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»Unser Carsten kriegt seine Tollwut!«

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Dass ich im Buddelkasten mit meinem Sandschippchen rücksichtslos zugeschlagen habe, ist in meiner Familie der Dauerbrenner und wird an Geburtstagen oder anderen Feierlichkeiten immer wieder ausgegraben. Im zarten Alter von vier Jahren neigte ich angeblich dazu, alles mit Gewalt zu regeln. Tatsache ist, schon als Kleinkind stieg unbändige Wut in mir auf, sobald ich mich ungerecht behandelt fühlte. Das ist bis heute so, und vor allem Mutter, aber auch Vater und meine Geschwister, können wahrlich ein Lied davon singen.

Ich bin also ungefähr vier, als Mutter zum ersten Mal auf dem Spielplatz erlebt, wie ich einem drei Jahre älteren Jungen, der neben mir spielt, mein Sandschippchen ins Gesicht schlage. Er blökt los wie ein Schaf, das geschoren werden soll, und die am Rande quasselnden Frauen schreien plötzlich hektisch durcheinander. Die Mutter des anderen Jungen ist außer sich, er blutet aus der Nase. Alle fordern, wir sollen augenblicklich verschwinden und uns nie wieder auf dem Spielplatz blicken lassen. Meine Mutter ist in Erklärungsnot, denn als es geschieht, redet sie gerade mit den anderen Frauen und hat mich in diesem Moment nicht im Auge. Es scheint, als hätte ich den wildfremden Jungen aus heiterem Himmel schwer verletzt. Da Mutter aber erst zu mir schaut, als der Junge aufschreit, muss sie glauben, was eine von den Frauen behauptet: Sie habe genau gesehen, dass ich aus dem Nichts heraus dem Opfer das Schippchen voll übergezogen habe. Alle einigen sich auf ein Spielplatzverbot, zum Schutz aller Kinder auf dem Platz, wie sie mehrmals beteuern, aber auch zu meinem Schutz. Letztlich wollen sie noch Schlimmeres verhindern.


Erste Schritte mit dem Vater.

So hat es sich aber nicht verhalten. Es hat nur keiner gesehen. Der Junge hat vorher einfach meine mühselig aufgebaute Sandburg hinterlistig zerstört. Stück für Stück, und so geschickt, dass die am Rande des Spielplatzes miteinander redenden Mütter davon nichts mitbekamen. Es war wirklich so. Ich hatte ihn mehrmals gewarnt. »Du bist frech.« »Hör auf damit!« »Lass das bitte!« Blinde Wut steigt erst in mir auf, als er alle Bitten und Warnungen in den Wind schlägt und eifrig weiterwütet, dabei hochrot im Gesicht und hinterhältig grinsend. Hätte ich sofort losgeplärrt, wäre Mutter schlagartig aufmerksam geworden und ganz bestimmt dazwischengegangen. So baut sich das Unglück schrittweise auf, denn ich will den Konflikt auf friedliche Weise lösen – mit Worten. Und ich will meine Mutter nicht stören, die sich freut, mit anderen zu reden. Der Junge macht wie besessen weiter. Bis ich die Schnauze voll habe und zuschlage. Ich kann nicht anders.

Ein andermal – aus dem Spielplatzverbot ist nichts geworden, denn man hat Gnade vor Recht ergehen lassen – stelle ich meine zerbrechlichen Spielsoldaten Reihe für Reihe zu einer schlagkräftigen Schlachtformation auf und überlege mir die Taktik, nach der ich beide Armeen gegeneinander kämpfen lasse. Ich bin völlig vertieft in mein Spiel. Wer greift wann und wo als Erster an? Ist der Nachschub abgesichert? Wie groß müssen die Verluste sein, bis ich eine Seite zum Verlierer ausrufen kann? Da bemerke ich, wie der links von mir spielende Junge einen meiner Soldaten mit einem hinterlistigen Stups umkippt. »Hör auf, lass das!«, sage ich ihm, »ich will allein spielen.« Meine Bitte schert ihn nicht die Bohne, und er kickt mit einem schadenfrohen Grinsen den zweiten Soldaten in den Sand. Ich warne ihn noch einmal, etwas energischer – nützt auch nichts. Als er den nächsten ins Visier nimmt, ist Mutter zur Stelle, denn nach dem Vorfall mit dem Schippchen lässt sie mich auf dem Spielplatz nicht mehr aus den Augen. Sie muss bemerkt haben, dass ich den Störenfried mit diesem Blick fixiere, den sie mittlerweile kennt und fürchtet. Meine Augen verfinstern sich, sagt sie, der Blick wird stechend und kündet drohendes Unheil an. Die anderen in der Familie wissen genau, was sie meint, denn so soll ich zu Hause auch stieren, wenn ich glaube, wieder mal ungerecht behandelt zu werden. Halb ernst, halb ironisch fügt sie hinzu: »Unser Carsten kriegt seine Tollwut.«


Als die Welt noch in Ordnung war.

Auch diesen Jungen habe ich gewarnt. Ich bin niemals auf ein fremdes Kind losgegangen. Einfach so, um sein Spielzeug zu klauen oder kaputt zu machen, das kam für mich nicht infrage. Ich wollte nur in Ruhe spielen. Mir fiel im Buddelkasten auch nicht ein, eine andere Sandburg zu zerstören oder irgendwelche Figuren umzukippen. Ich spielte für mich und wollte dabei für mich sein. Mutter wusste das und benutzte es als Argument, wenn ich aufgefallen bin. »Mein Kind ist der friedlichste Junge der Welt, solange man ihn in seinem Spiel nicht reizt oder eingreift. Erst dann flippt er aus.«

Beim Abendbrot informiert sie die Familie über den Zwischenfall auf dem Spielplatz. Dass ich meine Tollwut hatte und sie im letzten Moment Schlimmeres verhindern konnte. Dann wendet sie sich mir zu. »Mein Junge, wenn du dich nicht in den Griff bekommst, hast du die längste Zeit Sandburgen gebaut und kannst deine Armeen im Keller aufeinander ballern lassen. Dann ist Schluss mit der Buddelei. Wer nicht hören kann, muss eben fühlen. Ich erwarte, dass du umgehend zu mir kommst, sobald ein Störenfried dich reizt. Ich bin deine Mutter und helfe dir. Nimm endlich Vernunft an. Du stürzt dich und die ganze Familie mit deiner Wut ins Unglück.« Nachdenklich hängt sie einen Satz dran, den ich zum ersten Mal höre: »Ich glaube, die Leitung bis zum Ausbruch der Tollwut ist kürzer geworden.«


Kurz vor Einschulung – der »Ernst des Lebens« beginnt.

Schon im Vorschulalter will ich meine Probleme allein regeln. Eine Eigenschaft, die bis heute mein Leben bestimmt, und Menschen, die mir nahestehen, an den Rand der Verzweiflung bringen kann.

An Hänseleien bin ich gewöhnt. Ich habe Sommersprossen und Haare, die mehr ins Rötliche als ins Braune gehen. Für mein Alter bin ich recht klein und ziemlich pummelig. Das scheint für andere Kinder ein Grund zu sein, mich hänseln zu dürfen. Das ist nicht angenehm, aber ich kann damit leben. Doch was gegen Ende des dritten Schuljahres einsetzt, geht weit über das Gewohnte hinaus. Ich muss Älteren aus den oberen Klassen aufgefallen sein, denn auf dem Schulweg werde ich des Öfteren geärgert. Fünf Jungen, alle wesentlich älter als ich, durchweg einen Kopf größer und kräftiger, kreisen mich ein, schubsen und boxen mich, lassen blöde Sprüche vom Stapel und zocken mich ab. Sie kassieren mein Schulbrot, den Apfel und das bisschen Geld, das ich für alle Fälle in meinem kleinen Portemonnaie habe – und weg sind sie. Ich bin machtlos. Mehrmals wechsle ich den Schulweg. Vergebens, mindestens einmal die Woche fangen sie mich ab. Und es geht weiter mit Bespuckt-Werden, Schubsen, Boxen und Abziehen.

Mit meinen kurzen Beinen renne ich regelmäßig weg. Mal kann ich mich verstecken und bleibe unentdeckt, das nächste Mal spüren sie mich auf, und ich bin wieder dran und bettle: »Hört bitte auf, lasst mich, ich habe euch doch nichts getan!« Kein Erbarmen, mein Flehen macht sie nur aggressiver. Und rücke ich nicht raus, worauf sie es absehen, setzt es einen Fausthieb ins Gesicht. Halte ich die Hände vors Gesicht, treten sie mir in den Bauch, will ich den schützen, trifft mich ein gezielter Hieb auf »die Zwölf«, wie sie mein Gesicht nennen. Das läuft so an die vier Monate, bis zu dem Tag, an dem sich alles zuspitzt.

Ich bin wieder mal am Wegrennen. Durch offene Hauseingänge, dann springe ich über eine niedrige Mauer, watschele wie eine Ente geduckt über einen stinkenden Müllplatz und lande in einer Sackgasse – vor mir eine Baugrube, umgeben von Plastikbändern, die Menschen davon abhalten sollen, in die tiefe Grube zu stürzen. Ein letzter Blick nach einem Ausweg – es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Die Jungs stehen vor mir. Den Rücken zur Grube, jammere und bettle ich: »Bitte, bitte nicht!« – wie immer umsonst. Mein ärgster Feind, er ist an die 15, verpasst mir einen heftigen Stoß vor die Brust. Ich kippe nach hinten, rückwärts in das Loch, etwa drei Meter tief, und kann nicht mal schreien, mein Mund ist voller Blut. Ich muss mir auf die Zunge gebissen haben. Oben lacht einer, die anderen fallen ein ins Gelächter, und plötzlich plätschert etwas auf mein Gesicht. Pisse, lauwarme Pisse! Alle pissen auf mich! Ich will mich zur Seite drehen, geht aber nicht, um mich herum wird es dunkel.


Ein Besuch in der Vergangenheit: Carstens Versteck.

Hundegebell weckt mich, mir tun sämtliche Knochen weh. Es ist dunkel, ich muss wohl stundenlang in diesem Loch gelegen haben. Zwei Männer bugsieren mich nach oben. Nicht lange, und ein Krankenwagen fährt vor. Ich hätte auf Rohre fallen können, auf Steine oder Metallspieße, mir das Genick brechen, die Wirbelsäule oder sonst was. Heute, wo ich weiß, welche Folgen ein schweres Kindheitstrauma für das Leben eines Menschen haben kann, darf ich mich über manche meiner Macken nicht wundern, denn ähnliche Situationen wie die in der Baugrube habe ich mehrere durchgestanden. Noch heute habe ich das grinsende Gesicht meines Feindes vor mir, wenn ich plötzlich vor einer abgesperrten Baugrube stehe. Ich spüre die Hilflosigkeit, Angst kriecht mir den Rücken hoch.

Die Fragen meiner besorgten Eltern beantworte ich mit Ausflüchten, gebe konfuses Zeugs von mir. »Ich habe dort gespielt, muss aber abgerutscht sein …« Ich bin nicht erreichbar, niemand dringt zu mir durch. Die Jungs haben mir mit Tritten und Schlägen eingebläut: »Wehe, du sagst auch nur ein Wort! Wir rächen uns an deiner Familie. Deiner Mutter und deiner Schwester schneiden wir die Kehle durch, wenn du petzt.« Ich glaube ihnen aufs Wort. Noch ist frisch, was ich in der Grube durchgemacht habe. Eines weiß ich: Die sind zum Äußersten fähig. Ich bin zehn Jahre alt, voller Misstrauen, mein Selbstwertgefühl ist quasi nicht vorhanden, es ist regelrecht rausgedroschen.

Danach ist eine Weile Ruhe. Ich denke schon, die bin ich für immer los, da setzt die Scheiße wieder ein. Und wieder schaffe ich es nicht, mich meinen Eltern anzuvertrauen, auch den Weg zu den Lehrern finde ich nicht. Am liebsten würde ich mir einen Tunnel bis hin zur Schule graben. Nach außen tue ich, als wäre alles in bester Ordnung. Wie gewohnt. In meinem Kopf höre ich Stimmen miteinander reden. Das Beste, sagt eine, du bringst dich um. Tut auch nicht weh, sagt eine andere. Die dritte meint, deine Familie wird ganz bestimmt traurig sein. Ich lasse das mit dem Umbringen und verabschiede mich Montagfrüh um dieselbe Zeit, zu der ich jeden Montag zur Schule gehe. Statt in die Schule schleiche ich klammheimlich in den Keller und kauere dort stundenlang unter der Kellertreppe, bis die letzte Unterrichtsstunde zu Ende ist. Dann stehe ich auf, schüttele die vom Hinkauern steifen Beine und tappe vorsichtig die Treppe hoch. Oben vergewissere ich mich, dass die Luft rein ist, und klingle an unserer Wohnungstür. Mutter empfängt mich: »Na, wie war’s heute?«, ich antworte kurz und knapp: »Wie immer«, setze mich nervös an den Küchentisch und warte, dass Mutter mir das Mittagessen hinstellt.

Draußen rumlaufen oder stundenlang ohne Ticket mit der S-Bahn hin und her gondeln, das wäre wohl stressiger geworden. Wir sind eine große Familie, uns kennt man in der Umgebung. Garantiert hätten sie Mutter informiert, wenn ich während der Unterrichtszeit gesehen worden wäre. Am nächsten Morgen schleiche ich wieder in den Keller. In der Tasche eine leichte Decke und eine Taschenlampe zum Lesen der Comics, um mir die Langeweile zu vertreiben. Die Decke brauche ich, da ich nicht stundenlang auf dem rohen Steinboden hocken kann. Schulbrote und was zu trinken habe ich dabei. Zwischendurch schlafe ich auch mal kurz ein.

Das geht so eine ganze Woche gut, am Montag drauf platzt die Bombe. Am Telefon ist jemand von der Schule, was ich ja nicht mitbekomme, denn ich hocke unter der Kellertreppe. Eigentlich hatte ich schon Freitag damit gerechnet, denn eine Entschuldigung für meine Abwesenheit liegt nicht vor, und meine älteren Geschwister können sie nicht fragen, die gehen auf andere Schulen oder sind schon fertig damit.

Als ich Montagmittag zur üblichen Zeit vor der Wohnungstür stehe, bin ich völlig durchgeschwitzt. In meinem Versteck kann ich mir nicht vorstellen, dass die Schule nichts unternimmt. Ich fühle mich hundeelend, und auf Mutters Frage: »Na, wie war die Schule?«, murmele ich leise vor mich hin: »Na, wie immer.« Im Hintergrund taucht Vater auf, und nun weiß ich, was die Stunde geschlagen hat. »Diese verdammte Lügerei, und mitten ins Gesicht«, brüllt er los. Mutter geht dazwischen und will wissen, warum und weshalb ich die Schule schwänze. Sie ist ebenfalls ratlos, aber anders als Vater.

Und wieder lasse ich die Gelegenheit verstreichen, reinen Tisch zu machen. Ich lasse mich anschreien und nicke ab, was sie mir vorwerfen. Kein Bock auf Schule, bist ein Rumtreiber, wie deine Eltern leiden, interessiert dich wohl überhaupt nicht, diese Schande! Ich zittere vor Angst. Hätte ich gesagt, ich will euch doch nur vor dem Schlimmsten bewahren, sie hätten mir den Vogel gezeigt und mich für verrückt erklärt. Die anderthalb Monate Stubenarrest sind für mich leichter zu verkraften als die Angst um Mutter und Schwester.

Am nächsten Tag werde ich in die Schule gebracht, und als die Typen nach Schulende mitbekommen, dass ich nicht abgeholt werde, passen sie mich wieder ab und wiederholen ihre Drohungen. Nach wenigen Tagen bin ich wieder dran, und alles läuft wie gehabt. Ich gerate immer tiefer in den Strudel des Opferseins und der Demütigungen – aus Sorge um meine Familie –, und ich kann mich nicht daraus befreien.

Du Täter, du Opfer

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