Читать книгу City of Fallen Angels - Cassandra Clare - Страница 7
Оглавление2 Freier Fall
»Und, wie ist deine Verabredung mit Isabelle gelaufen? Gut?«, fragte Clary, das Mobiltelefon ans Ohr geklemmt, während sie sich vorsichtig von einem Sparren zum nächsten bewegte. Die langen, schweren Holzbalken befanden sich in luftiger Höhe im Dachstuhl des Instituts, wo der Fechtsaal untergebracht war. Das Balancieren auf den Balken diente dem Gleichgewichtstraining – und Clary hasste es. Ihre Höhenangst machte die ganze Angelegenheit zu einem Albtraum, trotz des elastischen Seils um ihre Taille, das sie daran hindern sollte, bei einem Sturz auf den Boden aufzuschlagen. »Hast du ihr inzwischen von Maia erzählt?«, hakte sie nach.
Simon brachte ein leichtes, unverbindliches Räuspern hervor, das Clary eindeutig als ein »Nein« identifizierte. Im Hintergrund hörte sie Musik; sie konnte Simon förmlich vor sich sehen, wie er auf dem Bett lag, während die Stereoanlage leise vor sich hin dudelte. Er klang erschöpft – jene Sorte abgrundtiefer Erschöpfung, die den heiteren Tonfall in seiner Stimme Lügen strafte. Am Anfang des Gesprächs hatte Clary ihn mehrfach gefragt, ob alles in Ordnung sei, aber er hatte ihre Besorgnis einfach weggewischt.
Jetzt schnaubte sie verächtlich. »Du spielst mit dem Feuer, Simon. Ich hoffe, das ist dir klar.«
»Keine Ahnung. Meinst du wirklich, das Ganze ist so ein Riesenproblem?« Simon klang schwermütig. »Schließlich hab ich weder mit Isabelle noch mit Maia jemals darüber gesprochen, dass wir uns nicht auch mit anderen verabreden dürfen.«
»Ich will dir mal was über Mädchen verraten.« Vorsichtig ließ Clary sich auf einem der Balken nieder und ließ die Beine baumeln. Durch die geöffneten, halbrunden Bogenfenster strömte frische Nachtluft herein und strich kühlend über ihre verschwitzte Haut. Clary hatte immer angenommen, die Schattenjäger würden in ihrer robusten, lederartigen Kampfmontur trainieren, aber wie sich herausstellte, war diese Kleidung dem fortgeschrittenen Trainingsprogramm vorbehalten, das auch den Einsatz von Waffen vorsah. Für die Sorte von Übungen, die sie im Augenblick absolvierte und die ihre Beweglichkeit, Schnelligkeit und Balance verbessern sollten, trug sie lediglich ein leichtes Trägertop und eine dünne Tunnelzughose, die sie an Krankenpflegerkleidung erinnerte. »Selbst wenn ihr nicht ausdrücklich vereinbart habt, euch mit niemand anderem zu verabreden, werden Isabelle und Maia trotzdem stocksauer sein, wenn sie herausfinden, dass du dich mit einem anderen Mädchen triffst, aber nichts davon erzählt hast – vor allem, wo die beiden sich auch noch kennen. Das ist eine ganz wichtige Beziehungsregel.«
»Ah ja? Und woher soll ich diese Regel kennen?«
»Jeder kennt diese Regel.«
»Ich dachte, du wärst auf meiner Seite.«
»Ich bin auf deiner Seite!«
»Und warum kannst du dann nicht ein bisschen mehr Mitgefühl aufbringen?«
Clary klemmte das Handy gegen das andere Ohr und spähte hinab in die Schatten unter ihr. Wo steckte Jace? Er war nur kurz verschwunden, um ein anderes Seil zu holen, und wollte in fünf Minuten zurück sein. Natürlich würde er sie umbringen, wenn er sie dabei erwischte, wie sie in dieser Höhe telefonierte. Normalerweise war er nicht für ihr Training zuständig; diese Aufgabe übernahmen in der Regel Maryse, Kadir oder irgendeines der anderen Mitglieder der New Yorker Division, die als Vertretung einsprangen, bis ein Ersatz für den früheren Tutor des Instituts, Hodge Starkweather, gefunden war. Aber wenn Jace in die Rolle ihres Trainers schlüpfte, nahm er seine Aufgabe sehr ernst.
»Weil deine Probleme keine echten Probleme sind«, erwiderte Clary nun. »Du verabredest dich gleichzeitig mit zwei hübschen Mädchen. Denk mal darüber nach. Das sind eher… eher Rockstar-Probleme.«
»Rockstar-Probleme sind wahrscheinlich das Einzige, das mich auch nur in die Nähe eines richtigen Rockstar-Daseins bringt.«
»Niemand hat euch aufgefordert, eure Band Salacious Mold zu nennen.«
»Wir heißen inzwischen Millennium Lint«, protestierte Simon.
»Hör zu, Simon, klär diese Angelegenheit einfach. Wenn beide Mädchen denken, dass sie dich offiziell zu der Hochzeit begleiten, und dann während der Feier herausfinden, dass du dich mit beiden gleichzeitig triffst, werden sie dich umbringen.« Vorsichtig stand Clary auf. »Und das wird den Hochzeitstag meiner Mutter ruinieren und dann bringt sie dich um. Somit bist du dann doppelt tot. Oder dreifach, genau genommen…«
»Ich habe weder der einen noch der anderen versprochen, mit ihr zur Hochzeit zu gehen!«, rief Simon panikerfüllt.
»Ja schon, aber sie erwarten es von dir. Genau deshalb wollen Mädchen schließlich einen festen Freund: damit sie jemanden haben, der sie zu langweiligen Feiern und Veranstaltungen begleitet.« Clary balancierte zum Ende des Balkens und schaute hinab in die Schatten unter ihr, die nur schwach von Elbenlicht erhellt wurden. Auf dem Boden war ein mit Kreide aufgemalter Übungskreis zu erkennen, der sie an das Schwarze in einer Dartscheibe erinnerte. »Wie auch immer, ich jedenfalls muss jetzt irgendwie von diesem Balken herunterspringen und werde mir dabei wahrscheinlich das Genick brechen. Wir reden morgen weiter.«
»Ich hab morgen um zwei Probe. Schon vergessen? Wir sehen uns dann dort.«
»Okay.« Clary legte auf und schob sich das Handy in den BH. Die leichten Trainingsklamotten besaßen keine Taschen, also was blieb ihr anderes übrig?
»Und, willst du die ganze Nacht da oben bleiben?«, fragte Jace, trat in die Mitte des Kreidekreises und schaute zu ihr hoch. Im Gegensatz zu Clary trug er seine schwarze Kampfmontur, von der sich seine hellen Haare deutlich abhoben. Seit dem Ende des Sommers waren die blonden Locken etwas nachgedunkelt und schimmerten nun in einem warmen Goldton statt wie vorher weizenblond – was ihm in Clarys Augen noch besser stand. Die Tatsache, dass sie ihn inzwischen lange genug kannte, um selbst kleine Veränderungen seines Erscheinungsbildes zu bemerken, machte sie einfach wahnsinnig glücklich.
»Ich dachte, du wolltest hier raufkommen«, rief sie nach unten. »Hast du umdisponiert?«
»Ist ’ne lange Geschichte«, erwiderte Jace grinsend. »Und, was ist jetzt? Willst du einen Salto üben?«
Clary seufzte. Saltoübungen zu machen, bedeutete, dass sie sich vom Balken in die Tiefe stürzte und dann am elastischen Sicherungsseils hängend trainierte, sich von den Wänden abzudrücken, um die eigene Achse zu drehen und gleichzeitig Tritte auszuteilen, ohne auch nur einen Gedanken an den harten Boden und blaue Flecken zu verschwenden. Sie hatte Jace dabei beobachtet – und er sah immer aus wie ein fallender Engel, der mit wundervoller, tänzerischer Anmut durch die Luft wirbelte. Sie selbst dagegen kugelte sich wie ein Kartoffelkäfer zusammen, sobald der Boden näher kam, und es machte nicht den geringsten Unterschied, dass sie genau wusste, dass das Seil sie rechtzeitig auffangen würde.
Allmählich fragte sie sich, ob es überhaupt noch eine Rolle spielte, dass sie eigentlich als Nephilim geboren war. Vielleicht war es für sie ja zu spät, um sich noch zu einer vollwertigen – oder zumindest zu einer halbwegs funktionstüchtigen – Schattenjägerin zu entwickeln. Oder möglicherweise waren die besonderen Gaben des Erzengels zwischen Jace und ihr irgendwie ungleichmäßig verteilt worden, sodass er sämtliche körperliche Anmut erhalten hatte und sie… na ja, jedenfalls nicht besonders viel davon.
»Komm schon, Clary«, rief Jace. »Spring!«
Clary schloss die Augen und sprang. Einen Moment lang fühlte sie sich, als würde sie frei in der Luft schweben, doch dann hatte die Schwerkraft sie wieder fest im Griff und sie sackte wie ein Stein nach unten. Instinktiv zog sie Arme und Beine ein und kniff die Augen fest zusammen. Das Seil straffte sich und sie federte zurück in Richtung Gebälk, ehe sie erneut hinabsauste. Als ihre Geschwindigkeit allmählich nachließ, öffnete sie die Augen und stellte dann fest, dass sie etwa eineinhalb Meter oberhalb von Jace in der Luft baumelte.
»Na super«, sagte er grinsend. »Anmutig wie eine Schneeflocke.«
»Hab ich geschrien?«, fragte Clary, aufrichtig neugierig. »Du weißt schon… auf dem Weg nach unten.«
Jace nickte. »Glücklicherweise ist keiner von den anderen zu Hause, weil sie nämlich sonst angenommen hätten, ich würde dich umbringen.«
»Ha! Du kommst ja noch nicht mal an mich heran.« Clary trat mit einem Fuß in seine Richtung und drehte sich träge am Seilende.
Jace’ Augen funkelten. »Willst du wetten?«
Clary kannte diesen Gesichtsausdruck. »Nein… nicht«, setzte sie rasch an, »lass das lieber…«
Aber es war bereits zu spät: Jace hatte es schon getan. Seine Reaktionen waren so schnell, dass man die einzelnen Bewegungen kaum sehen konnte. Clary nahm nur wahr, dass seine Hand zu seinem Gürtel griff, und dann blitzte auch schon etwas in der Luft auf. Im nächsten Moment hörte sie, wie das Seil über ihr riss, und sie stürzte in freiem Fall in die Tiefe, zu überrascht, um laut aufzuschreien – und landete direkt in Jace’ Armen. Die Wucht des Aufpralls ließ ihn rückwärtstaumeln und sie krachten gemeinsam auf eine der dicken Turnmatten, Clary mitten auf ihm.
Breit grinsend schaute er zu ihr hoch. »Na, das war doch schon viel besser«, bemerkte er süffisant. »Du hast überhaupt nicht geschrien.«
»Dazu hatte ich auch keine Gelegenheit«, erwiderte Clary atemlos – nicht nur wegen des Aufpralls. Die Tatsache, dass sie mit gespreizten Armen und Beinen auf Jace lag und seinen Körper dicht an ihrem spürte, ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie hatte angenommen, dass seine körperliche Anziehungskraft – ihre gegenseitige körperliche Anziehungskraft – im Laufe der Zeit nachlassen würde, aber das war nicht passiert. Im Gegenteil: Je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, umso schlimmer war es geworden. Oder besser – je nachdem, wie man es betrachtete, überlegte Clary.
Jace musterte sie aus seinen dunkelgoldbraunen Augen und Clary fragte sich, ob deren Farbe wohl noch intensiver geworden war nach seiner Begegnung mit dem Erzengel Raziel am Ufer des Lyn-Sees in Idris. Schließlich konnte sie sonst niemanden danach fragen: Obwohl allen bekannt war, dass Valentin den Engel herbeigerufen hatte und Raziel Jace von den Wunden geheilt hatte, die Valentin ihm zugefügt hatte, wusste niemand außer Clary und Jace, dass Valentin mehr getan hatte, als seinen Stiefsohn einfach nur zu verletzen: Er hatte ihm im Laufe der Beschwörungszeremonie eine Klinge ins Herz gerammt – und Jace in seinen Armen sterben lassen. Erst auf Clarys Bitte hin hatte Raziel Jace von den Toten erweckt. Das ungeheure Ausmaß dieser Handlung erschütterte Clary noch immer bis ins Mark und sie nahm an, dass es Jace nicht anders erging. Sie hatten vereinbart, niemandem zu erzählen, dass Jace tatsächlich tot gewesen war, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Es war ihr Geheimnis.
Jace streckte eine Hand aus und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Das war nur ein Scherz«, sagte er. »Du bist gar nicht mal so schlecht. Irgendwann kriegst du den Dreh noch raus. Du hättest mal Alec bei seinen ersten Salti sehen sollen. Ich glaube, einmal hat er sich sogar selbst gegen den Kopf getreten.«
»Kann sein, aber damals war er wahrscheinlich erst elf«, erwiderte Clary und betrachtete Jace. »Aber du bist bei diesem ganzen Zeugs vermutlich schon immer sensationell gewesen, oder?«
»Ich bin sensationell zur Welt gekommen«, grinste Jace und strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange. Obwohl es nur eine ganz leichte Berührung war, jagte sie Clary einen Schauer durch den Körper, wie ein elektrischer Stromstoß. Seine Bemerkung kommentierte sie nicht – schließlich hatte er nur einen Scherz gemacht –, aber in gewisser Hinsicht lag auch ein Körnchen Wahrheit darin: Jace war zu Höherem geboren. »Wie lange kannst du heute bleiben?«, fragte er.
Clary schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Sind wir denn mit dem Training fertig?«
»Ich denke, dass wir den Teil, der unbedingt erforderlich ist, absolviert haben. Allerdings gibt es da noch ein paar Dinge, die ich gern mit dir üben würde…« Er streckte die Arme nach ihr aus, um sie zu sich herabzuziehen, doch im selben Moment flog die Tür auf und Isabelle kam hereinstolziert. Die spitzen Absätze ihrer hohen Stiefel klackten laut auf dem gebohnerten Holzboden.
Als sie Jace und Clary auf der Turnmatte entdeckte, zog sie eine Augenbraue hoch. »Ah, wieder am Rumknutschen. Ich dachte, ihr wolltet trainieren.«
»Niemand hat dich aufgefordert, ohne anzuklopfen, hier hereinzuplatzen, Izzy.« Jace rührte sich nicht von der Stelle und drehte lediglich den Kopf zur Seite, um Isabelle mit einer Mischung aus Verdruss und Zuneigung zu mustern. Clary dagegen rappelte sich rasch auf und strich ihre verknitterte Kleidung glatt.
»Das hier ist der Fechtsaal. Also ein öffentlicher Raum«, bemerkte Isabelle und zog sich einen ihrer leuchtend roten Samthandschuhe von den Fingern. »Die hab ich mir gerade bei Trash and Vaudeville gekauft. War ein Sonderangebot. Sind sie nicht einfach hinreißend? Will man da nicht sofort auch welche?« Isabelle wedelte lockend in Richtung der beiden.
»Na, ich weiß nicht recht«, sagte Jace. »Ich fürchte, sie würden farblich nicht zu meiner Montur passen.«
Isabelle schnitt ihm eine Grimasse. »Hast du schon von dem toten Schattenjäger gehört, den man in Brooklyn gefunden hat? Sein Leichnam war total übel zugerichtet, daher weiß man noch nicht, um wen es sich handelt. Ich vermute, dass Mom deswegen eben aufgebrochen ist.«
»Ja«, bestätigte Jace und setzte sich auf. »Sie ist zu einer Ratssitzung. Ich bin ihr auf dem Weg nach draußen begegnet.«
»Das hast du mir gar nicht erzählt«, warf Clary ein. »War das der Grund, warum es so lange gedauert hat, bis du mit dem Seil zurückgekehrt bist?«
Jace nickte. »Tut mir leid. Aber ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.«
»Soll heißen, er wollte die romantische Stimmung nicht verderben«, erklärte Isabelle und biss sich dann auf die Lippe. »Ich hoffe nur, dass es niemand ist, den wir kennen.«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Der Leichnam war in irgendeiner verlassenen Fabrik abgeladen worden – und zwar schon vor einigen Tagen. Wenn es irgendjemand aus unserem Bekanntenkreis gewesen wäre, hätten wir sein Verschwinden längst bemerkt.« Jace schob sich die Haare hinter die Ohren. Clary fiel auf, dass er Isabelle mit einem leicht ungeduldigen Blick betrachtete – so als wäre er verärgert, dass sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. Sie wünschte, er hätte ihr davon erzählt, selbst wenn das die romantische Stimmung tatsächlich verdorben hätte. Viele Aspekte seiner Arbeit – der Arbeit aller Schattenjäger – brachten ihn immer wieder in engen Kontakt mit der harten Realität von Leben und Tod. Alle Mitglieder der Familie Lightwood trauerten noch immer, jeder auf seine eigene Weise, um den jüngsten Sohn Max, der hatte sterben müssen, weil er schlichtweg zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Das Ganze erschien Clary irgendwie seltsam: Zwar hatte Jace ihre Entscheidung, die Schule zu verlassen und ihre Ausbildung zur Schattenjägerin zu beginnen, ohne jedes Murren akzeptiert, aber er scheute sich, mit ihr über die Gefahren eines Schattenjäger-Daseins zu reden.
»Ich zieh mich mal um«, verkündete Clary nun und marschierte zu der Tür, die in den kleinen Umkleidebereich neben dem Fechtsaal führte – ein schlichter Raum mit hellen, holzverkleideten Wänden, einem Spiegel, einer Dusche und mehreren Kleiderhaken. Ein Stapel Handtücher lag ordentlich gefaltet auf einer Holzbank in der Nähe der Tür. Clary sprang rasch unter die Dusche, trocknete sich kurz ab und streifte dann ihre normale Straßenkleidung über: Strumpfhose, Stiefel, Jeansrock und einen neuen rosafarbenen Pullover. Beim Blick in den Spiegel entdeckte sie eine Laufmasche in ihrer Strumpfhose und stellte fest, dass ihre feuchten roten Locken sich wie immer wild und ungezähmt kringelten. Sie würde wohl niemals so perfekt gestylt aussehen wie Isabelle, aber Jace schien das nicht zu kümmern.
Als sie schließlich in den Fechtsaal zurückkehrte, hatten Isabelle und Jace sich einem anderen Gesprächsthema zugewandt, das Jace offensichtlich noch grauenerregender fand als die Nachricht von dem toten Nephilim: Isabelles Verabredung mit Simon.
»Ich kann nicht glauben, dass er dich tatsächlich in ein Restaurant eingeladen hat«, bemerkte Jace, während er die Turnmatten und die Übungsausrüstung forträumte. Isabelle lehnte an der Wand und spielte mit ihren neuen Handschuhen. »Ich hätte gedacht, seine Vorstellung von einem Date bestünde darin, dich bei einer Runde World of Warcraft mit seinen Nerd-Freunden zuschauen zu lassen.«
»He, ich bin auch einer seiner Nerd-Freunde! Schönen Dank auch!«, protestierte Clary.
Jace grinste breit in ihre Richtung.
»Es war eigentlich kein Restaurant. Eher eine Art Bistro. Wo es so eine pinkfarbene Suppe gab, die ich Simons Meinung nach unbedingt probieren sollte«, sagte Isabelle nachdenklich. »Er war wirklich sehr süß.«
Clary hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie Isabelle noch nichts von Maia erzählt hatte. »Er meinte, ihr hättet euch gut amüsiert.«
Isabelle warf ihr einen kurzen Blick zu. Irgendein merkwürdiger Ausdruck lag in ihren Augen, als würde sie etwas verbergen, doch dann entspannte sich ihre Miene derart schnell, dass Clary sich nicht sicher war, ob sie sich das nicht eingebildet hatte. »Du hast mit ihm gesprochen?«, fragte Isabelle.
»Ja, er hat mich vor ein paar Minuten angerufen. Einfach nur, um sich kurz zu melden«, erklärte Clary achselzuckend.
»Verstehe«, bemerkte Isabelle, plötzlich mit einem schroffen, kühlen Ton in der Stimme. »Nun ja, wie ich bereits sagte: Er ist sehr süß. Aber möglicherweise auch ein wenig zu süß. Und das kann echt langweilig sein.« Sie stopfte die Handschuhe in ihre Manteltasche. »Na jedenfalls ist das zwischen uns nichts Ernstes… eher ein Zeitvertreib bis auf Weiteres.«
Clarys Schuldgefühle verschwanden schlagartig. »Habt ihr eigentlich mal darüber gesprochen, dass ihr euch… na, du weißt schon… dass ihr euch nicht noch mit anderen verabredet?«
Isabelle zog eine entsetzte Miene. »Selbstverständlich nicht.« Dann gähnte sie und dehnte und streckte die Arme wie eine Katze bis weit über den Kopf. »Okay, ich geh ins Bett. Macht’s gut, ihr Turteltäubchen.« Damit rauschte sie aus dem Fechtsaal und hinterließ eine schwere, nach Jasmin duftende Parfümwolke.
Jace warf Clary einen Blick zu. Er hatte in der Zwischenzeit damit begonnen, seine Kampfmontur abzulegen, die wie ein Schutzschild über seiner normalen Kleidung saß und mit mehreren Schnallen befestigt war. »Du musst vermutlich auch nach Hause?«, fragte er.
Clary nickte widerstrebend. Es war ein zäher, harter Kampf gewesen, ihrer Mutter das Einverständnis zu ihrer Schattenjägerausbildung abzuringen. Jocelyn hatte sich lange standhaft geweigert, mit dem Argument, sie hätte ihr ganzes Leben versucht, Clary von der Schattenjägerkultur fernzuhalten, die sie als höchst gefährlich betrachtete – nicht nur von Gewalt geprägt, sondern auch in die Isolation treibend und grausam. Vor knapp einem Jahr hätte Clarys Entscheidung für die Ausbildung zur Schattenjägerin noch bedeutet, dass sie kein Wort mehr mit ihrer Mutter hätte wechseln dürfen, hatte Jocelyn weiter argumentiert. Und Clary hatte dagegengehalten: Die Tatsache, dass der Rat derartige Vorschriften zeitweilig außer Kraft gesetzt hatte, während die neue Kongregation die alten Gesetze genauer unter die Lupe nahm, bedeutete doch, dass sich die Schattenjägergemeinschaft seit Jocelyns Teenagerzeit geändert hatte. Und außerdem musste Clary schließlich lernen, sich selbst zu verteidigen.
»Ich hoffe, du machst das Ganze nicht nur wegen Jace«, hatte Jocelyn abschließend säuerlich bemerkt. »Ich weiß, wie es ist, sich in jemanden zu verknallen. Man möchte ständig in seiner Nähe sein und alles tun, was er auch tut. Aber Clary…«
»Ich bin nicht du«, hatte Clary mit mühsam unterdrückter Wut gekontert. »Die Schattenjäger sind nicht der Kreis und Jace ist nicht Valentin.«
»Ich habe Valentin mit keinem Wort erwähnt.«
»Aber du hast es gedacht«, hatte Clary gesagt. »Mag ja sein, dass Valentin Jace aufgezogen hat, aber Jace ist kein bisschen wie er.«
»Das kann ich nur hoffen«, hatte Jocelyn leise erwidert. »Für uns alle.« Irgendwann hatte sie nachgegeben, allerdings unter folgenden Bedingungen:
Clary durfte nicht ins Institut ziehen, sondern musste mit ihrer Mutter bei Luke wohnen, und Jocelyn erhielt von Maryse wöchentliche Berichte über Clarys Lernfortschritte (wahrscheinlich wollte ihre Mutter sich vergewissern, dass Clary nicht nur die ganze Zeit Jace anschmachtete – oder was immer sie sonst befürchtete).
Außerdem durfte Clary nicht im Institut übernachten; in diesem Punkt kannte Jocelyn kein Pardon. »Du schläfst nicht in dem Haus, in dem dein fester Freund wohnt«, hatte sie mit resoluter Stimme gefordert. »Und es ist mir egal, ob es sich dabei um das Institut handelt. Unter keinen Umständen.«
Fester Freund. Das Wort jagte ihr noch immer einen wohligen Schauer über den Rücken. Schließlich hatte es sehr lange danach ausgesehen, dass Jace niemals ihr fester Freund sein konnte und dass sie niemals mehr als Bruder und Schwester füreinander sein durften. Diese Vorstellung war so hart und schrecklich, dass sie beide zu dem Schluss gekommen waren, es sei besser, einander überhaupt nicht mehr zu sehen. Aber das wäre einem langsamen Tod gleichgekommen. Doch dann hatte sich das Blatt wie durch ein Wunder gewendet und sie waren von allen Fesseln befreit worden. Seit diesem Tag waren sechs Wochen vergangen, aber Clary hatte sich an dem Begriff noch immer nicht sattgehört.
»Ich muss nach Hause«, sagte sie nun. »Es ist schon kurz vor elf und meine Mom flippt jedes Mal aus, wenn ich nach zehn noch hier bin.«
»Okay.« Jace legte die obere Hälfte seiner Montur auf die Holzbank. Darunter trug er ein dünnes T-Shirt, durch dessen Gewebe Clary seine schwarzen Runenmale erkennen konnte, wie Tusche, die durch feuchtes Papier dringt. »Ich bring dich zur Tür«, fügte er hinzu.
Das Gebäude lag still und schweigend da, während sie die leeren Gänge durchquerten. Im Moment waren keine fremden Schattenjäger aus anderen Städten im Institut zu Gast. Robert, Isabelles und Alecs Vater, befand sich in Idris, um bei der Bildung der neuen Kongregation zu helfen; und da Hodge und Max für immer von ihnen gegangen waren und Alec mit Magnus im Ausland weilte, hatte Clary das Gefühl, als würden sich die verbliebenen Bewohner wie Gäste in einem fast leeren Hotel bewegen. Sie wünschte, andere Mitglieder der New Yorker Division würden öfter zu Besuch vorbeischauen, aber vermutlich wollten alle den Lightwoods etwas Zeit für sich gönnen: Zeit, um um Max zu trauern, und Zeit, um zu vergessen.
»Hast du mal was von Alec und Magnus gehört?«, fragte Clary. »Amüsieren sie sich gut?«
»Sieht ganz so aus.« Jace holte sein Handy aus der Hosentasche und reichte es Clary. »Alec schickt mir ständig nervige Fotos. Mit jeder Menge Untertiteln wie Schade, dass du nicht hier bist… andererseits aber auch nicht.«
»Na ja, das kannst du ihm ja wohl kaum zum Vorwurf machen. Schließlich ist das Ganze als romantische Reise zu zweit gedacht.« Rasch scrollte Clary durch die Bilder auf Jace’ Mobiltelefon und musste kichern. Alec und Magnus vor dem Eiffelturm: Alec wie üblich in Jeans und T-Shirt und Magnus in einer dunklen Lederhose, einem blau-weiß gestreiften Fischerpullover und mit einer aberwitzigen Baskenmütze auf dem Kopf. Auch im Florentiner Boboli-Garten spazierte Alec noch immer in Jeans und T-Shirt herum, während Magnus sich ein riesiges venezianisches Cape übergeworfen hatte und dazu einen breiten Gondoliere-Hut trug. Er sah aus wie das Phantom der Oper. Vor dem Prado präsentierte er sich in einer glitzernden Torero-Jacke und mit hohen Plateau-Stiefeln, während Alec im Hintergrund in aller Ruhe eine Taube fütterte.
»Ich nehm dir das jetzt weg, ehe du zu den Fotos aus Indien kommst«, meinte Jace und steckte sein Handy wieder ein. »Magnus in einem Sari… Es gibt Dinge, die man sein Leben lang nicht mehr vergisst.«
Clary lachte. Inzwischen standen sie vor dem Aufzug, der sofort seine klapprige Tür öffnete, als Jace auf den Knopf drückte. Jace folgte Clary in die Kabine – und in dem Moment, in dem sich das Gefährt ruckartig in Bewegung setzte und Clarys Magen wie üblich einen Satz machte, zog er sie dicht an sich heran. Im dämmrigen Schein der schwachen Beleuchtung legte sie ihm die Hände auf die Brust, spürte die harte Muskulatur unter seinem T-Shirt und den schnellen Rhythmus seines Herzschlags. Seine Augen funkelten.
»Tut mir leid, dass ich nicht bleiben kann«, wisperte sie.
»Das muss dir nicht leidtun.« Der raue Unterton in seiner Stimme überraschte sie. »Jocelyn will nicht, dass du so wirst wie ich. Und das kann ich ihr nicht verübeln.«
»Jace«, setzte Clary an, ein wenig bestürzt von der Bitterkeit in seiner Stimme, »ist alles in Ordnung?«
Statt einer Antwort küsste er sie und zog sie noch fester an sich. Sein Körper presste ihren gegen die Aufzugswand, sodass das Metall des Spiegels kalt gegen ihren Rücken drückte. Dann umfassten seine Hände ihre Taille und schoben sich unter ihren Pullover. Clary liebte die Art und Weise, wie er sie hielt. Behutsam, aber nicht zu sanft… nicht so sanft, dass sie jemals das Gefühl bekam, er hätte sich besser im Griff als sie selbst. Denn weder Jace noch sie konnten ihre Gefühle füreinander kontrollieren, und das gefiel ihr. Und es gefiel ihr auch, wie sein Herz aufgeregt gegen ihres wummerte und wie er leise gegen ihre geöffneten Lippen murmelte, sobald sie seinen Kuss erwiderte.
Ruckelnd kam der Aufzug zum Stehen und die Tür schwang auf. Durch das Gitter konnte Clary das leere Mittelschiff der Kathedrale erkennen, das von einer Reihe brennender Kerzen in Metallständern erhellt wurde. Schweigend hielt Clary sich einen Moment an Jace fest, dankbar, dass das schwache Licht im Aufzug verhinderte, dass sie ihr eigenes glühendes Gesicht im Spiegel sah.
»Vielleicht kann ich ja doch bleiben«, flüsterte sie schließlich. »Wenigstens noch ein kleines bisschen länger.«
Jace schwieg. Clary konnte die Anspannung seines Körpers spüren und verkrampfte sich ebenfalls. Dies war mehr als nur körperliche Erregtheit: Jace bebte förmlich. Er zitterte am ganzen Körper, als er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub.
»Jace«, setzte Clary erneut an.
In dem Moment gab er sie plötzlich frei und trat einen Schritt zurück. Seine Wangen glühten und seine Augen funkelten fiebrig. »Nein«, stieß er hervor, »ich will deiner Mutter nicht noch mehr Gründe liefern, mich zu hassen. Sie hält mich sowieso schon für eine Inkarnation meines Vaters…«
Er verstummte, bevor Clary widersprechen konnte: Valentin war nicht dein Vater. Normalerweise achtete Jace sorgfältig darauf, Valentin Morgenstern immer bei seinem Namen zu nennen und ihn nie als »mein Vater« zu bezeichnen – falls er Valentin überhaupt erwähnte. In der Regel mieden sie dieses Thema und Clary hatte gegenüber Jace nie eingeräumt, dass ihre Mutter fürchtete, er wäre insgeheim genau wie Valentin. Denn sie wusste, dass auch nur die kleinste Andeutung in diese Richtung Jace schwer kränken würde. Daher tat Clary alles, um die beiden einfach nur voneinander fernzuhalten.
Jace langte über ihre Schulter hinweg, ehe Clary irgendetwas sagen konnte, und schob das Gitter mit einem Ruck beiseite. »Ich liebe dich, Clary«, sagte er, ohne sie anzusehen. Er starrte hinaus in das Kirchenschiff, auf die Reihen brennender Kerzen, deren goldener Schein sich in seinen Augen reflektierte. »Mehr als ich…« Er verstummte und fuhr dann fort: »Mehr als ich wahrscheinlich sollte. Das weißt du doch, oder?«
Widerstrebend stieg Clary aus dem Aufzug und drehte sich zu Jace um. Es gab tausend Dinge, die sie ihm gern geantwortet hätte, doch er hatte sich bereits abgewandt und drückte auf den Knopf, der den Aufzug wieder nach oben befördern würde. Clary setzte zu einem Protest an, aber die Türen des klapprigen Fahrstuhls schwangen zu und schlossen sich mit einem Klick. Einen Moment lang starrte Clary auf die Metallfläche: Der Engel Raziel war darauf abgebildet, mit weit gespreizten Schwingen und gen Himmel erhobenem Blick – wie auf fast allen Oberflächen des Instituts.
Clarys Stimme hallte harsch durch den leeren Kirchenraum, als sie erwiderte: »Ich liebe dich auch.«