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Die Kraft in mir

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Wie zwei Jahre zuvor, werde ich auch in den Sommerferien 1982 für ein paar Wochen auf einen Bauernhof zu einer Patenfamilie nach Holland verschickt. Ich habe keine Ahnung, dass in dieser Zeit in Spanien die Fußballweltmeisterschaft stattfindet. Sport ist nicht mein Ding, und Fußball schon gar nicht. Meine Gasteltern und sämtliche Nachbarn sind aber Fußballnarren und gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass ich in diesem Alter wie alle Jungen für ihren Sport brenne. Leider ist ihre eigene Nationalmannschaft in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft hängen geblieben, eine Katastrophe für das fußballbegeisterte Land. Von meiner Gastmutter, die ganz gut Deutsch spricht, bekomme ich den Hinweis: »Sprich das bloß nicht bei Vater an. Der bricht auf der Stelle in Tränen aus, die Schmach sitzt dermaßen tief.« Weltmeisterschaftsspiele werden in der Familie gemeinsam angeschaut, Entschuldigungen gibt es nicht. Die Abendbrotzeit wird dem Spielplan angepasst, und fünf Minuten vorm Anpfiff haben alle da zu sein. Die Familie sitzt geschlossen vorm Fernseher, und ich mittendrin. Das Wohnzimmer wird zum Fußballstadion. Mein Platz ist auf dem Sofa neben den Gasteltern, ihre Kinder sitzen auf Stühlen. Alle behandeln mich wie ein Familienmitglied, ich will nicht aus der Reihe tanzen und mache gute Miene zum Spiel. Das kann ja heiter werden. Die Sympathie der Familie ist mir wichtig, die will ich mir auf keinen Fall verscherzen. Ich vermute, halb Holland sitzt vor der Glotze.

Die Erwartungen sind hier sehr verschieden. Einer prophezeit, Brasilien wird zum vierten Mal Weltmeister, jemand meint, die Spanier haben große Chancen, die Mutter findet, Deutschland sei für eine Überraschung gut. Das sagt sie, denke ich, weil ich ein Deutscher bin. Mir ist egal, wer gewinnt. Ich wundere mich über die vielen Namen, die durchs Wohnzimmer schwirren, keinen einzigen davon kenne ich. Selbst aus der deutschen Mannschaft nicht. Obwohl alle über das Eröffnungsspiel reden, weiß ich immer noch nicht, wer in knapp fünf Minuten gegen wen spielt. Einen Schreck bekomme ich, als ich aufgefordert werde, meinen Tipp für das Spiel abzugeben. Ich kann nicht einfach sagen: »Bitte nicht fragen, ich habe kein bisschen Ahnung von Fußball.« Mein Glück ist, in diesem Moment betreten die Mannschaften den »heiligen Rasen«, und ich bin aus der peinlichen Nummer raus. Heiliger Rasen? Nie gehört. Den Begriff, den mein Gastvater in jedem zweiten Satz verwendet, erklärt mir die Mutter. Angeblich hat es was mit großem Respekt vor dem »runden Leder« zu tun. Ich bin nicht klüger als vorher.

Als die Nationalhymnen gespielt werden, mahnt das Familienoberhaupt Ruhe an. Mir fällt auf, von den Fußballern singen einige den Text laut, andere halten die Lippen geschlossen, manche summen die Melodie leise mit, der Rest schaut ziemlich grimmig drein. Ich drücke mich ans Couchkissen und warte, was da so kommt. Außerdem hoffe ich, dass mir keine weiteren Fragen gestellt werden.

Ich schwitze. Gar nicht so einfach für einen, den Fußball bisher nicht hinterm Ofen vorlocken konnte und der sein Desinteresse unter Kontrolle halten muss. Der Schiedsrichter wirft Geld in die Luft, fängt die Münze auf, schaut ganz genau drauf, und eine Mannschaft muss mit der Sonne im Rücken spielen, die andere mit der Sonne im Gesicht. Das Spiel wird angepfiffen, ich drücke mich noch fester ans Kissen – und los geht’s.

Nach dem dritten oder vierten Spiel, ganz genau erinnere ich mich nicht mehr, geschieht etwas, womit ich nicht im Traum gerechnet hätte. Ich langweile mich nicht mehr. Im Gegenteil, ich bin die ganzen 90 Minuten voll dabei. Mir imponiert, wie die Spieler den Ball über weite Strecken von links nach rechts und wieder zurück spielen und wie sich die Stürmer in der Hälfte des Gegners in Schussposition bringen und auf den Ball lauern. Bekommen sie ihn, führen sie ihn gekonnt am Fuß, schlagen einen Haken um einen Verteidiger, umspielen geschickt einen zweiten und dreschen das Leder mit voller Wucht aufs Tor. Zappelt er im Netz des Gegners, brüllen die Anhänger: »Tor! Tor!« Der Jubel will gar nicht enden. Im Stadion nicht und bei uns im Wohnzimmer auch nicht. Meine Gasteltern und ihre Kinder springen von den Sitzen und jubeln so verrückt wie die Fans im Stadion, wenn die Mannschaft ein Tor schießt, der sie die Daumen drücken. Zappelt der Ball in deren Tornetz, verdecken sie enttäuscht ihre Augen. Anscheinend macht Fußball allen großen Spaß: den Spielern auf dem Platz, den Zuschauern im Stadion und den Millionen Menschen vor den Fernsehern in den Wohnstuben auf der ganzen Welt.

Genau beobachte ich die Abläufe. Fällt ein Tor, stürzen sich die Spieler im gleichen Trikot auf den Torschützen und erdrücken ihn beinahe vor Freude. Die Spieler der Mannschaft, die das Tor geschluckt hat, lassen die Köpfe hängen und möchten am liebsten im Erdboden versinken. Doch kaum hat der Torwart den Ball aus dem Netz gefischt und mit der Hand oder dem Fuß ins Spielfeld zurückbefördert, sind alle 20 Feldspieler wieder voll dabei und die Bolzerei geht weiter.

Noch eins, und das verwundert mich am meisten: Mal abgesehen davon, dass ich die Regeln ganz schnell begreife – nach dem vierten oder fünften Spiel merke ich mir die Namen von einigen Spielern und aus welchem Land sie kommen. Ein kleines Wunder. Ich, der vor der Weltmeisterschaft keinen einzigen Namen eines Fußballers kannte! Paolo Rossi, bester Stürmer des Turniers, kommt aus Italien. Dino Zoff heißt der italienische Torwart, der angeblich nur schwer zu überwinden sein soll. Der Name könnte auch aus einem Comic sein. Zico, noch so ein seltsamer Name, kommt aus Brasilien, und mein Gastvater hält ihn für einen brandgefährlichen Wunderstürmer. Rossi, Zoff und Zico, die Namen sind mir mittlerweile so geläufig wie den anderen im Wohnzimmer. Auch drei deutsche Namen bleiben hängen: Karl-Heinz Rummenigge, Paul Breitner und Pierre Littbarski. Irgendwie kommen mir die deutschen Spieler schwerfälliger vor als die anderen, aber sie spielen effektiv. Das könnte auch ich sein, denke ich mir. Vielleicht in zehn Jahren? Jahrelang habe ich Matchbox-Autos hin und her geschoben, stundenlang mit den aktuellsten Hero-Puppen lebensgefährliche Situationen nachgestellt und mühselig Sandburgen aus dicker Pampe aufgebaut. Kaum war eine fertig, habe ich sie wieder zusammengeschoben und die nächste Burg in Angriff genommen. Meine holländischen Spielgefährten haben in dieser Zeit Fußballspiele mit ihren Eltern im Fernsehen oder im richtigen Stadion angeschaut.

Fußball ist viel, viel lebendiger und spannender, als allein zu spielen, da kann auch schon für einen kleinen Jungen die Post abgehen. Ich nehme mir vor, zurück in Deutschland selber Fußball zu spielen. Die Flamme lodert, ich will nicht so lange warten und fange noch in Holland an zu trainieren. Stundenlang renne ich hinterm Haus einem Plastikball nach, in der Nase den Geruch der Rieselfelder, die sich in der Nähe des Bauernhofes befinden. Ich kicke vor mich hin, spreche mit mir, als wäre ich mein eigener Trainer. Geduldig übe ich, was ich den Abend zuvor im Fernsehen aufgeschnappt habe. Mögen Außenstehende mein Gehampel albern finden, meine Gastfamilie ist stolz auf ihren fußballverrückten Feriengast aus Berlin.

Abend für Abend ist durch das offen stehende Wohnzimmerfenster zu hören, dass der Spaß bei den Bewohnern der Bauernhöfe nicht zu kurz kommt. Kein Hof in unserer Umgebung, in dem die Menschen sich nicht amüsieren. Ich werde immer lockerer, muss auch nicht mehr aufpassen, dass ich mich falsch verhalte, inzwischen bin ich selbst ein Fußballfan. Wohl noch kein richtiger, denn mir passiert etwas, was einem richtigen Fan nie passieren würde. Als in einem Spiel die gegnerische Mannschaft ein besonders schönes Tor schießt, springe ich vom Sofa und rufe: »Tor, Tor, was für ein Tor!« Diese Blicke … Alle sehen mich entsetzt an, als hätten sie einen Verräter in den eigenen Reihen. Mein Gastvater nimmt mich zur Seite und spricht von einem Anfängerfehler, weil man beim Fußball nur auf einer Seite sein könne. Es gebe nur Entweder-oder, unsere oder die anderen. Und da ich mich wie alle zu Beginn des Spiels gegen die anderen, also für »unsere« entschieden hätte, sei mein Torjubel ein Schlag ins eigene Gesicht gewesen. »Aber noch ist nicht aller Tage Abend«, tröstet mein Gastvater. »Wenn du selber mal in einer ordentlichen Mannschaft spielst, kommt das nie wieder vor.«

Ich will meine Gastgeber nicht verärgern und reiße mich an den nächsten Abenden zusammen. Doch im Inneren bleibe ich dabei: Das Salz in der Suppe sind Tore. Mir egal, wer die schießt. Dass im Endspiel die Deutschen gegen Italien nur ein Tor schießen und die Italiener drei, bringt mich keinesfalls aus dem Konzept. Für mich soll die Mannschaft Weltmeister werden, die im Endspiel die meisten Tore erzielt. Auch wenn es nicht meine Landsleute sind. Gewinnen sollen die Besten. So gesehen, bin ich kein richtiger Fan. Da ich das Endspiel schon am Fernseher in Berlin erlebe, bin ich fein raus. Hier kann ich alle Tore bejubeln.

Zurück in Neukölln, gehe ich nach zwei Tagen auf unseren Sportlehrer zu. »Herr Lehrer, ich will mitspielen!« »Bitte was?« Er ist verblüfft. »Na, Fußball, ich will mitspielen, Herr Lehrer!« Schon möglich, dass ich mich im Ton vergreife oder ihn auf dem falschen Fuß erwische, jedenfalls dreht er sich auf der Stelle um und lässt mich kurzerhand stehen. Die Jungs, die ich anhaue, reagieren im Grunde nicht anders, aber sie antworten wenigstens. Kurzes Innehalten, und dann kommt bei allen so ziemlich das Gleiche: »Oh Mann, du mitspielen? Du hast doch noch nie mitgespielt, auch wenn mal einer krank war«, und weg sind sie. Ich lasse mich nicht abschütteln, weder vom Sportlehrer noch von den Kumpels, ich bin wie eine Klette. Bei jedem Training bin ich anwesend, schmeiße mich voll ins Zeug und überzeuge mit Hartnäckigkeit.

Gut vier Wochen später werde ich das erste Mal bei einem Spiel eingewechselt. Zwei Dinge stechen allen ins Auge. Meine Schüsse haben Bums, fliegen weit, und von meinem Körpereinsatz beim Tackling sind alle beeindruckt. Ich kann voll zufrieden sein, für den Anfang finde ich mich gut. Dafür, dass ich bis vor zwei Monaten noch nicht einmal einen richtigen Ball aus Leder in der Hand hatte, finde ich mich sogar sehr gut.

Ab und an werde ich noch in meiner Schulklasse für mein Aussehen verarscht. Zu klein, zu unbeholfen, immer noch zu viel Babyspeck auf den Rippen. Ihr könnt mich mal, denke ich und stecke die Hänseleien locker weg. Schön ist es nicht, doch es stört mich nicht wirklich. Ich bin eben der, der ich bin. Anders sieht’s mit den Kommentaren beim Training aus. »He, Moppel, schieß rüber, du lahme Ente!« oder »Komm endlich aus’m Arsch, du nasser Sack!« stören mich schon. Diese Frotzeleien lassen mich nicht kalt. Weil was dran ist und ich tief im Inneren nicht so sein möchte. Ich verschließe die Augen nicht länger vor mir selber, zwinge mich, genauer hinzusehen, und was ich entdecke, ist gar nicht so gut. Vieles ist verbesserungswürdig. Alle Jungs spielen beweglicher, drängen zügiger nach vorn, die meisten denken sogar komplette Spielzüge im Voraus und finden den Anspielpartner, der am günstigsten steht. Blitzschnell legen sie ihm den Ball vor, und er vollendet. Ergibt sich eine neue Spielsituation – der Gegner schläft ja nicht –, stellen sie sich im Handumdrehen darauf ein und disponieren neu. Im Vergleich dazu sehe ich wirklich verdammt alt aus. Zugespitzt gesagt, ich bolze immer noch dumpf drauflos wie ein Anfänger und überschätze meine Fähigkeiten gewaltig.

Mich wurmt, wie stark ich als Fußballer gegenüber meinen Mitspielern abfalle. Je schonungsloser ich mich beobachte und mit ihnen vergleiche, umso deutlicher treten die Unterschiede zutage. Neu ist jedoch, dass ich mit mir selber ins Gericht gehe und mir nicht mehr ausweiche. Denn ich habe begriffen: Wenn meine Schwächen mich wirklich stören und ich nichts dagegen unternehme, werde ich immer unzufriedener und darf mich nicht wundern, wenn ich demnächst hochkant aus der Mannschaft fliege.

»Will ich das?«, frage ich mich auf dem Heimweg mitten auf dem Bürgersteig ziemlich laut und gebe mir die Antwort gleich selber: »Nein, will ich nicht, auf gar keinen Fall! Ich will Fußball spielen, guten Fußball – am besten sehr guten!«

Der kleene Knirps hat se doch nich alle im Oberstübchen, müssen die Leute denken, die das hören. Quakt mit sich selber, und das mitten auf der Straße.

Na und, sollen sie doch, mir egal. Ich brauche Klarheit, ich habe nämlich noch sehr viel vor. Ich will machen, nicht nur reden!


Rote Haare, Sommersprossen – für Carstens Mitschüler eine Einladung für ständige Hänseleien.

Mein Ehrgeiz wächst. Zu Hause und in der Schule wurde mir das Wort immer wieder um die Ohren gehauen. Jetzt fühle ich, was gemeint ist, und es verpufft nicht gleich wieder. Bisher lebte ich in den Tag hinein – irgendwie so lala, weil ich wenig bis gar nichts von mir erwartete. Nun vergleiche ich mich mit anderen, und prompt gerate ich in Bewegung. Ich komme zu dem Schluss – allerdings bislang nur auf dem Fußballplatz –, so kann’s nicht weitergehen.

Ich lerne, kupfere ab, was das Zeug hält, und ziehe mir alles rein, was mich in meiner unmittelbaren Umgebung anspricht. Vergleichen verlangt genaues Hinsehen und kann verdammt wehtun. Ich sage mir: Von nichts kommt nichts – also ran an den Speck. Beweg endlich deinen Arsch, Carsten!

Wenn das Fernsehen Fußball bringt, betrachte ich jedes Spiel wie durch eine Lupe. Sitze ich allein vor der Glotze, kommentiere ich die besten Spielzüge wie ein Sportreporter. Entdecke ich eine spielerische Raffinesse, die ich für mich übernehmen könnte, fixiere ich die Situation, drehe und wende sie vor meinem inneren Auge und spiele sie im Kopf immer wieder durch. Im Training biete ich sie meinen Mitspielern an, und nach dem fünften oder sechsten Anlauf habe ich den Trick dann voll drauf. Aktiver Fernsehfußball sozusagen.

Auf welcher Position unser Sportlehrer mich auch einsetzt, ich stehe meinen Mann und verbessere mich von Spiel zu Spiel. Die Hänseleien lassen deutlich nach. Meine Leistungssteigerung verschafft mir Respekt. Ich bin auf dem besten Weg, mir Anerkennung zu verschaffen.

Täglich spiele ich Fußball. Auf richtigen Fußballplätzen, auf den kahlen Flächen zwischen den Häusern, die die Bomben im Zweiten Weltkrieg hinterlassen haben, und auf Neuköllner Straßen, wo »Schnittlauchs« uns ständig ins Handwerk pfuschen und vertreiben. So nennen wir die Berliner Bullen wegen ihrer grünen Uniformen. Entscheidend ist: Die Begeisterung, die ich aus Holland mitbringe, verpufft nicht wie ein Strohfeuer. Die Fußballweltmeisterschaft 1982 wird zum Ausgangspunkt für meine bis heute anhaltende Liebe zum Sport. Ohne wäre mein Leben ärmer; niemals wäre ich so leistungsfähig geworden, wie ich bin. Ich kann sagen, der Sport hat mich über die Jahre grundlegend verändert. Allerdings nicht nur zum Guten, denn die enorme Kraft, die ich aufbaute, setzte ich später ein, um Menschen einzuschüchtern und zu drangsalieren.

Im Kino sehe ich »Rocky« und finde meinen Helden. Mir ist, als würde er um die Ecke wohnen, nur eine Straße weiter. Ich will sein wie er und nehme mir vor, ab jetzt kämpfe ich um meine Ehre wie Sylvester Stallone als Rocky. Zwischen zehn und elf Jahren lege ich ein paar Längenzentimeter zu. An einer Wand in unserer Wohnung bringe ich ein Kissen an, auf das ich einprügele wie ein Besessener. Mein privater Boxstall. Ich stelle mir vor, im Kissen hockt mein ärgster Feind. Der, der mich vor Monaten in die Baugrube gestoßen hat.

Haben die Rabauken mich letztes Jahr »erst« zwei Wochen nach Schulbeginn verprügelt, vergehen dieses Jahr vier, bevor ich wieder dran bin. Insgeheim hoffe ich, die jagen schon einen anderen. Allerdings habe ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und sie sind noch rücksichtsloser, noch brutaler. Ich bin am Verzweifeln. Mein erster Impuls ist, mich wieder zu verkriechen. Auf dem Klo hinter der Sporthalle, das ist abgelegen. Mir fällt auch mein Versteck unter der Kellertreppe ein. Aber am liebsten würde ich mich in den nächsten Zug nach Holland setzen. Oder nach Bayern fahren, wo wir jedes Jahr unseren Familienurlaub verbringen.

Jeden Abend rede ich vorm Einschlafen im Stillen mit Rocky. Darüber, dass ich schon wieder gequält werde, kommt jedoch kein einziges Wort über meine Lippen. Mein Held würde mich doch für einen Feigling halten. Stark werden wie Rocky, das nehme ich mir jetzt fest vor.

Ich versuche, mit meinem Trainer ins Gespräch zu kommen, doch der versteht Bahnhof und wendet sich genervt einem anderen zu. Schule schwänzen traue ich mich nicht noch mal. Meine Eltern hatten mit dem Klassenlehrer abgesprochen, dass sie umgehend informiert werden, sobald ich nicht in der Schule auftauche. Inzwischen habe ich mich aber mit einem gleichaltrigen Jungen angefreundet. Wir haben einen Teil des Schulweges gemeinsam.

An einem Nachmittag beginnt das Katz-und-Maus-Spiel nach Schulschluss wie gehabt, endet aber dieses Mal völlig unerwartet. Die Hatz führt in ein ehemaliges Industriegelände. Mein Kumpel und ich verschanzen uns in einem leeren Schuppen, über den statt eines Dachs ein Maschendraht gespannt ist. Wie es scheint, hat sich die Vierergruppe geteilt, denn vor uns tauchen nur zwei Jungs auf: mein größter Feind, der mich in die Grube stieß, und ein anderer, den ich nicht kenne. Mir kommt Rocky in den Sinn: »Was hinter mir liegt, will ich nicht mehr, mein Blick geht nach vorn.« Keine Ahnung, wie das Stahlrohr in meine Hand kommt, ob der Zufall seine Hand im Spiel hat oder das Schicksal, jedenfalls schlage ich gnadenlos zu mit dem Rohr. Als ginge es um mein Leben. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie in der Bibel geschrieben steht.

Wäre dieses Rohr nicht so lang gewesen und beim zweiten Ausholen nicht vom Maschendraht gebremst worden, hätte ich meinem Feind den Schädel einschlagen. Das Schwein hat’s verdient, geht mir durch den Kopf, mit dem muss ich kein Mitleid haben. Ich will ihn nicht töten, das hätte Rocky auch nicht getan, aber einen ordentlichen Denkzettel, der sich gewaschen hat, den braucht er. Was dann passiert, ist ein Trauerspiel für meinen Feind. Humpelnd rennt er mit seinem Kumpel auf und davon. Zwei oder drei Mal dreht er sich ängstlich um und ist froh, dass ich nicht hinter ihm her bin. Für mich ist es ein großer Triumph, mein erster Sieg überhaupt. Das Gefühl vergesse ich nie.

Auf dem Weg nach Hause wird mir einigermaßen klar, was eben passiert ist. Wie mein Held habe ich den alles entscheidenden Sieg errungen, der in die Zukunft weist. Darüber spreche ich an diesem Abend vorm Einschlafen in aller Ausführlichkeit mit Rocky.

Das ganze Ausmaß des Geschehens erfasse ich erst einige Wochen später, als ich meinen Feind das erste Mal nach dem Kampf wiedersehe. Bis dahin verpisste er sich, sobald er mich nur von Weitem sah. Nun glotze ich wie gebannt auf die blassrote Narbe in seinem Gesicht und weiß endgültig, ich kann es auch hinkriegen. Mich durchsetzen und mir Respekt verschaffen, das braucht Kraft. Da ich nicht ständig mit einem Rohr durch die Gegend laufen kann, dresche ich zu Hause noch wilder auf das Trainingskissen an der Wand ein.

So werde ich immer rabiater und gewalttätiger. Auch meinen älteren Brüdern gegenüber, selbst gegen meinen Vater. Kurze Nackenschläge, üblich unter Brüdern, treiben mich schon zur Weißglut. »Fasst mich nicht an!«, brülle ich und muss mich total zusammenreißen, um nicht voll auszurasten. Verpasst Vater mir ab und zu eine Kopfnuss oder eine kleine Ohrfeige, gehe ich ab wie eine Rakete. Ich bin sofort in Habachtstellung, wenn jemand ein paar Zentimeter seine Hand anhebt und in meine Richtung hält. Könnte ein Angreifer sein.

Generell gilt – und das sage ich immer, wenn ich heute im Rahmen meiner Antimobbing-Kampagne mit Eltern rede: Wird ein Kind über längere Zeit gedemütigt und geschlagen, muss es Schmerzen aushalten. Es zerbricht. Oder es lernt, sich zu wehren. Zunächst schlägt es nur zurück, doch mit jedem Sieg wächst die Verführung anzugreifen. Bis das Kind daran Gefallen findet. Eine Art Dauerkränkung verhindert jegliche Schuldgefühle. Eingebrannt hat sich: Man hat es mir angetan, und keiner hat mir damals geholfen, also kann ich es auch anderen antun. Unabhängig davon, ob es um physische oder seelische Gewalt geht, es ist und bleibt ein Teufelskreis der Gewalt.

Ist man einmal zum Täter geworden, leitet man aus dem eigenen Opferdasein das Recht ab, selber auszuteilen. Ich sage den Eltern: »Hört genau hin! Ihr habt zwei oder drei Situationen, in denen eure Kinder was andeuten. Spielt ihr alles runter oder sagt das Falsche: ›Was, du lässt dich verprügeln? Du bist doch ein Junge!‹ Oder: ›Wir reden morgen darüber, wenn ich Zeit habe‹, dann kommen sie nicht noch einmal.« Das Gleiche trifft natürlich für Lehrer zu.

Meine Eltern lösen das Problem auf ihre Weise. Sie beschließen: weg aus Neukölln, wir ziehen mit unserem Jüngsten nach Bayern. In den Ort, in dem die Familie seit Jahren ihren Urlaub verbringt. Vaters angegriffene Lunge ist eine gute Möglichkeit, dem Umzug eine andere Überschrift zu geben.

Du Täter, du Opfer

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