Читать книгу Fliegen und Fallen - Cassie May - Страница 3
Kapitel 1
Оглавление»Pauline, kannst du bitte nach dem Training noch mit in mein Büro kommen? Ich möchte etwas mit dir besprechen.«
Überrascht sah Pauline den Dekan an und nickte dann. »Natürlich, um was geht es denn?« »Das möchte ich unter vier Augen mit dir besprechen. Bitte sei pünktlich.« Sie nickte wieder und biss sich auf die Lippen. Was konnte der Dekan von ihr wollen? Sie war sich nicht bewusst, einen Fehler gemacht zu haben, ihr Training lief ausgezeichnet, während der Proben für die Titania im Ballett Der Sommernachtstraum gab sie ihr Bestes und auch sonst waren ihre schulischen Leistungen gut. »Was will er von dir? Hast du etwas ausgefressen? Was wird dann aus unserem Training? Ich kriege diese dreifache Pirouette immer noch nicht perfekt hin und du wolltest mir doch später mit ihr helfen?«, riss die näselnde Stimme ihrer Freundin Samantha Pauline aus ihren Gedanken und Pauline verkniff sich gerade so ein Augenrollen. »Ich habe keine Ahnung, was er wollen könnte. Aber du schaffst das sicher auch allein. Du weißt doch, woran es liegt. Konzentriere dich auf deinen Punkt, dann klappt auch die Pirouette. Vielleicht schaffe ich es ja noch, nach der Besprechung zu euch zu stoßen.« Oder auch nicht, ergänzte Pauline in ihrem Kopf. Sie hatte die Nase voll davon, ständig helfen zu müssen. Seit Wochen kamen Samantha und Judith nur noch zu ihr, wenn sie ihre Hilfe brauchten. Die Freundschaft mit den zwei Mädchen hatte sich schon lange überlebt, doch Pauline wusste nicht, wie sie unbeschadet aus dem Teufelskreis ausbrechen sollte. So sehr sie das Leben im Internat liebte, so ungemütlich wurde es, wenn man auf einmal Leute gegen sich hatte, vor allem, wenn man tagtäglich mit ihnen trainieren musste. »Okay, aber lass uns nicht hängen, ja?«, drängte Judith und Pauline nickte verkniffen. Natürlich nicht. Die Besprechung würde nur leider bis zum Abendessen dauern. Jetzt fieberte sie ungeduldig dem Ende der Stunde entgegen und hatte ihre Sachen schneller gepackt als jemals zuvor, kaum dass der Trainer die Stunde beendet hatte. Sie eilte aus dem Proberaum und prallte fast mit Mike zusammen, der bereits davor wartete. »Nicht so schnell, Süße. Kannst es wohl nicht erwarten, mich zu sehen, was?« Seine starken Hände hielten sie fest und Pauline spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. »Nein.« Sie schluckte schwer und richtete sich auf, um ihm keine Schwäche zu zeigen. »Sicher nicht. Ich habe einen Termin beim Dekan, also lass mich bitte los. Ich bin sowieso schon zu spät dran.« Pauline hob den Kopf und funkelte Mike herausfordernd an, während die anderen an ihnen vorbeizogen. »Jetzt hab dich nicht so. Sehe ich dich nachher noch? Ich halte dir beim Essen einen Platz frei, okay?« Jetzt hielt Pauline ihr Augenrollen nicht mehr zurück. »Nein, danke. Ich will nicht mit dir essen. Ich will gar nichts mit dir zu tun haben, verstehst du das nicht? Wir hatten ein Date. Ein einziges. Wir sind nicht zusammen, waren nie zusammen und werden auch nie zusammen sein. Ist das denn so schwer zu verstehen? Du. Bist. Nicht. Mein. Typ.« Damit riss sie sich los und rauschte durch die Gänge davon. »Das werden wir ja sehen, Prinzesschen. Ich kriege dich schon noch klein!«, hörte sie ihn aufgebracht rufen, bevor sie um die nächste Ecke verschwand und endgültig außer Sicht- und Hörweite war. Pauline kam schließlich aufgeregt vor dem Büro des Dekans an und atmete erst einmal tief durch, um sich zu beruhigen. Noch so eine Sache, die sie am Internat nicht ausstehen konnte: Egal was war, man konnte niemandem für immer ausweichen. Seit ihrer ersten Verabredung war Mike ihr immer mehr auf die Pelle gerückt. Bereits vor dem katastrophalen Treffen hatte er nicht nachgelassen, bis sie schließlich zugestimmt hatte, mit ihm einen Kaffee zu trinken. Doch seine arrogante Art hatte ihr schon nach fünf Minuten gezeigt, dass aus ihnen niemals etwas werden würde. Er sah das offensichtlich anders. Mike hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sie die Richtige für ihn war und zusammen sollten sie das neue Traumpaar der Schule werden, wie er ihr mehrfach mitgeteilt hatte. Ähnlich wie ihre Freunde Jan und Louisa vor einigen Jahren. Der Rugbyspieler und die Primaballerina waren immer noch das Aushängeschild der Schule, wenn es um die gelungene Zusammenarbeit der einzelnen Sportarten ging. Pauline erinnerte sich versonnen an die Hochzeit der beiden im letzten Jahr und spürte eine Traurigkeit in sich aufsteigen, als sie daran dachte, wie lange es bereits her war, dass sie ihre Freunde gesehen hatte. Pauline klopfte an die Tür und wartete darauf, hereingebeten zu werden. Sie musste sich jetzt auf das konzentrieren, was vor ihr lag. »Hier bin ich, Herr Kranich. Was wollten Sie mit mir besprechen?« »Sehr gut, sehr gut, Pauline. Ich habe dich hergebeten, um mit dir über deine neue Mitbewohnerin zu sprechen.« Sie spürte, wie sie unwillkürlich das Gesicht verzog. Sie hatte es genossen, das große Zweibettzimmer allein zu bewohnen, und wusste nun nicht, wie sie mit der Neuigkeit umgehen sollte. »Eine neue Schülerin? Jetzt? Mitten im Schuljahr, wie kann das denn sein?« Herr Kranich legte seine Fingerspitzen aneinander und warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Ariane Weißenhof hatte ein paar Probleme in ihrer Heimatstadt und ihre Eltern sind der Meinung, dass es ihr guttun wird, auf unser Internat zu gehen.« »Der Name sagt mir etwas«, sagte Pauline und überlegte, woher sie den Namen kannte. Der Dekan nickte. »Du wirst ihn vermutlich in der Zeitung gelesen haben. Ich weiß, ihr interessiert euch nicht wirklich für das, was da draußen passiert, aber ihr Fall hat große Wellen geschlagen. Sie war und ist noch eine der begabtesten deutschen Siebenkämpferinnen ihrer Altersklasse. Ihr Trainer wurde jedoch beim Dopen seiner Schützlinge erwischt. Sie wurde negativ getestet, doch das hängt ihr jetzt natürlich erst mal nach und sie wird sich erneut beweisen müssen. Ihre Eltern wissen von der strikten Politik unserer Schule, was aufputschende und leistungssteigernde Mittel angeht, und hielten es für das Beste, sie erst hierher zu schicken. Im Hinblick auf ihre prekäre Lage und die Vorurteile, die ihr durch die anderen Schüler entgegenschlagen könnten, haben wir uns dazu entschlossen, sie sozusagen fachfremd unterzubringen. Ich weiß, du bist mit den Proben für die Titania sehr beschäftigt, dennoch hoffe ich, dass du dir die Zeit nehmen kannst, ihr den Einstieg zu erleichtern. Sie war noch nie in einem Internat, also wird es eine große Umstellung für sie sein.« Der Dekan musterte sie die ganze Zeit über aufmerksam. Was erwartete er jetzt von ihr? Sie zuckte mit den Schultern. »Okay, das sollte kein Problem sein. Die Proben klappen gut und mit den Leichtathleten haben wir wenig zu tun. Ich kann ihr sicher helfen, anzukommen. Sind Sie denn sicher, dass sie nicht gedopt hat?« Pauline wusste zwar, dass die Schule eine strenge Anti-Doping-Politik hatte, aber sie hatte auch mehr als einmal verdächtige Tütchen die Hände wechseln sehen. »Wir sind uns sicher, dass sie nicht gedopt hat«, versicherte Herr Kranich nachdrücklich und Pauline nickte langsam. Vermutlich hatte die Internatsleitung weitere Bluttests von Ariane verlangt, bevor sie aufgenommen worden war. »Okay, ich weiß Bescheid. Wann soll sie ankommen? Ich muss noch das Zimmer frei machen. Das Bett steht zwar noch drin, aber ich habe mich ausgebreitet.« Der Dekan grinste amüsiert. »Ariane wird nächste Woche ankommen. Du solltest also genug Zeit haben, Platz für sie zu schaffen.« »Gut, sind wir fertig? Dann fange ich sofort an.« Pauline sprang auf und verabschiedete sich. Ihre Gedanken rasten, als sie zurück auf ihr Zimmer eilte. Wie würde es sein, wieder eine Mitbewohnerin zu haben? Sie hatte seit über einem Jahr keine mehr gehabt und ihre Privatsphäre sehr geschätzt. Allein in einem Zweibettzimmer hatte sie genug Platz gehabt, um sich auszubreiten, ohne sich einschränken zu müssen. Sie hatte beim Aufräumen einfach alles in beide Schränke gestopft, frei nach dem Motto: »Aus den Augen, aus dem Sinn«. Ihre Unordnung biss ihr jetzt in den Hintern und sie stand mit einem leicht hilflosen Grinsen vor ihren Schränken. »Na ja, hilft ja nichts.« Sie gab sich einen Ruck und begann, ihre Sachen zu sortieren, zusammenzulegen und wegzuwerfen. Lachend blätterte sie durch einen Stapel Bilder von Jans und Louisas Hochzeit und legte die schönsten auf ihren Schreibtisch, um sie später aufzuhängen. Das Klingeln ihres Handys riss sie schließlich aus ihrem Aufräumwahn. »Hey Louisa, gerade musste ich an euch denken«, begrüßte sie ihre Freundin. »Hey Kleine, wie kommt’s? Was ist passiert?« Louisas Stimme drang klar und deutlich an ihr Ohr, obwohl ihre Freundin in London war. »Ich habe Bilder von der Hochzeit beim Aufräumen gefunden. Du hast so wunderschön ausgesehen.« »Sag bloß, du räumst auf? Ist die Welt am Untergehen?« Louisa lachte laut und bei dem Klang hoben sich Paulines Mundwinkel. »Sei nicht gemein. Ich bekomme eine neue Mitbewohnerin und da muss ich Platz schaffen.« »Ach, daher weht der Wind. Na, dann will ich dich nicht weiter aufhalten. Mach’s gut, Kleine. Wir sprechen uns bald wieder.« »Du auch. Grüße an Jan.« Sie legten auf und Pauline machte sich weiter an die Arbeit, runzelte dann aber die Stirn. Louisa hatte überhaupt nicht gesagt, warum sie angerufen hatte. »Seltsam. Was wollte sie wohl? Muss ich sie wohl beim nächsten Mal fragen.« »Na, Selbstgespräche, Prinzessin?« Die tiefe Stimme hinter ihr ließ sie herumfahren und ihr Herz rasen. Pauline starrte Mike an. »Das geht dich einen Scheißdreck an. Was willst du schon wieder hier? Du weißt, dass du nicht hier sein darfst. Keine Männerbesuche im Mädchenbereich.« Sie biss sich auf die Lippen, um nicht noch mehr zu sagen. Die Regel gab es zwar, doch meistens wurde bei Pärchen ein Auge zugedrückt, was Mike natürlich ebenfalls wusste. »Hab dich nicht so. Ich wette, deine Angebetete, Louisa, hat sich auch nie an diese Regel gehalten.« Er zwinkerte ihr zu und kam einige Schritte näher. Pauline blieb stehen, obwohl alles in ihr sie dazu drängte, zurückzuweichen. Doch Mike würde das als Aufforderung sehen. »Ich halte mich an diese Regel und ich habe es dir bereits gesagt: Lass mich in Ruhe.« Ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht und er breitete die Arme aus. »Ach, komm schon. Wir haben uns doch immer gut verstanden, oder nicht? Ich weiß nicht, warum du jetzt auf einmal so zickig bist?« Pauline schnaubte laut. »Lass mich überlegen … Alles hat damit angefangen, dass du mich dazu genötigt hast, dass ich mit dir ausgehe. Während unseres Dates hast du alle um uns herum wie Abschaum behandelt. Ich habe mich geschämt, mit dir dort zu sein. Die Kellnerin muss sich gefühlt haben wie der Dreck unter deinen Schuhen. Seit dem Date verfolgst du mich, obwohl ich mehr als einmal klar und deutlich gesagt habe, dass ich das nicht will. Warum suchst du dir nicht ein anderes Opfer?« Er kam noch näher und stand schließlich so dicht vor ihr, dass sie sein penetrantes Aftershave riechen konnte. Nur mit Mühe verkniff sie sich ein Naserümpfen und erwiderte ruhig seinen Blick. »Es macht mir Spaß, dich zu jagen, Prinzessin. Irgendwann wirst du einknicken und dann habe ich, was ich will.« Damit tippte er ihr auf die Nase und schlenderte davon. Pauline starrte ihm fassungslos nach. Was sollte sie tun, wenn er wirklich nicht aufhören würde? Mehr als einmal hatte sie überlegt, zum Dekan zu gehen. Aber sobald sie sich beschweren würde, würde Mike ihr das Leben zur Hölle machen oder er würde von der Schule fliegen, was seine Karriere als Sportler empfindlich treffen würde. Auch wenn er ein Ekel war, wollte sie ihm nicht nachhaltig schaden. Sie drehte und wendete das Problem in ihrem Kopf, während sie weiter das Zimmer aufräumte, doch eine befriedigende Lösung fand sie nicht. Ihr knurrender Magen machte sie darauf aufmerksam, dass sie das Abendessen verpasst hatte, weshalb sie grummelnd ein paar Müsliriegel aus ihrer Notfallschublade zog und es sich auf dem Bett bequem machte. Mit einem Riegel in der einen und ihrem Handy in der anderen Hand suchte sie ihre neue Mitbewohnerin im Internet, um mehr über den Skandal rund um das Doping herauszufinden.
***
Eine Woche später war es so weit: Ariane Weißenhof kam in der Sportakademie an. Außer Pauline wusste keiner der Schüler, dass sie kommen würde, daher achtete niemand weiter auf das Taxi, das während des Unterrichts im Hof hielt und ein schlankes blondes Mädchen aussteigen ließ. Sie sah sich unschlüssig um und betrat das Gebäude. Kurze Zeit später wurde Pauline erneut in das Büro des Dekans gebeten.
Sie warf ihrem Englischlehrer einen entschuldigenden Blick zu, doch er winkte nur müde ab. Er war bereits informiert worden. Pauline eilte durch die Gänge und betrat das Büro nach einem kurzen Klopfen. »Hallo, da bin ich.« Sechs Augen wandten sich ihr zu. Neben Ariane und ihrem Dekan war auch der Leiter des Leichtathletikzweiges im Raum und alle wirkten mehr als erleichtert, sie zu sehen. Eine angespannte, beinahe peinliche Stille trat ein, als sie den Mund schloss, doch Ariane gab sich einen Ruck, zwang ein gekünsteltes Lächeln auf ihre Lippen und streckte die Hand aus. »Hallo, ich bin Ariane, du bist dann wohl meine neue Mitbewohnerin?« Pauline ergriff die Hand und war über den festen Händedruck überrascht. »Ja, genau. Ich bin Pauline, wobei technisch gesehen bist du meine neue Mitbewohnerin. Ich werde dir helfen, dich hier zurechtzufinden. Ich bin sicher, du wirst dich bald wie zu Hause fühlen.« Ariane hob skeptisch eine Augenbraue. »Na, wenn du das sagst, dann wird das wohl stimmen.« Pauline biss sich auf die Lippen, um sich eine passende Antwort zu verkneifen, und deutete zur Tür. »Ich denke, wir sind hier fertig? Dann kann ich dir unser Zimmer und die Schule zeigen. Gerade ist es glücklicherweise ruhig, alle anderen sind ja im Unterricht.« Ariane stand auf. »Ja, ich habe bereits meine Verhaltensanweisungen erhalten und weiß, was ich zu tun und zu lassen habe, währewnd ich hier bin. Ich würde gerne das Zimmer sehen.« Ihr spöttischer Tonfall konnte die Verletzung in ihrer Stimme nicht ganz verbergen, vermutlich, weil es Ariane schwerfiel, mit dem Dopingvorwurf klarzukommen. Ihre gesamten Leistungen standen jetzt erst einmal auf dem Prüfstand und der schwarze Fleck des Dopingverdachts würde für eine ganze Zeit nicht verschwinden. Nicht nachdem die Presse alle Schützlinge des angeklagten Trainers durch den Dreck gezogen hatte. Pauline lief voraus und stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf. »Hier, herzlich willkommen. Das rechte Bett ist deines, genauso wie der Schrank. Das Badezimmer ist durch diese Tür dort. Mach es dir bequem, pack aus, ich habe den Rest des Vormittags Zeit, dir alles zu zeigen. Nach dem Mittagessen habe ich allerdings Training, du musst dann sehen, ob du auch trainieren gehen willst oder erst mal ein bisschen Ruhe brauchst.« Ariane drehte sich langsam um die eigene Achse und sah sich im Zimmer um. Ihr Blick blieb an den zerfledderten Spitzenschuhen hängen, die von Paulines Bettpfosten baumelten. Die Schuhe, die sie bei ihrer ersten Aufführung im Internat getragen hatte, als sie das Mädchen Klara im Nussknacker gespielt hatte. »Du bist doch Ballerina, nicht wahr?«, fragte Ariane und ihre Augen blitzten herausfordernd, als Pauline nickte. »Was haben sie dir dafür geboten, dass du mich im Auge behältst, hm? Die nächste Hauptrolle? Ein paar neue Spitzenschuhe? Oder bist du einfach gerne Spitzel?« Hitze breitete sich in Paulines Körper aus und ihr Gesicht lief knallrot an. »Bist du verrückt? Niemand hat mir irgendetwas dafür geboten, dass ich dich bespitzle. Sie glauben dir, dass du nicht gedopt hast, und mir ist das völlig egal, okay? Ich wollte dir nur dabei helfen, dich einzugewöhnen, aber offensichtlich brauchst du dafür keine Hilfe. Auch gut, dann kann ich die freien Studios dazu nutzen, meine Hauptrolle zu proben. Die hatte ich nämlich schon sicher, bevor ich überhaupt wusste, wer du bist!«, rief sie, packte ihre Trainingstasche und war schon beinahe aus der Tür, als Arianes Stimme sie zurückhielt. »Wirklich nicht?« Ihre Stimme zitterte. Pauline drehte sich um. In den grünen Augen des Mädchens schimmerten Tränen und sie sah auf einmal so aus, als hätte sie sämtlicher Kampfgeist verlassen. Sie war in sich zusammengesunken und blickte auf den Boden. »Wirklich nicht«, bekräftigte Pauline und schloss wieder die Tür. »Das hätte ich auch nicht gemacht. Warum auch? Du wurdest doch negativ getestet, oder nicht?« Ariane hob den Kopf. »Ja, das schon, aber es glaubt mir ja doch niemand. Stefan hat vor Gericht ausgesagt, dass alle, die er trainiert hat, von ihm Mittel bekommen haben. Das hat mich eingeschlossen, damit wurde ich von der Presse schon vorverurteilt und die negativen Ergebnisse haben nur dafür gesorgt, dass ich weiterhin an Wettkämpfen teilnehmen darf.« Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, während Pauline vorsichtig nähertrat. »Hast du es denn gewusst?« Arianes Augen weiteten sich überrascht. »Du glaubst mir? Keine Nachfragen, ob ich es nicht mal probiert hätte? Ob ich einfach andere Mittel bekommen habe, die nicht nachzuweisen sind?« Pauline zuckte mit den Schultern. »Das hier ist ein Sportinternat. Ich gehe auf diese Schule, seit ich elf Jahre alt bin, also inzwischen seit über sechs Jahren. Ich habe festgestellt, dass es zwei Arten von Sportlern gibt: Die, die wissen, dass sie es ohne Hilfsmittel schaffen, und die Verzweifelten, die unbedingt die Besten sein wollen und denen jedes Mittel recht ist, an die Spitze zu kommen. Du wirkst nicht verzweifelt, sondern frustriert und enttäuscht, was verständlich ist bei dem, was du mitgemacht hast. Ja, ich habe nach dir im Internet gesucht, nachdem ich erfahren habe, dass du kommst. Aber ich wollte mir selbst ein Bild von dir machen, bevor ich mir eine Meinung bilde.« »Und? Was für eine Meinung hast du dir gebildet?« Die Frage kam beinahe flehend aus Arianes Mund und Pauline spürte Mitleid in sich aufsteigen. Sie mussten ihr übel mitgespielt haben, so kampflos, wie Ariane klang. »Du bist ein bisschen zickig, aber damit kann ich umgehen, das habe ich bei den Tänzern täglich, aber sonst bist du eigentlich ganz nett. Und du hast mir noch immer meine Frage nicht beantwortet: Hast du gewusst, dass dein Trainer euch dopt?« Eine zarte Röte stahl sich auf Arianes Wangen. »Ja … Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich … Es gab einige Vorfälle, bei denen ich dachte, etwas Verdächtiges gesehen zu haben, aber ich war mir nie sicher, verstehst du? Und ich weiß, wie schnell eine Karriere durch so eine Anschuldigung beendet werden kann, also habe ich den Mund gehalten. Ich wünschte, ich hätte etwas gesagt, auch wegen Thomas.« Pauline ließ sich neben Ariane aufs Bett fallen und sah sie fragend an. »Das war der Junge, der ins Krankenhaus gekommen ist, oder nicht?« Ariane schloss die Augen. »Ja, er ist beinahe an einer Überdosis gestorben. Es war schrecklich. Wir waren auf einem Wettkampf und er hatte sich schon seit ein paar Tagen seltsam benommen. Aggressiv und unkonzentriert, und dann ist er einfach umgefallen.« Eine Träne rollte aus ihrem Augenwinkel, doch Ariane schien es nicht zu bemerken. »Es war beim Aufwärmen, ich war direkt hinter ihm. Er ist gestolpert und dann lag er schon auf dem Boden und hat sich nicht mehr bewegt. Es war so unheimlich. Ich dachte, er wäre … tot«, hauchte sie und schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Schultern zuckten und Pauline hörte ihr leises Schluchzen. »Aber … aber er hat doch überlebt, oder nicht? Er kommt wieder auf die Beine, nicht wahr?«, fragte sie und legte den Arm um Ariane. »Ja, das schon. Aber er wird vermutlich nie wieder Sport machen dürfen. Die Anabolika haben seine Organe und sein Herz-Kreislauf-System so schwer geschädigt, dass jede Anstrengung zu viel sein könnte. Ich verstehe es einfach nicht. Er war so gut, er hat das alles nicht gebraucht. Überhaupt nicht!« Sie ließ die Hände fallen und starrte aus dem Fenster. Nach ein paar Minuten Stille gab sie sich einen Ruck, als hätte sie die düsteren Gedanken abgeschüttelt. »Genug von mir. Ich packe schnell aus, dann zeigst du mir die Schule, okay?« Pauline hob überrascht eine schmale Augenbraue. »Das war’s? Einfach so?« »Lass mir die Illusion, ich könnte es verdrängen, okay? Ist peinlich genug, dass ich geheult habe.« Pauline verstand augenblicklich. »Alles klar, aber sollte noch was sein, kannst du jederzeit zu mir kommen. Ich versuche mein Bestes, um dich aufzumuntern.« Sie zwinkerte, woraufhin Ariane erleichtert aufatmete, dann packte sie ihre Sachen in den Schrank, verteilte ein paar Andenken auf Bett und Schreibtisch. Ein Bild ihrer Eltern landete auf dem Nachttisch. »Ich bin fertig. Lass uns gehen«, sagte Ariane schließlich. Sie betraten die weißgetünchten Gänge des Internats und Pauline begann mit ihrer Führung. Ariane sah sich staunend um. Alles wirkte hell und freundlich und die Mittagssonne strahlte kräftig durch die hohen Sprossenfenster. »Das ist unser Klassenzimmer. Wir haben meist vormittags Unterricht, vor Wettkämpfen und großen Auftritten entfällt die Pflicht, in den Unterricht zu gehen, aber es ist besser, wenn du versuchst, so viel wie möglich an der Schule teilzunehmen. Macht es einfacher, wenn du die Regeln mal wegen etwas Wichtigem beugen musst.« Sie zwinkerte Ariane zu und ließ ihr die Zeit, sich gründlich im Klassenzimmer umzusehen. »Ich verstehe, was du meinst«, gab diese grinsend zurück. »Es ist schön hier. Für ein Klassenzimmer. Freundlich irgendwie.« Sie ließ ihren Blick über die weißen Tische gleiten und blieb an den bunten Blumen hängen, die auf den Fensterbänken aufgereiht waren. »Hey, bist das du?« Ariane durchquerte das Klassenzimmer und blieb vor einem Showposter stehen, das eine rothaarige Ballerina in einem weißen Kostüm zeigte. »Ja, das war letztes Jahr. Dornröschen, ein schönes Ballett.« Pauline trat hinter sie. »Zeigst du mir auch die Studios? Dann weiß ich, wo ich dich finden kann, wenn du Training hast und ich einen Notfall habe«, fragte Ariane. »Sicher, wenn dich das interessiert. Kein Problem, auch wenn ich hoffe, dass sich Notfälle eher in Grenzen halten werden. Drama gibt es hier wirklich genug.« Pauline lief über die knarrenden Holzböden und zeigte ihrer neuen Mitbewohnerin ihre Lieblingsplätze in der Schule. »Das hier ist das große Studio. Hier proben wir Szenen mit vielen Tänzern und natürlich unsere Standardklassen wie Pas de deux und Technikunterricht. Ich bevorzuge zum Training die kleineren Studios. Die sind etwas abgelegener und nicht so stark frequentiert.« Pauline stieß die Tür zu ihrem Lieblingsstudio auf und Ariane sah neugierig hinein. Der Raum wirkte beinahe gemütlich, trotz der blitzenden Spiegel, die die Wände verkleideten. Eine bewegliche Barre, wie die Stange genannt wurde, an der die Tänzer sich dehnten, stand in der Mitte des Raumes und in einer Wand war eine Stereoanlage eingelassen. »Gemütlich irgendwie. Nicht so kalt wie das große Studio. Ich verstehe, warum du das hier bevorzugst«, sagte Ariane und Pauline lächelte dankbar. Die wenigsten Tänzer konnten nachvollziehen, warum sie die kleineren Studios bevorzugte, in denen Sprünge viel schwieriger waren, da Platz Mangelware war. »Komm, ich zeige dir die Mensa und dann den Park. Du musst ja wissen, wo es Essen gibt, das übrigens ziemlich gut ist, und ich vermute mal, dass du im Park die meiste Zeit verbringen wirst, da das Leichtathletikstadion auch dort ist. Genau wie die Ställe.« Pauline führte Ariane durch die hohen Gänge bis zur reichverzierten Holzflügeltür, hinter der sich die Mensa verbarg. Sie stieß die Tür auf und Ariane konnte sich einen bewundernden Ausruf nicht verkneifen. »Oh, wow. Alles ist so modern. Das hätte ich nicht erwartet. Das Internat ist so gut restauriert, aber hier ist alles neu.« Ariane ließ ihren Blick über die glänzende schwarze Marmorplatte des Büffets, die Designerstühle und die riesige Fensterfront gleiten, hinter der sich eine Terrasse ausbreitete, auf der sich ebenfalls Sitzgelegenheiten befanden. »Das kommt daher, dass die Mensa nachträglich angebaut wurde. Die Tür ist jedoch ein Original, sie führte früher auf den Innenhof. Man hat die Mensa einfach hinten dran gebaut. Willst du einen Kaffee? Wir können uns kurz auf die Terrasse setzen, wenn du willst. Die Plätze sind normalerweise sehr begehrt, aber da gerade alle beschäftigt sind, haben wir Glück.« Pauline lief zielstrebig auf den Kaffeeautomaten zu und ließ einen Cappuccino in eine Tasse mit dem Internatslogo laufen. »Gern, danke. Wo finde ich Zucker?« Pauline deutete auf die Zuckerdose und Ariane bediente sich reichlich, bevor sie sich auf der Terrasse niederließen und ihre Gesichter in die Sonne hielten. Ein paar Minuten später schlenderten sie weiter in den Park und Pauline deutete auf drei Gebäude, die von Pferdekoppeln umgeben waren. »Dort hinten siehst du die Ställe der Reiter. Die bleiben meistens unter sich und stecken fast die ganze Zeit bei ihren Pferden.« Pauline konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, woraufhin Ariane sie belustigt ansah. »Sag bloß, du hast Angst vor Pferden.« »Und wie! Ich meine, hast du gesehen, wie groß die sind? Die treten mir einmal auf den Fuß und aus ist es mit meiner Tänzerkarriere. Außerdem stinken sie und sind unberechenbar. Nein, nein, da bleibe ich ganz weit weg, das kannst du mir glauben.« Pauline schüttelte sich wieder und grinste verlegen. »Glücklicherweise hast du mit den Viechern nichts zu tun. Komm, hier lang geht es zum Stadion. Dort wirst du vermutlich im Frühling und Sommer einen Großteil deiner Zeit verbringen?« »Das stimmt wohl. Wie ist das mit dem Park? Dürfen wir immer hier sein oder gibt es feste Zeiten, in denen man im Haus sein muss?« Pauline lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie sie das erste Mal alles in Augenschein nehmen durfte. Bei ihrem ersten Vortanzen war sie sehr aufgeregt gewesen. Das Zittern in ihren Beinen hatte sie beinahe den Platz an der Sportakademie gekostet, doch sie hatte sich durchgekämpft und war an der Spitze gelandet. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und bewunderte das Hauptgebäude, das mit den gelb getünchten Wänden und dem roten Ziegeldach in der Frühlingssonne strahlte und einladend wirkte. »Offiziell müssen unter der Woche alle unter achtzehn um zehn in den Betten sein. Am Wochenende können wir in die Stadt gehen, da müssen wir erst um zwölf beziehungsweise kurz danach ins Bett. Der Park ist immer offen, du kannst also ohne Probleme eine nächtliche Joggingrunde einlegen, sofern dich niemand erwischt, wenn du dich rausschleichst. Prinzipiell gibt es hier nicht so viele Regeln: Streng dich an, keine Drogen, hör auf das, was die Lehrer und Trainer sagen, und du bist schon gut dabei. Alles recht logisch. Je mehr du der Schule zurückgibst, desto eher werden die Regeln für dich gebeugt, verstehst du?« Ariane nickte. »Ja, ergibt Sinn. Ich hatte gedacht, es wäre strenger hier. Viel strenger. Wie sieht es aus mit Partys? Ich meine, hier hat doch sicher ständig jemand Geburtstag, oder nicht?« Pauline legte lachend den Kopf in den Nacken. »Ja, das schon, aber das wird hier nicht so gefeiert. Man bekommt vielleicht ein paar Geschenke, aber eigentlich setzt man sich mit ein paar engen Freunden zusammen, trinkt ein bis zwei Bierchen und das war’s. Wenn du am Wochenende Geburtstag hast, wird es vielleicht etwas größer und du kannst im Club feiern. Meg, die Besitzerin, ist da immer sehr freundlich und hilft beim Organisieren der Feier, aber ansonsten geht das ein bisschen unter. Der Sport ist wichtiger.« Sie waren inzwischen beim Stadion angekommen, wo sich Ariane bewundernd umsah. Die Tartanbahn leuchtete in einem tiefen Blau und die Sprunganlage daneben sah beinahe unbenutzt aus. In der Mitte des Laufovals leuchtete grüner Rasen, eingerahmt von einer Speerwurfanlage und einem Kugelstoßfeld. »Das ist … beeindruckend. Langsam verstehe ich, warum die Akademie meinen Eltern und mir so sehr empfohlen wurde. Alles ist da, das Beste vom Besten, wenn ich mir die Marken ansehe, die auf den Geräten stehen. Und alles sieht brandneu aus! Wie oft wird das alles hier erneuert?« »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß, dass unsere Tanzböden alle drei bis vier Jahre komplett erneuert werden oder wenn etwas kaputt ist, aber bei euch weiß ich das nicht. Willst du etwas ausprobieren? Oder dir bestimmte Sportgeräte ansehen? Vielleicht können wir einen Blick in den Geräteschuppen werfen?« Pauline deutete auf ein flaches Gebäude, das sich an die Laufbahn anschloss, doch Ariane schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, das werde ich alles noch sehen, wenn ich anfange zu trainieren. Lass uns zurückgehen. Wann gibt es denn Essen?« Pauline sah auf ihre Armbanduhr. »Du hast ein gutes Gefühl, wir haben noch eine halbe Stunde, dann ist der Unterricht vorbei. Wie willst du es machen? Direkt als Erstes reingehen oder erst wenn das Essen schon in vollem Gange ist? Was ist dir lieber?« »Ich glaube, das ist völlig egal. Wer mich und meine Geschichte kennt, wird es sowieso schneller mitkriegen, als mir lieb ist.« »Alles klar, dann lass uns ein bisschen warten, in der Hoffnung, dass wir dann im allgemeinen Chaos untergehen, okay?« »In Ordnung.« Ariane grinste erleichtert. Paulines Hoffnungen waren vergeblich. Als sie die große Tür zum Speisesaal aufstieß, drehten sich einige Köpfe zu ihnen um. Nach und nach erstarben alle Gespräche, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Betont unbekümmert zog Pauline Ariane mit zum Büffet und sie bedienten sich, während um sie herum die Gespräche langsam wiedereinsetzten. »Na, siehst du, war doch gar nicht so schlimm, oder?«, murmelte sie der Neuen zu, doch die versteckte sich hinter einem Vorhang langer Haare. »Wir werden sehen, sie können mich ja nicht so offensichtlich anstarren. Wo sitzt du normalerweise?«, wisperte sie zurück und Pauline deutete auf den Tisch auf der linken Seite. »Dort bei den Tänzern, aber wir können uns auch zu den Leichtathletikleuten setzen oder da hinten an den Zweiertisch am Fenster.« Ariane schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich setze mich lieber mit zu deinen Leuten. Das geht schon in Ordnung.« Sie ließen sich auf die letzten freien Plätze an der langen Tafel fallen und begannen zu essen. Pauline spürte die neugierigen Blicke ihrer Mitschüler auf sich, doch sie reagierte erst, als Samantha sie anstieß. »Hey, wer ist die Neue?« »Das ist Ariane, sie ist heute angekommen und wird bei mir im Zimmer schlafen.« »Ist ja mies, da kommt ’ne Neue und du musst dein Zimmer teilen? Ist das nicht nervig?« Judiths hämisches Grinsen ließ ihre gespielte Genervtheit zu dem werden, was es war: Schadenfreude darüber, dass Pauline nun nicht mehr das Privileg eines Einzelzimmers hatte, doch Pauline biss nicht an. »Es war doch abzusehen, dass es irgendwann so kommen würde. Ich hatte einfach Glück im letzten Jahr«, gab sie schulterzuckend zurück und Judiths Gesicht verzog sich enttäuscht. »Was kannst du denn? Bist du so gut wie Pauline? Wo hast du bisher getanzt?« Die Fragen prasselten geradezu auf Ariane herein. Pauline stupste sie aufmunternd an, woraufhin Ariane Judiths herausfordernden Blick ruhig erwiderte. »Ich bin Leichtathletin, Siebenkämpferin, um genau zu sein.« »Warum bist du dann bei Pauline einquartiert worden? Es gab doch bei den anderen sicher auch freie Betten?«, ließ Judith nicht locker, doch jetzt mischte Pauline sich wieder ein. »Das geht uns nichts an, okay? Ariane wurde bei mir einquartiert. Das ist in Ordnung. Ich bin ganz froh darüber, dass ich nicht mehr allein wohnen muss. Es wurde auf Dauer doch ganz schön einsam.« Sie zwinkerte Ariane zu, denn sie meinte es ernst. Auf Dauer hatte sie sich sehr isoliert gefühlt, seit ihre besten Freunde nicht mehr auf der Schule waren und ihre letzte Mitbewohnerin ebenfalls die Schule verlassen hatte. »Du hättest doch nur etwas sagen müssen, ich wäre sofort bei dir eingezogen«, bemerkte Samantha verwundert. Pauline knabberte auf ihrer Unterlippe herum. »Keine Ahnung, daran habe ich irgendwie nie gedacht.« Sie legte ihr Besteck auf den leeren Teller und warf Ariane einen fragenden Blick zu. »Bist du fertig? Dann können wir wieder los?« Ariane nickte erleichtert, woraufhin sie aufstanden, doch eine Hand hielt Pauline an ihrem Handgelenk zurück. »Heißt das, du kommst nicht ins Training? Du hast schon den Unterricht heute Morgen verpasst. So gut bist du nicht, dass du das Training komplett ausfallen lassen könntest.« Samantha sah sie anklagend an, aber Pauline riss sich los, stemmte die Hände auf den Tisch und funkelte ihre Mittänzerinnen an. »Das weiß ich. Ich werde schon pünktlich sein, lass das nur meine Sorge sein und kümmere du dich um deinen Kram.« »Hey, tut mir leid, ich wollte dich nicht verärgern. Wir trainieren doch nach der regulären Stunde noch ein bisschen, oder?«, ruderte Samantha augenblicklich zurück. »Ich weiß es noch nicht. Ich muss mich auch um mich selbst kümmern. Ich bin ja nicht so gut, hast du selbst gesagt.« Paulines beißender Tonfall knallte wie ein Peitschenschlag. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern verließ mit Ariane auf den Fersen den Speisesaal. »Ihr versteht euch nicht so gut, kann das sein?«, fragte die vorsichtig und Pauline schenkte ihr ein schiefes Grinsen. »Hat man gemerkt, ja? Es ist … schwierig mit Samantha und Judith. Sehr schwierig.« »Ich kenne das. Mädels sind immer schwieriger als Jungs. Der Konkurrenzdruck ist irgendwie größer.« Sie waren inzwischen in ihrem Zimmer angekommen, wo Pauline ihre Trainingssachen aus dem Schrank riss. »Es ist nicht nur das. Als ich hier angefangen habe, habe ich ziemlich schnell eine große Hauptrolle bekommen. Ich war Klara im Nussknacker, also das Mädchen, nicht die ganze Aufführung lang, und mit der großen Klara, Louisa, habe ich mich gut verstanden. Während des Trainings hat sie mich unter ihre Fittiche genommen, wobei Judith zurückstecken musste. Daraus hat sich eine enge Freundschaft mit Louisa und den anderen älteren Tänzerinnen ergeben, sodass ich ihnen immer wieder zusehen durfte und viel gelernt habe. Das hat mich sehr schnell sehr gut gemacht, da sie mir auch viele Tipps gegeben haben. Judith war zu Beginn neidisch, doch dann hat es sich irgendwann eingerenkt. Ich habe versucht, ihr zu helfen, aber ich konnte ihr nie so viel helfen, wie Louisa mir geholfen hat.« »Okay, aber das klingt doch soweit ganz gut? Was ist passiert? Entschuldige, wir kennen uns erst seit ein paar Stunden … Du willst sicher nicht darüber reden.« Ariane lachte verlegen und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich weiß es auch nicht. Samantha kam dazu und wir haben uns gut verstanden. Sie hat dann auch mittrainiert und ich musste immer mehr helfen. Ich habe die Ferien oft mit Louisa verbracht. Von ihr habe ich viel gelernt, und das auch gerne geteilt. Aber in letzter Zeit habe ich immer öfter das Gefühl, sie sind nicht wirklich mit mir befreundet, sondern nur mit mir als Tänzerin, weil ich sie weiter voranbringen kann. Ich bin froh, dass du gekommen bist. So ist es einfacher für mich, ihnen auszuweichen. Leider heißt das, dass sie dich auf dem Kieker haben werden. Wenn du das nicht willst, sag es jetzt, dann denke ich mir etwas anderes aus.« Pauline warf Ariane einen entschuldigenden Blick zu, doch die machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich kann mich nicht ewig verstecken und ich war eigentlich nie jemand, der schnell klein beigegeben hat. Lass sie nur kommen, ich werde mich wehren. Du hast mir eine Chance gegeben und mich nicht verurteilt. Das rechne ich dir hoch an, du hast etwas gut bei mir, also nutze mich ruhig als Ausrede, wenn du es brauchst.« Pauline zog eine Augenbraue hoch, als sie diese flammende Rede hörte, und grinste breit. »Finde ich gut, sehr gut sogar. Danke, aber ich glaube, ich bin dir was schuldig. Du weißt nicht, was du mir für einen Gefallen damit tust.« Sie warf einen Blick auf die Uhr und zuckte zusammen. »Verdammt, jetzt bin ich doch fast zu spät.« Sie riss sich die Jeans herunter und schlüpfte in ihre Leggins. »Wenn du willst, kannst du mitkommen und zusehen, oder du fängst selbst mit dem Training an, was dir lieber ist.« Ariane streckte sich lässig. »Ich glaube, ich schaue euch zu, wenn es wirklich kein Problem ist. Morgen geht es dann für mich richtig los.« Pauline nickte und schnappte sich ihre Trainingstasche. »Na, dann los.« Gemeinsam eilten sie zu den Proberäumen. Während Pauline sich in ihre Spitzenschuhe einschnürte, nahm Ariane auf dem Boden Platz, um alles aufmerksam beobachten zu können. Pauline suchte sich einen Platz an der Barre und fing an, sich zu dehnen, während sie versuchte, die anderen auszublenden. Als starke Arme sich um sie legten, zuckte sie zusammen und fuhr herum. »Was zum … Oh mein Gott, Noah, du bist es.« Sie schlang die Arme um ihren Tanzpartner und grinste glücklich. »Na, ich habe gehört, du hast den Zicken endlich mal den Marsch geblasen. Wie ist die neue Mitbewohnerin?« Er zwängte sich zwischen sie und eine andere Tänzerin und schaffte ihnen so ein wenig Platz, um sich ungestört zu unterhalten. »Du warst doch fast dabei. Ich habe genau gesehen, wie groß deine Ohren waren, hast vom Nebentisch nicht alles mitbekommen, was?«, neckte Pauline ihn und deutete mit dem Kopf in die Richtung von Ariane. »Die neue Mitbewohnerin ist super. Da hinten sitzt sie. Sie will es heute langsam angehen lassen, ab morgen trainiert sie auch wieder.« Er pfiff leise durch die Zähne. »Dann ist es also wahr. Die Doping-Diva ist hier auf der Schule. Gut aussehen tut sie ja.« »Sie hat nicht gedopt! Du weißt genau, dass sie sonst niemals aufgenommen worden wäre. Sie musste mehrere Dopingtests machen«, sagte Pauline, stemmte ihre Hände in die Taille und starrte ihren Freund an. »Hey, hey. Ich habe es nicht so gemeint. Ich habe nie gesagt, dass sie gedopt hat, aber ich habe die Prozesse ein wenig verfolgt, um auf dem Laufenden zu bleiben, was da draußen passiert. Sie wurde von den Reportern zerfleischt und trotzdem ist sie immer ruhig geblieben. Wie eine Eiskönigin oder so. Eine echte Diva eben.« Er warf einen weiteren Blick auf die in Gedanken versunkene Ariane. »Na gut, da hast du dich noch mal gerettet. Lass sie in Ruhe, sie hat genug um die Ohren und braucht deinen Charme nicht, verstehst du? Außerdem hast du doch Leonie, oder nicht?«, erinnerte Pauline ihn an seine Freundin und er nickte versonnen. »Ja, und sie liebt meinen guten Geschmack.« Er sah den Ärger in Paulines Augen aufblitzen und hob beschwichtigend die Hände. »Alles gut, ich lasse sie in Ruhe und die Sprüche lasse ich auch. Lass uns anfangen.«