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Ausstieg aus der Gewalt

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VON JÜRGEN LEMKE

Es ist Herbst 2008, als sich Carsten Stahl aus der Berliner Unterwelt verabschiedet. Er will auf die andere Seite. »Zu den Guten«, wie er sagt.

Sieben Jahre später lernen wir uns bei der Deutschlandpremiere von »Härte« kennen. Rosa von Praunheim hat mein gleichnamiges Buch verfilmt, das ich über Andreas Marquardt, einen Klienten aus »dem Milieu«, nach dessen erfolgreicher Psychotherapie geschrieben habe. Carsten Stahl spricht mich an und kommt ohne Umschweife zur Sache: Sein Leben würde sich noch viel besser für eine Verfilmung eignen. Nach einem längeren Gespräch fragt er mich, ob ich mir vorstellen kann, gemeinsam mit ihm sein Leben aufzuschreiben. Drei Monate später treffen wir uns am Alexanderplatz in der Gaststätte »Berliner Marcus-Bräu«, und auch in unserem zweiten Gespräch redet Stahl ohne Punkt und Komma. Ihn treibt etwas um und an, eine ungeheure Energie steckt in diesem Riesen, der einen gewaltigen unsichtbaren Rucksack an Erfahrungen auf seinem breiten Rücken trägt. Hinter der beeindruckenden Statur verbirgt sich jedoch ein sensibler, nachdenklicher Mensch. Was er sagt, ist hochdifferenziert und hat Substanz. Neben dem, was er zu erzählen hat, ist das ein Grund mehr, dass ich dem Vorhaben zustimme.

2008 ist Stahl 35 Jahre alt und gehört zu den schillernden Figuren der Berlin-Neuköllner Unterwelt. Mit einem Status, den nur wenige in diesem Alter erreichen. Stahl hat Macht, Einfluss, er ist auf dem Weg, ein moderner Pate zu werden. Kein Wunder, dass sein plötzlicher Ausstieg die den Klatsch pflegende Unterwelt beschäftigt und die sonst allgegenwärtigen Dauerthemen Geld, Frauen und Autos von den vorderen Plätzen verdrängt. Die Gerüchteküche in dieser Parallelwelt zur »normalen« Gesellschaft brodelt. Stahl muss völlig durchgeknallt sein, einer wie der steigt nicht einfach so aus, wär ja blödsinnig, wär ja so, als ob der Monarch plötzlich abdankt und sich ins Privatleben zurückzieht. Und übrigens auch ein bisschen früh für so was. Aber vielleicht hat ihn auch die Kripo am Haken und handelt den üblichen Deal mit ihm aus. Weiß man doch. Eine Hand wäscht die andere: Insiderwissen gegen Knastverschonung. Stahl wäre nicht die erste Unterweltgröße, die wider Erwarten einknickt. In der ansonsten chronisch zerstrittenen Berliner Unterwelt herrscht über eines seltene Einmütigkeit, und die sorgt für ein brausendes Summen im Hornissennest. Die Angst geht um bei den starken Männern, die sonst vor nichts Angst haben. Packt Stahl aus übers Milieu, dann platzt eine Bombe!

Was keiner ahnt: Den charismatischen Mittdreißiger hat die eigene Vergangenheit eingeholt. Seine vor der Unterwelt von ihm abgeschirmte Freundin ist im vierten Monat schwanger, und da die Rivalitäten zwischen verfeindeten Gangs niemals Mann gegen Mann ausgetragen werden, fürchtet er um das Leben der werdenden Mutter und des gemeinsamen Kindes. Das ist keineswegs ungewöhnlich: Im Milieu zählen Familie und nahes Umfeld zu den sensiblen, verletzlichen Bereichen. Hat der Gegner einmal eine Schwachstelle ausgemacht, greift er an – und zwar hier. Stahl will Mutter und Kind aus seinen Geschäften heraushalten.

Stahls Plan ist Makulatur, als er auf Wunsch der werdenden Mutter zur Geburt seines Kindes anreist. Der Junge wird per Kaiserschnitt entbunden. Doch der Schrei, der Leben ankündigt, bleibt aus. Stahl ist außer sich, er befürchtet das Schlimmste. Als der Kinderarzt fachgerecht Schläuche in Mund und Nase des Kindes legt, ertönt der ersehnte Schrei. Endlich! Den Vater erfüllen Glücksgefühle, und als er den gewickelten Säugling im Arm hält, geschieht das Wunder, das er später den »magischen Moment« nennen wird. Er fühlt sich von ganzem Herzen verantwortlich für das Leben von Mutter und Kind.

Sein Entschluss steht fest, er muss raus aus der Unterwelt. Nicht morgen, nicht übermorgen oder in einem Jahr – jetzt gleich!

Die Entscheidung kommt nicht von ungefähr, es gibt eine Vorgeschichte. Seit über einem Jahrzehnt sitzt dem Mann ein Trauma im Nacken.

Mit 24 Jahren verliebt er sich in eine Frau, die er buchstäblich auf Händen trägt. Stahl ist fürsorglich und zugewandt wie alle Verliebten, führt aber ein Doppelleben. Seine Freundin hat keinen Anlass anzunehmen, dass hinter dem Mann mit dem Aussehen eines US-Action-Stars, der sich als Versicherungsvertreter mit gutem Einkommen einführt, ein anderer steckt. Sie fühlt sich aufgehoben und sicher, die beiden erleben eine glückliche Zeit. Für Stahl, der aus einer Arbeiterfamilie kommt, spielen traditionelle Werte eine wichtige Rolle. Die Familie stellt einen Schutzraum dar. Das heißt, wenn man noch so großen Mist gebaut haben sollte in der Welt draußen – hier wird man immer wieder aufgenommen. Der Wunsch, eine eigene Familie zu gründen, sitzt deshalb tief. Und als die geliebte Frau ihm mitteilt: »Du wirst Vater, ich bin im zweiten Monat schwanger«, ist seine Freude riesig. Der von Allmachtsfantasien getriebene Jungkriminelle will jetzt beides: Familie und ein Leben in der Unterwelt.

Im Milieu gibt es eine Regel, die unter den Männern von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. »Frauen kannst du haben wie Sand am Meer, aber verliebe dich nie. Liebe und Familie machen angreifbar.« Für Stahl ist das nur einer mehr von den Sprüchen, die die alten Herren in der Branche ablassen, wenn der Tag wieder mal lang ist. Liebe macht angreifbar – ja, ja. Der Spruch geht bei ihm zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Weit und breit sieht er keinen, der an seinem Stuhl sägt. Noch nicht einmal einen, der es mit ihm aufnehmen könnte. Dass ihn einige um seine Macht, das große Geld und die schönen Frauen beneiden, weiß er. Doch seine Gefährten stehen geschlossen hinter ihm. Er ist sicher, keiner von ihnen beansprucht seine Führungsrolle, als Anführer sitzt er fest im Sattel. Im Grunde hält er sich für unbesiegbar, und im Überschwang der Gefühle erzählt er dem besten Freund in der Gang: »In sechs Monaten werde ich Vater.«

Es geschieht das Grauenhafte, Undenkbare. Drei Männer locken die Schwangere, die mit Carsten lebt, in einen Hinterhalt. Sie vergewaltigen die junge wehrlose Frau, schlagen sie nieder und lassen sie hilflos zurück. Erkennen konnte sie keinen von ihnen, alle waren maskiert.

Der hinterhältige, heimtückische Überfall führt dazu, dass sie das Kind verliert. Er muss ihr nun sagen, wer er wirklich ist und womit er sein Geld verdient. Und dass allein er die Schuld daran trägt, dass sie zu Schaden gekommen ist.

Sie zieht sich für immer von dem geliebten Mann zurück. Mit einem Schlag hat Stahl das Liebste in seinem Leben verloren, seine Geliebte ist für ihr Leben gezeichnet und hat sich ihm entzogen. Er ist außer sich vor Schmerz. Ein Zustand, den der Überflieger, der Mann, der alles bekommt, was er will und begehrt, bislang nicht kennt. Langsam dämmert ihm, dass er wohl doch nicht der Größte ist, dass er verletzbar ist wie jeder andere auch. Doch anstatt der Spur nachzugehen, die zu dem Verräter in der Gang führt, dem er als Einzigem das Geheimnis anvertraut hatte, sucht er die Täter außerhalb des eigenen Umfeldes. Hätte ihm zu diesem Zeitpunkt jemand nahegelegt, er solle seinen besten Kumpel mal etwas genauer anschauen, er hätte bedenkenlos für ihn gebürgt. Der? Niemals, der ist mein Bruder!

Vor Jahren haben sie Blutsbrüderschaft geschlossen und einander geschworen: Wir gehen gemeinsam durch gute und schlechte Zeiten, wir stehen zusammen, wir fallen zusammen. Für Stahl ein bindender Schwur, vergleichbar mit einem religiösen Gelübde, dem sich ein Mensch ein Leben lang verbunden fühlt. Wie ernst er es damit meint, hat er mehrfach bewiesen, indem er ihn mehr als einmal aus dem Dreck zog: Ist der Bruder wieder mal besoffen oder vollgekokst und brüskiert mit seiner großen Fresse die halbe Unterwelt, boxt Stahl ihn mit bloßen Fäusten regelmäßig aus brandgefährlichen Situationen wieder raus. Gegenseitige Hilfe in der Not ist oberstes Gebot.

Die Männer um Stahl sind nach dem Prinzip »Einer für alle, alle für einen« organisiert. Füreinander-Einstehen ist Ehrensache. Oberhaupt ist der geistig Schnellste, der Ausgeschlafenste, der am besten mit den Fäusten umgehen kann. Keine Frage, in der Gang ist das eindeutig Stahl. Die anderen ordnen sich ihm bedingungslos unter. Zu glauben, das sei unverbrüchlich, ist ein folgenschwerer Irrtum, der zudem von Stahls immer selbstverliebterem Machtgetöse zugedeckt wird.

Hat er bislang sämtliche Konflikte innerhalb der Gang und nach außen mit einer Mischung aus überdurchschnittlicher Intelligenz und harten Fäusten gelöst, stochert er bei der Suche nach den Vergewaltigern der Geliebten im Nebel. Eine Sackgasse nach der anderen tut sich auf, er ist verzweifelt, immer öfter betäubt er sich mit Alkohol und harten Drogen. Im Rausch begegnen ihm grauenerregende Dämonen. Von weither hört er eine Kinderstimme rufen: »Papa, Papa!« Er muss nur die Ungeheuer besiegen, das ist seine große Hoffnung im Delirium des Schmerzes, dann ist der Weg frei und er kann sein Kind in die Arme schließen.

Regelmäßig wacht er schweißgebadet auf, meist irgendeine Frau neben sich, bei der er sich beim besten Willen nicht erinnert, wie sie in sein Bett gekommen ist, und der Katzenjammer beginnt von Neuem. Wieder betäubt er die bohrenden Gedanken und inneren Qualen mit noch mehr Schnaps, mit noch mehr Drogen, um nichts spüren zu müssen. Außer Heroin wirft er alles ein, was zu haben ist. Als das Dröhnen in seinem Schädel nicht mehr aufhören will, möchte er in seiner Hilflosigkeit am liebsten stundenlang wild um sich schlagen.

Nach einem halben Jahr weisen die Indizien für das unsägliche Verbrechen immer eindeutiger auf den Blutsbruder, doch der entzieht sich durch Flucht. Stahl kann nicht länger die Augen verschließen, er muss wieder aufwachen, handeln, ansonsten ist sein bereits angekratzter Ruf im Arsch. Der Angriff auf seine Familie und die anschließenden Alkohol- und Drogenexzesse haben einiges von seinem Glanz und dem Nimbus der Unverwundbarkeit genommen. Bei Licht besehen, das muss er sich nun eingestehen, hat er sich gegenüber der drohenden Gefahr aus den eigenen Reihen blauäugig wie ein Zwölfjähriger benommen. Es gibt ein Bild vor seinem inneren Auge, an dem sich seine ohnmächtige Wut immer wieder auflädt: Der Verräter lehnt sich entspannt im Sessel zurück und grinst sich eins, als sein Anführer am Telefon erschüttert berichtet: »Sie hat ja keinen erkennen können, die Schweine trugen doch Masken.« Carsten Stahl weint am Telefon.

Die Wahrheit hinter der Tat, das Warum einzusehen, ist bitter. Mit der stolzen Ankündigung, er werde Vater, wurde dem insgeheim von Neid zerfressenen Blutsbruder eine Waffe in die Hand gegeben: Das ist die Chance, den Bewunderten und Beneideten, den scheinbar Unverwundbaren, vom Thron zu stürzen. Und nicht nur das: Ich kann ihn schwächen, indem ich ihm das Liebste nehme, und ihn auf diese Weise so beschädigen, dass er nicht mehr auf die Füße kommt und im Ansehen bei seinen Mitstreitern und Rivalen fällt. Der kann ja nicht mal seine Familie beschützen. Dann habe ich ihn besiegt und nehme seine Position ein. Eine bessere Möglichkeit wird es nicht geben, sagt er sich und packt die Gelegenheit beim Schopf. Stahls geliebte Frau hat er siebenmal gesehen. Immer dann, wenn sein Chef ihm auftrug, ihn von der gemeinsamen Wohnung abzuholen. Diese junge Frau ist nicht nur bildschön, sie ist nicht wie die Mädels, die sich Stahl reihenweise an den Hals schmeißen. Von ihr verabschiedet er sich anders als von ihren Vorgängerinnen. Aufmerksamer, zärtlicher, respektvoller … weicher. Auch der Ton, den er ihr gegenüber anschlägt, ist neu, und noch etwas: Seit er sie kennt, gehen ihm andere Weibergeschichten völlig am Arsch vorbei. Wie jeder in der Gang behandelte er Frauen bislang als Beute, die man sich nach Lust und Laune nehmen kann. Danach wird über sie abgelästert, was das Zeug hält.

Der Blutsbruder muss Stahl auch immer wieder beobachtet haben, wie er mit Kindern umgeht. Ob Junge oder Mädchen, wo immer ihm Kinder begegnen, geht er auf sie zu und erkundigt sich freundlich und liebevoll, was Sache ist. Stahl ist nicht der einsame Wolf, das kalte Klan-Oberhaupt, er ist im Grunde ein zugewandter Familienmensch. Er hat zwei Seiten: auf der einen ist da der berechnende, kühl kalkulierende Machtmensch, auf der anderen der Romantiker, ein Gefühlvoller, der von Liebe und familiärer Geborgenheit träumt. Der Verräter erkennt: Das Einfallstor bei seinem Anführer ist die Familie, das Schützenswerteste. Und genau da setzt er an – eiskalt, gnadenlos.

Es wurmt Carsten Stahl bis heute, wie sehr er damals nach der Tat neben der Kappe stand. Dass sein Blutsbruder, dem er in allen Belangen – geistig und körperlich – haushoch überlegen war, den Dolch längst in der Jackentasche trug und er als Anführer nichts mitbekam, das nagt immer noch, das kann er sich nicht verzeihen. Offenbar erkannte er die Anzeichen nicht, weil er sie aus irgendeinem Grund nicht erkennen wollte. Sicher hatte das auch damit zu tun, dass er seine Gang für seine »heilige Familie« hielt, in der alle einvernehmlich fühlten und dachten wie er, wie in einem Wolfsrudel – unverbrüchlich treu. Hinzu kam, dass der Verräter nicht auf Augenhöhe war, er war nicht einmal mittelmäßig, ein Mann ohne Führungsqualitäten, schwach im Organisieren und Argumentieren. Ein ergebener Diener einer, der sprang, wenn man ihn rief. Ständig hatte er Ärger mit irgendwem, weil er den Stress regelrecht anzog. Letztlich untere Schublade. Die große Kränkung des »Unverwundbaren« bestand darin, dass so ein jämmerlicher Durchschnittstyp seinen Anführer besser durchschaute als der ihn. Wie Stahl es in der Nachschau auch dreht und wendet, eine gute Figur gab er damals nicht ab.

Der Rachefeldzug gegen den einstigen Freund und seine drei Handlanger bringt nur kurzzeitig Entlastung. Stahls Selbstwertgefühl rutscht immer tiefer in den Keller, die Wut auf sich und andere nimmt immer extremere Formen an. Sieht ihn einer länger an, oder Stahl bildet sich das auch nur ein, poliert er ihm ohne Vorwarnung die Fresse. Angemessen oder nicht, das spielt keine Rolle. Ihm geht’s ausschließlich darum, sich zu beweisen, dass die anderen vor ihm noch zittern. Er tut, was er inzwischen am besten kann: Furcht verbreiten. Alle ängstigen sich vor seinen unberechenbaren Wutanfällen, für seine Umgebung wird er zur tickenden Zeitbombe. Wagt jemand aus der Gang oder ein Bekannter aus der »normalen« Welt, ihn auf seinen desolaten Zustand hinzuweisen oder gar Ratschläge zu erteilen, bekommt er zu hören: »Wenn ich gehe, knallt’s!«

Stahl motzt im Vollrausch: »Mich kotzt alles an, nichts, wofür es sich lohnt zu leben, in dieser Scheißwelt ist sich doch jeder nur selbst der Nächste.« Wie ein kleiner Junge heult er Rotz und Wasser, gefangen in Schmerz und Selbstmitleid. »Ich bin das letzte Arschloch, ich bin gar nicht der Größte, für den ich gehalten werde. Nie wieder lasse ich einen Menschen so nah an mich ran.« Mehrmals will er Schluss machen. Den Finger am Abzug, lässt er den Revolver aber jedes Mal sinken und fühlt sich anschließend noch elender. Bis heute ist er nicht dahintergestiegen, was ihn davon abgehalten hat. Wahrscheinlich sein starker Überlebenstrieb, den er in diesen Momenten für Feigheit hielt.

In lichten Augenblicken erfasst er, dass der exzessive Drogenkonsum seine Gesundheit ruiniert. Und immer wieder: Die Schuld am ganzen Elend liegt letztlich bei ihm. Die Bilanz ist bestürzend: Kind tot, Frau weg, das Wichtigste, für das es sich zu leben lohnt, für immer verloren. Der verschämte Ansatz eines Gewissens meldet sich. Allerdings noch lange nicht mit der Klarheit von heute, bis dahin fließt noch viel Whiskey die Kehle runter. Im Ansatz begreift Stahl, dass die Verantwortung für das Unglück allein deshalb bei ihm liegt, weil er in der falschen Welt unterwegs ist, weil er ein Krimineller ist. Und dass er mit dieser Schuld leben muss, komme, was wolle. Mitunter denkt er schon mal, die grausame Lektion war nötig, um zu begreifen, worauf es im Leben ankommt. Wofür es sich lohnt zu leben.

Obwohl sich zunächst alles mehr als schwierig gestaltet, nehmen in den folgenden Jahren die Entscheidungsmöglichkeiten zu. Er hat die 30 überschritten, da fällt der Groschen. Luxusautos, Geld und Macht streicheln sein Ego, aber glücklich ist er nicht. Im Kopf spielt er immer öfter durch: Was wäre, wenn? Die Sehnsucht nach einer eigenen Familie wird immer stärker. Kinder müssen sein, sagt er sich, Kinder gehören nun mal zu einer richtigen Familie. Und um nicht noch mal das Gleiche wie mit Mitte 20 durchzumachen, muss er dafür sorgen, dass Mutter und Kinder rechtzeitig abgeschirmt werden. Andererseits: Was wäre das für ein Familienleben, wenn die wichtigsten Menschen, diejenigen, für die es sich lohnt zu leben, Hunderte Kilometer von Berlin entfernt untergebracht wären und er dort ab und zu mal als Gast auftauchen würde?!

Als 2007 die Lebensgefährtin schwanger wird, hält er sich diesen Weg noch offen. Er will sie erst einmal hinter der polnischen Grenze unterbringen und dann weitersehen. Doch dann passiert jener magische Moment. Als er seinen Sohn das erste Mal im Arm halten darf, sind sämtliche Eventualitäten schlagartig vergessen. Die Entscheidung, das Milieu hinter sich zu lassen, steht fest. Carsten Stahl befindet sich am Beginn eines neuen Lebensabschnittes, der aus ihm einen anderen Menschen machen wird.

Die ersten Jahre nach dem Ausstieg sind schwer. Stahl tut das, was er vordergründig am besten kann: Er arbeitet als Privatdetektiv, Personenschützer und Friedensschlichter. 2010 wird sein zweites Kind geboren – eine Tochter. Das Familienleben fordert Normalität und wird zum stabilen Geländer, an dem er den nötigen Halt findet, um nicht rückfällig zu werden. Ein Jahr später tritt König Zufall in sein Leben. Eine kleine Rolle beim Fernsehsender RTL II zieht ein Casting nach sich, das ihm den Weg zu einer Hauptrolle in der Serie »Privatdetektive im Einsatz« ebnet. Eine Pseudo-Doku-Soap für Kinder und Jugendliche, in der er den Chef einer Detektei spielen wird.

Nach wenigen Monaten beginnen die Dreharbeiten. In der ersten Folge stellt er sich mit markigen Sätzen vor: »Mein Name ist Carsten Stahl. Ich helfe den Menschen, die sich nicht selber helfen können. Und bei Gewalt gegen Frauen und Kinder kenne ich keinen Spaß.« Das Statement ist Programm und führt den Helden durch 289 Folgen, in denen sich in einer leicht überschaubaren Handlung Gut und Böse immer wieder unversöhnlich gegenüberstehen. Stahl bringt Folge für Folge die Bösen mit Herz, Verstand und seinen starken Fäusten zur Strecke und führt sie ihrer gerechten Strafe zu. Mit seiner authentischen kraftvollen Spielweise ist Stahl im Handumdrehen das Gesicht der Serie. Die vorwiegend jungen Zuschauer identifizieren sich mit ihrem Helden und beteiligen sich Tag für Tag an den Verbrecherjagden. Sie schwören auf Carsten Stahl. Nach nur wenigen Folgen ist die Serie unter Kindern und Jugendlichen Kult.

»Privatdetektive im Einsatz« erzielt hohe Einschaltquoten und wird zur Kultserie bis zum heutigen Tag. Die anschließend in den USA gedrehten sechs Actionfilme strahlt RTL II zur Primetime aus. Stahl vermutet, dass ihn etwa 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland kennen. Dabei dürfte er kaum übertreiben. Er ist der deutsche Actionstar der jungen Generation und zur Legende geworden. Hunderttausende Klicks auf YouTube belegen seine Beliebtheit. Ein kurzer Zusammenschnitt der besten Actionszenen aus »Privatdetektive im Einsatz« wird bei YouTube weit über eine Million Mal angeklickt. Die Kids können nicht genug bekommen, sie lieben und verehren ihn. Und auch die Erwachsenen schätzen ihn, Eltern bitten in Briefen Carsten Stahl um Hilfe.

Im zweiten Halbjahr 2013 brechen die zunehmenden Differenzen zwischen Stahl und dem Produzenten über die Fortsetzung der Serie auf. Stahl hält Themen und Dramaturgie für ausgereizt. Seiner Ansicht nach bewegen sich die immer nach dem gleichen Muster gestrickten Drehbücher auf der Stelle. Er verlangt bessere Bücher und mehr Mitbestimmung bei den Inhalten. Den Verantwortlichen stellt er das Konzept einer Aufklärungssendung für Kinder und Jugendliche vor, in der er seine Popularität nutzen will, um mit den Kids anhand seines eigenen Lebens über die wirklichen Gefahren und Fallen im Alltag zu diskutieren. Seine Bemühungen werden belächelt und stoßen auf offenkundige Ablehnung. Stahl ist nicht an der Produktion weiterer Staffeln interessiert.

Die letzten Originalfolgen laufen Anfang 2014. Bis heute wiederholt RTL II täglich Folgen der Serie und erreicht immer noch hohe Einschaltquoten. Verschiedene Folgen liefen bereits mehr als 50-mal. Bei Kindern und Jugendlichen gehört Carsten Stahl zu den bekanntesten Fernsehgesichtern Deutschlands.

In der Familie und im Bekanntenkreis stößt seine Entscheidung, aus dem Fernsehgeschäft auszusteigen, auf Unverständnis. Keiner sagt ihm ins Gesicht: »Geht’s dem Esel zu gut, tanzt er auf dem Eis.« Er spürt, sie denken so. Allein seine tiefgläubige Mutter macht ihm Mut: »Du hast den Abzug damals nicht gedrückt, weil Gott für dich eine Bestimmung hat. Du sollst Menschen nicht nur unterhalten, du sollst ihnen helfen.« Und Stahl setzt durch, was seine Mutter vorhersagt.

Nun beginnt, was der Begriff »Ochsentour« wohl am besten umschreibt und über zwei Jahre andauern wird. Wie Sauerbier bietet er Berliner Schuldirektoren an, mit Schülern vor dem Hintergrund seiner eigenen Vergangenheit über Gewalt im Alltag, Drogen, Diskriminierung und kriminelles Verhalten zu sprechen. Die meisten reagieren nicht auf seine Anfrage. Angebote, sich doch erst einmal anzusehen, was er zu bieten hat, landen im Papierkorb. Direktoren verbieten dem offensiv Auftretenden, den Fuß auf das Schulgelände zu setzen, und rufen die Polizei, wenn er auf der Straße mit Kindern, die nach dem Unterricht die Schule verlassen, ins Gespräch kommen will. Einige, die ihn dann zu einem Gespräch einladen, lassen allerdings durchblicken, das Risiko sei ihnen zu groß, einen Exkriminellen an ihre Schüler ranzulassen. Seine Popularität im Fernsehen hin oder her, was die Eltern ihren Kindern erlauben, sei deren Sache. Zwischen Wohn- und Klassenzimmer lägen nun mal Welten. Die Ablehnung wird größer, als ein Berliner Boulevardblatt ihm rüde Wildwestmethoden im Umgang mit Kindern und Jugendlichen vorwirft. Stahl lässt nicht locker und kann in mühevoller Überzeugungsarbeit couragierte Direktoren überzeugen, ihn in sogenannten Problemklassen versuchsweise einzusetzen.

Und es geschieht ein Wunder: Ohne sich in irgendeiner Form anzubiedern, gelingt es Stahl, in wenigen Minuten eine tragfähige Beziehung zu den Schülern herzustellen, und er analysiert mit ihnen gemeinsam die zuvor mit den Klassenlehrern abgestimmten Konfliktfälle. Stahl zielt direkt ins Herz, er spricht die in die Konflikte involvierten Schüler an, macht ihnen ihren Anteil am Problem deutlich und bietet Lösungsvorschläge. Das Erstaunliche für die anwesenden Klassenlehrer: Die Schüler sind bereit, sich mit dem Privatdetektiv, der ihnen durch das Fernsehen vertraut ist, auf Auseinandersetzungen einzulassen, die sie im Schulalltag und oftmals auch in der eigenen Familie verweigern.

In den Seminaren, die ich besuchte, diskutierte er vorwiegend über Gewalt und Mobbing gegenüber Schülern und Lehrern, Verführung durch schnelles Geld mit kriminellen Handlungen und Ignoranz gegenüber dem Lernen und der eigenen Zukunft. Immer wieder betont er, auch Kinder und Jugendliche haben Entscheidungsmöglichkeiten. Sehr oft haben sie von den Erwachsenen gehört, dass ihre Zukunft in ihren eigenen Händen liege. Stahl sagt im Grunde dasselbe, aber auf ihn reagieren sie anders. Er behandelt sie nicht als Erzieher, sondern auf Augenhöhe, und das ist die Chance, sie zu erreichen.

Denn wie er es sagt, lässt alle immer aufhorchen. In jeder der Schulklassen, die Carsten Stahl seither besucht hat, geht es so aufmerksam und intensiv zu, als würden sie gemeinsam mit dem großen, intelligenten Detektiv wichtige Fälle lösen.

Das Entscheidende: Es sind ihre Fälle! Und es sind die Kinder und Jugendlichen, die dabei erlöst werden – von ihren Traumata, Opfer zu sein oder auf die scheinbar fest zementierte Rolle des Täters festgelegt zu sein.

Sein stärkstes Argument, dem gegenüber sich dabei niemand verschließen kann, ist seine Geschichte.


Ein mitreißender Redner: Carsten im Einsatz.


Du Täter, du Opfer

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