leserpost.
Christine überlegte, ob sie erzählen sollte, was sie erlebt hatte. Sie entschied sich dagegen. Tatjana kannte Bert Gernsheim nicht, sie würde aber mit einem Schwall erschrockener und mitfühlender Wendungen reagieren, die Christine sich ersparen wollte.
Tatjana zwinkerte ihr auf vielsagende Weise zu, was sie immer tat, wenn sie Tipps für ihre Texte brauchte. Meist half Christine ihr mit kulinarischen Details aus, Tatjana schätzte inzwischen aber auch ihren Rat zu anderen Fragen. Es war zum Ritual geworden, Szenarien für Artikel gemeinsam durchzuspielen, und Tatjana legte wie so oft ohne Einleitung los: «Stell dir vor, sie will es heute wirklich wissen, und ihr schwebt eine perfekte Inszenierung hei sich zu Hause vor, Menü und so. Nun hat sie es mit einem dieser IT-Fachkräfte zu tun, deren Hobby na du weißt schon ist und die noch am Wein rumschnuppern, wenn ich schon das halbe Glas geleert habe. Was schenkt sie ihm ein, und was soll sie dazu kochen?»
Tatjana kam näher. Sie liebte Körperkontakt und Gespräche, bei denen sich fast die Nasenspitzen berührten. Christine schob das rote Kärtchen mit dem Zeigefinger unter einen Prospektstapel. «Erst mal die einfache Lösung: Sie bereitet ein Gericht zu, das gleichermaßen eiweißreich und animierend ist: Meeresfrüchte, Lachs, Seehecht oder Geflügel. Dazu passt Chardonnay, aber es kann sein, dass der Typ Chardonnay hasst. Vor allem, wenn es sich um eines der überaromatisierten Gewächse handelt, mit denen die Regale vollstehen. Nun kann sie zu einem französischen Burgunder oder Chablis greifen. Diese Weine werden auch aus der Chardonnay-Traube gemacht, und mit den besten kann man nichts falsch machen. Sie kosten allerdings viel, und bei den preiswerten ist das Risiko groß, eine Enttäuschung zu erleben. Deine Heldin stünde wie eine Doofe da, die sich von großen Namen auf dem Etikett blenden lässt.»
Tatjana hörte ihr mit aufgerissenen Augen zu und griff nach einer alten Zeitung auf Christines Schreibtisch, um sich Notizen zu machen.
«Leichter ist es, einen frischen Muscadet oder einen nicht zu säurehaltigen Sauvignon Blanc von der Loire zu servieren. Oder sie lässt es richtig krachen.»
«Aha.»
«Wenn sie ihn richtig aufmischen, verblüffen und auch physisch in Topform bringen will, nimmt sie einen restsüßen Wein von der Mosel und kocht dazu etwas Asiatisches mit Chili.»
«Süüüüß?» Tatjana spie das Wort geradezu aus, als habe sie sich in diesem Moment an etwas Restsüßem verschluckt. «Ich würde so was ... Wir schreiben doch nicht für unsere Großeltern! Süßen Wein — der Typ würde süß für total uncool und rückständig halten.»
«Eben nicht!» Christine schlug mit der Hand auf die Tischplatte und erhob sich schwungvoll. Es war, als ob sie die Rolle einnehmen wollte, die Bert Gernsheim in Sachen deutsche Weine oft ihr gegenüber eingenommen hatte. «Trocken trinken ist in Deutschland Mode, das kann jeder. Die Reize der etwas gehaltvolleren Weine wissen dagegen nur die Kenner zu schätzen. Und die Amerikaner, denn die kaufen diese Weine wie Durstlöscher auf. Ich spreche aber von nur leicht süßen Weinen. Restsüß eben. Am besten einen, der irgendwann von selbst mit der Gärung aufgehört und den Zucker der Trauben nicht vollständig in Alkohol verwandelt hat. Die Dame sollte eine mehrere Jahre alte Spätlese von einem guten Erzeuger nehmen. Dann ist der Zucker nicht mehr aufdringlich, hält die Genießer aber fit. Auch der Alkoholgehalt ist geringer als bei trockenen Weinen, was Vorteile hat. All das passt zu China- oder Thaiküche, weil sich die scharfen Gewürze und die leichte Süße gut ausgleichen. Und was kann es bei einem Rendezvous Schöneres geben als ein Wechselspiel zwischen Süße und Schärfe?»
Tatjana gestand, dass sie dieses Mal nicht für einen Artikel, sondern in eigenen Liebesangelegenheiten um Rat gebeten hatte, und bettelte geradezu darum, in der Mittagspause mit Christine loszugehen, um einen solchen Wein auszusuchen. Christine zuckte bei dem Gedanken, ein Weingeschäft zu betreten, richtiggehend zurück, doch das war nun einmal ihr Job.
Fünfzehn Minuten später steuerte sie mit Tatjana absichtlich die riesige Weinabteilung eines Kaufhauses mit bekannt guter Moselecke an, wo die Atmosphäre anonym und völlig anders als in Gernsheims Laden war. Sie verließen sie mit der Flasche eines deutschen Starwinzers, die deutlich über Tatjanas Preisvorstellungen lag. «Was die hier für unter 10 Euro haben, dafür kann ich nicht garantieren», hatte Christine gesagt. «Dann kriegst du womöglich doch Bonbon-Wasser.»
Tatjana lud Christine zum Essen ein. Jetzt ergab sich vielleicht die Gelegenheit, über das, was sie belastete, zu sprechen. Es behagte Christine nicht, völlig darüber zu schweigen.
In der Innenstadt bewegten sich zu dieser Zeit besonders viele Menschen. Gegen 13 Uhr strömten sie fast gleichzeitig aus den Bürohäusern, um ihren Mittagsimbiss einzunehmen, und drängelten sich in den Lokalen auf der Suche nach freien Plätzen. Schon kurz nach 14 Uhr war die Mehrheit von ihnen wieder verschwunden und die Lokale fast schlagartig leer. Aber jetzt, um zwanzig nach eins, gab es sogar an den Würstchenbuden Wartezeiten.
Christine und Tatjana hatten Glück. Auf der Terrasse eines hübschen Restaurants, an deren Rand Pflanzenkübel aufgestellt waren, entdeckten sie einen freien Tisch mit Korbstühlen. Der Kellner lächelte ihnen trotz der vielen Gäste einladend zu, und sie nahmen Platz.
Behutsam legte Tatjana die Plastiktüte mit der in Papier eingewickelten Spätlese auf den leeren Stuhl zwischen ihnen. Die pralle Sonne schien darauf. «Tu sie in den Schatten. Bei den Weinen ist es wie bei den Vampiren, Sonnenlicht bringt sie um.»
Tatjana lächelte dankbar und stellte die Flasche unter den Tisch. Christine konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, welche amourösen Folgen dieser Wein womöglich haben würde. Tatjana in ihrer Single-Wohnung mit einem adretten Burschen aus der Werbeabteilung oder jemandem, den sie bei ihren Ausflügen in die Clubszene kennengelernt hatte... Ein romantischer Abend und eine ekstatische Nacht dank restsüßem Wein. Es war ziemlich komisch. Vielleicht löste Christine mit ihrem Tipp eine Art Gegenrevolution im Lifestyle-Betrieb aus, und restsüße Weine würden, nachdem sich alle anderen neu belebten Moden aus den 7oern fast schon wieder totgelaufen hatten, zum neuen Kult.
Christine fiel es schwer, sich für etwas zu entscheiden. Die Speisekarte war ein Musterbeispiel für die Auswahl der Cityrestaurants. Neben der üblichen Suppen- und Salatauswahl, den Saltimbocca und Lamb-Chops und Scampi sollten Kohlgerichte mit Kasseler oder Aal mit Bratkartoffeln an marktfrische Regionalküche denken lassen. Sie blätterte auf die Weinkarte weiter, die ebenfalls den gehobenen Mainstream repräsentierte. Es fanden sich Gewächse aus dem Bordeaux, der Loire, der Toskana und Sizilien und außerdem deutsche Weine — nur weiße — von einigen jungen, aufstrebenden Gütern, welche zurzeit in Gourmet-Journalen und den Gastro-Rubriken von Regionalzeitungen gepriesen wurden.
Tatjana hatte ihre Karte bereits weggelegt. «Schweinerippchen auf exotisch-scharfer Soße», sagte sie und berührte mit ihrer Zunge die Lippen. «Welchen Riesling empfiehlst du mir dazu?»
«Oh!» Christine ließ sich zurück in ihren Stuhl fallen. Wasser mit Eiswürfeln, fiel ihr ein ... «Die Rieslinge auf der Karte sind allesamt trocken, in diesem Fall ist dir daher mit einem kräftigen Rotwein am besten gedient.»
Christine staunte oft, mit wie wenig Zeit sie mittags in einem Lokal auskam. Die Gedanken an die Aufgaben des Nachmittags beschleunigten enorm den Takt, mit dem sie die Gabel zum Mund führte. Dabei entstand aber nie das Gefühl, zu schnell zu essen, im Gegenteil. Es war, als ob ein unendliches Hungerloch nach immer mehr verlangte.
Dem Kellner war die Hoffnung anzumerken, ihren Tisch mindestens noch einmal während der Mittagszeit neu besetzen zu können, er näherte sich halb über seinen Notizblock gebeugt. Christine wollte ihn stoppen, um noch ein paar Minuten zu überlegen, welcher Wein zu Schweinerippchen auf scharf-exotischer Soße passen könnte, als sie am anderen Ende der Terrasse, halb verdeckt von einer Speisekarte, ein Gesicht sah, das sie kannte. Die nach unten gerichteten Augen waren nur zu ahnen, doch die kleinen, festen Lippen des Mannes, seine akkurat geschorenen schwarzen Haare und die kantigen Backenknochen riefen unangenehme Erinnerungen wach: Es war der Kripo-Beamte, der sie in der Mordnacht vernommen hatte.
Christine knallte die Speisekarte auf den Tisch. Das pappige DIN-A4-Teil machte nur ein mattes Geräusch, entfachte allerdings einen Luftzug, der Tatjana die Haare aus der Stirn pustete. Christine presste ihre Lippen zusammen, ihre Hände umklammerten die Tischplatte. Ruckartig rutschte sie mit ihrem Stuhl zurück, schoss in die Höhe und lief zu dem Tisch des Mannes. Der schien noch ganz in seine Speisekarte versunken zu sein, als Christine sich zu ihm hinabbeugte.
«Was soll das?»
Er blinzelte, als müssten sich seine Augen an die Sonne gewöhnen. «Was soll was?»
«Dass Sie mich nicht in Ruhe lassen und mir nachspionieren.»
«Wie kommen Sie darauf? Wir sitzen auf der Terrasse eines Restaurants, wo jeder ein- und ausgeht, wie es ihm beliebt.»
«Dass ich nicht lache. Sie haben sich etwas in den Kopf gesetzt und lassen nicht locker, weil Ihnen und Ihren Kollegen nichts Besseres einfällt.»
«Warum regen Sie sich so auf?» Der weiche Tonfall seiner Stimme war frei von Ironie. «Kommen Sie, Sie wollen mir etwas sagen. Es ist doch gut, wenn ich hier bin. Sie müssen nicht lange grübeln und Entscheidungen treffen. Los! Sprechen Sie es einfach aus.»
Seine braunen Augen strahlten eine Ernsthaftigkeit aus, die Christine fassungslos machte. Mit welchen albernen Tricks arbeiteten diese Leute? Aber sie war selbst schuld und bereute bereits, den Mann angesprochen zu haben.
Wortlos wandte sie sich ab. Tatjana beobachtete mit halb belustigtem, halb erstauntem Gesichtsausdruck die Szene. Christine war schon fast wieder bei ihr, als der Polizist rief: «Frau Sowell, ich warte auf Sie.»
Christine nahm ihre Tasche vom Stuhl und versuchte, ruhig zu bleiben. «Tatjana, lass uns bitte gehen.»
Die Kollegin schaute ratlos zu ihr auf und machte keine Anstalten, sich zu rühren.
«Ich gehe schon einmal vor.» Christine eilte aus dem Lokal, und es ärgerte sie, wie hektisch und überstürzt sie sich dabei bewegte, doch sie konnte es nicht ändern. Sie spürte Erleichterung, als sie den Tisch des Polizisten hinter sich gelassen hatte. Aber sie wusste, dass er sie beobachtete. Also gut, die Straßenseite wechseln und auf Tatjana warten, die hoffentlich endlich begriffen hatte, dass es sich bei dem jungen Mann nicht um einen Bekannten von Christine handelte, mit dem sie geflirtet hatte. Christine stieß sich mit der Spitze ihrer flachen Schuhe vom Bordstein ab und übersah ein heranrasendes Motorrad. Stolpernd und sich gerade noch abfangend, rettete sie sich auf den Gehsteig zurück.
Tatjana tauchte atemlos und mit entsetzter Miene neben ihr auf. «Du kannst doch nicht einfach so über die Straße laufen!» Der Kripobeamte hatte sich von seinem Platz erhoben und stand wie zum Sprung bereit hinter den Grünpflanzen des Lokals.
Zum Glück maß Tatjana der Sache keine weitere Bedeutung bei. Sie hakte sich fürsorglich bei Christine ein und murmelte: «Wir sind alle etwas durch den Wind» — ein Satz, den sie oft gebrauchte.