Читать книгу Fliegen und Fallen - Cassie May - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеNach dem Training wartete Ariane mit strahlenden Augen auf Pauline und die Worte sprudelten aus ihr heraus: »Das war klasse! Ich habe zwar noch nie eine Ballettaufführung gesehen, aber ihr habt mich richtig mitgerissen und du ganz besonders. Einfach nur wow!«
Bevor Pauline antworten konnte, tat es Mikes tiefe Stimme hinter ihnen für sie. »Oh ja, Pauline ist unser Star. Deshalb wird sie sich heute Abend auch die Zeit nehmen, mit dem Star des Fußballteams abzuhängen, oder nicht?« »Oder nicht. Du sagst es ja selbst. Wie oft denn noch? Ich will mich nicht mehr mit dir treffen. Wir passen nicht zusammen und werden sicherlich auch nicht die neuen Jan und Louisa. Es wird niemals passieren. Punkt!« Pauline verschränkte die Arme vor der Brust und trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen sich und den groß gewachsenen Stürmer zu bringen, der sie angrinste und ihr Unbehagen offensichtlich ignorierte. »Ach, komm schon, stell dich nicht so an. Du hast es noch nicht einmal probiert. Woher willst du wissen, dass das mit uns nicht klappt?«, fragte er herausfordernd und Pauline spürte Hitze in sich aufsteigen. Sie war sich sicher, dass ihr Kopf knallrot sein musste, so peinlich war ihr das wiederholte Nachstellen des Sportlers. Sie holte tief Luft, doch eine spöttische Stimme brach durch ihre Gedanken. »Bist du immer so verzweifelt oder liegt es an Pauline? Meine Güte, sie will nichts von dir und ich glaube, es ist nicht einmal das erste Mal, dass sie dir das sagt. Das ist so erbärmlich. Bilde dir nicht ein, dass sie gejagt werden will oder nur so tut, als würde sie dich nicht wollen. Wenn eine Frau dir so deutlich sagt, dass sie nicht will, kannst du das glauben. Komm Pauline, wir gehen.« Ariane warf Mike einen verächtlichen Blick zu und zog Pauline mit sich weg, die sie mit offenem Mund anstarrte. »Wow, ich glaube, ich habe mich gerade ein bisschen in dich verliebt«, gab sie lachend zu. »Ich habe ihn noch nie sprachlos gesehen. Noch nie. Was ist denn in dich gefahren? Du warst doch bisher so schüchtern?« Ariane lachte laut auf und nickte. »Na ja, alles ist neu hier. Ich wollte erst einmal die Stimmung ausloten und sehen, wer wie zusammenhängt. Man muss ja nicht direkt in jedes Fettnäpfchen treten, aber du hast so angeekelt ausgesehen, da konnte ich mich nicht zurückhalten. Und es ist mir egal, wer jetzt gegen mich ist. Ich denke, es ist immer gut, wenn ich auf deiner Seite bin. Immerhin müssen wir noch eine ganze Weile zusammenwohnen.« Vergnügt kichernd kamen die beiden in ihrem Zimmer an und Pauline ließ sich auf ihr Bett fallen. »Was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Nachmittag? Bist du sicher, dass du nicht trainieren willst? Du hättest noch Zeit, es ist noch eine ganze Weile hell und bis zum Abendessen dauert es auch noch«, warf Pauline ein. »Ja, ich bin sicher. Du brauchst mich nicht zu bemuttern.« Ariane zwinkerte. »Erzähl mir lieber, was man hier sonst noch so machen kann. Können wir einfach so in das Städtchen gehen? Was passiert hier am Wochenende?« Während Pauline ihre verschwitzten Sachen auszog, beantwortete sie geduldig die Fragen. »Sobald wir sechzehn sind, dürfen wir zu zweit oder als größere Gruppe in die Stadt gehen. Wir müssen uns nur abmelden und wenn wir wieder hier sind, wieder anmelden. Das gilt auch fürs Feiern am Wochenende. Es gibt ein paar Clubs, die ganz gut sind, obwohl die Stadt wirklich klein ist. Ich bevorzuge ›Den Club‹, da die Besitzerin mit einer Freundin von mir befreundet ist. Wir kennen uns also, was es leichter macht, reinzukommen. Wenn du volltrunken hier ankommst, ist der Ausgang erst einmal auf unbestimmte Zeit gestrichen, also reiß dich zusammen. Ansonsten ist es unterschiedlich, was an den Wochenenden passiert. Die Reiter und Leichtathleten haben öfter mal Wettkämpfe, die Fußballer und Rugbyspieler Turniere. Wir Tänzer trainieren oder lernen, was eben gerade wichtiger ist.« »Klingt doch ganz gut. Nimmst du mich mal mit in den Club? Ich war schon so lange nicht mehr tanzen.« »Klar, wenn du mitwillst. Kein Problem.« In diesem Moment klingelte Paulines Handy. »Hallo? Louisa?« Ariane stand leise auf und verließ das Zimmer mit einem kurzen Winken. »Hallo, Kleine. Wie geht’s dir? Wir konnten das letzte Mal ja nur kurz sprechen.« »Mir geht es immer noch gut, Lou. Wie geht es euch? Was macht das Tanzen?« »Oh, uns geht’s super. Ich tanze diese Saison unter anderem die Giselle und es ist toll! Das ist so ein fantastisches Ballett, wenn ihr das auch mal aufführt, wäre es die perfekte Rolle für dich. Technisch sehr anspruchsvoll, aber sie macht so viel Spaß«, schwärmte Louisa. Wie immer, wenn Louisa ihr Tanzen lobte, spürte Pauline die Hitze in ihr Gesicht steigen. »Danke. Sag mal, warum hattest du denn das letzte Mal angerufen? Und jetzt auch wieder. Du meldest dich doch sonst nicht so oft?« »Ach«, erwiderte Louisa ausweichend. Irgendetwas war im Busch und so wie es klang, wollte ihre Freundin nicht damit herausrücken. »Darf ich mich nicht für meinen Schützling interessieren? Ich meine, du hast doch heute deine neue Mitbewohnerin bekommen, oder nicht? Wie ist sie so?« Treffer. Louisa wechselte das Thema, ignorierte ihre Frage komplett und drehte den Spieß um. Pauline sah zur Tür, die Ariane hinter sich geschlossen hatte, und schloss die Augen. »Ariane ist nett. Sehr nett sogar. Ich mag sie. Es ist genau der richtige Zeitpunkt für eine neue Mitbewohnerin gewesen. Ich habe das gebraucht, Louisa.« Ihre Stimme brach und sie schluckte ärgerlich die Tränen hinunter, die sich in ihren Augen sammelten. »Was ist los? Ist etwas passiert? Warum hast du nichts gesagt? Warum hast du das gebraucht?« Die besorgten Fragen prasselten nur so auf sie herein und Pauline verzog die Mundwinkel zu einem gequälten Lächeln. »Ich kann doch nicht immer zu euch kommen, wenn es mir schlecht geht, Lou. Ich muss das allein schaffen. Nichtsdestotrotz hat mir der halbe Tag mit Ariane bereits gezeigt, wie einsam ich war. Ich hatte nie das, was du mit Serena und Amber hattest. Nie. Seit ihr alle die Schule verlassen habt, habe ich versucht, mich mehr mit den anderen zu beschäftigen, aber das bin ich nicht. Es ist mir egal, wer sich mit wem trifft und warum wer jetzt mit wem Stress hat. Ich will einfach nur tanzen. Es ist … schwierig …« Sie brach ab und holte tief Luft. »Ich verstehe, was du meinst«, begann Louisa vorsichtig. »Du warst schon früher eine Einzelgängerin. Selbst als du mit uns zusammen warst, hast du dich abseits gehalten. Immer. Du hast dir die Hilfe geholt, die du gebraucht hast, und das war es.« »Willst du etwa sagen, ich hätte euch ausgenutzt? Dich ausgenutzt? Das wollte ich nie! Das war niemals meine Absicht!« Pauline spürte heiße Scham in sich aufwallen. Sie wollte nicht so sein wie Judith und Samantha, die immer nur auf ihren Vorteil bedacht waren. »Nein, oh mein Gott, natürlich nicht! Bist du verrückt? Ich habe das nicht so gemeint. Es war mehr so, als hättest du ein gewisses Maß an Interaktionsmöglichkeiten am Tag zur Verfügung und wenn das Maß voll war, dann wolltest du lieber allein sein. Nicht im Sinne von nur für dich, sondern du wolltest einfach deine Ruhe haben. Du hast gern bei uns gesessen und selbst getanzt oder uns zugesehen, aber du wirktest immer, als wärst du in deiner eigenen Welt. Das war okay für uns. Du hast uns nie gestört, im Gegenteil. Es war schön, nicht immer komplett allein trainieren zu müssen. Man strengt sich so viel mehr an, wenn einem jemand zusieht.« Louisas sanfte Erklärung beruhigte Pauline, weshalb sie wieder lächelte. »Okay. Ich glaube dir. Es ist nur … Ach, ich weiß nicht. Ich kann es gar nicht richtig in Worte fassen.« Sie seufzte leise und hörte auf einmal laute Stimmen. »Lou, ich muss auflegen, da ist irgendwas auf dem Gang los.« »Alles klar. Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst.« »Na klar. Bis dann.« Sie beendete das Gespräch und war mit drei großen Schritten an der Tür angelangt und riss sie auf. Dort prallte sie direkt gegen Ariane, die mit dem Rücken zur Tür stand und lautstark mit drei anderen Mädchen diskutierte, die sie nicht kannte. »Was ist denn hier los? Man hört euch in der halben Schule, seid ihr verrückt?« »Halt dich da raus, Ballerina. Wir mischen uns ja auch nicht in eure Streitigkeiten ein«, schnauzte eine Brünette sie an und wandte sich wieder an Ariane, die ein paar Schritte zur Seite gegangen war, um Pauline Platz zu machen. »Pack deine Sachen und verschwinde. Ich werde nicht zulassen, dass du den Ruf unseres Teams ruinierst.« »Ich habe es dir bereits gesagt und ich sage es dir gerne noch mal: Ich habe nicht gedopt. Ich kann dir gerne alle meine Bluttests zeigen, aber ich bezweifle, dass du sie verstehst, wenn du nicht einmal verstehen kannst, dass die Schulleitung mir glaubt«, gab Ariane zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Offensichtlich ging es schon eine Weile so hin und her. »Das ist mir so was von scheißegal! Wir sind ein gutes Team, ein sehr gutes und du passt nicht zu uns.« »Du meinst, weil mein IQ höher ist als der von einem Stück Brot? Keine Sorge, ich werde euer Team sicherlich nicht verderben.« Ariane rollte mit den Augen und wandte sich zum Gehen, doch das andere Mädchen hielt sie fest. »Ich bin noch nicht fertig mit dir!«, zischte sie, doch jetzt wurde es Pauline zu bunt. Sie griff nach ihrem Handgelenk und zog sie von Ariane weg. »Ich glaube, du bist fertig. Jeder hat dich gehört und du hast deinen Standpunkt klargemacht. Gebracht hat es allerdings nichts. Die Schulleitung hat Ariane aufgenommen, also warum solltest du etwas dagegen tun können? Verzieh dich jetzt, bevor irgendwer sieht, wie sehr du dich hier gerade blamierst.« Pauline gab ihr einen kleinen Schubs und das andere Mädchen funkelte sie an. »Ich sehe schon, dich hat sie bereits eingewickelt, aber mich führst du nicht hinters Licht. Ich werde dich im Auge behalten und du kannst Gift darauf nehmen, dass ich dich melden werde, sobald ich etwas Verdächtiges entdecke, Ariane Weißenhof.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand mit ihren zwei Freundinnen um die Ecke. »Was war das denn?«, fragte Pauline stirnrunzelnd Ariane, die mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck den Gang entlang blickte. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Ich wollte dir ein bisschen Ruhe geben zum Telefonieren und habe mir gerade überlegt, ob ich in den Park gehen soll, als diese drei Tussis aufgetaucht sind. Offensichtlich haben sie nach mir gesucht, denn sie kamen direkt auf unser Zimmer zu. Und dann gingen diese lächerlichen Anschuldigungen los und wir sind laut geworden. Tut mir leid, wenn es dich gestört hat.« »Schon okay, du hättest auch nicht rausgehen müssen. Es war nur Louisa, eine alte Freundin, die inzwischen nicht mehr auf der Schule ist. Lass uns rausgehen, dort werden wir ungestörter sein als in unserem Zimmer.« Zusammen gingen sie langsam durch die Gänge der Schule nach draußen, wo sie sich einen abgelegenen Platz auf einer Wiese in der Sonne suchten. »Also, du weißt jetzt schon ganz schön viel über mich. Ich weiß über dich nur, was in der Zeitung stand und das bisschen, was mir die Lehrer erzählt haben. Was machst du denn, wenn du nicht trainierst?«, fragte Pauline neugierig darauf, mehr von ihrer Mitbewohnerin zu erfahren. Ariane warf ihr einen kurzen Blick zu und hielt ihr Gesicht dann wieder in die Sonne. »Ich bin langweilig. Ich mache das, was alle in meinem Alter machen. Shoppen, tanzen gehen, all so was. Völlig uninteressant eigentlich. Das Training hat sowieso den Großteil meiner Zeit gefressen.« »Klar, aber das kann doch nicht alles sein, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Was war mit deinen Freunden? Bekannte? Du hast gesehen, wie es bei mir ist. Es ist nur fair, wenn du mir jetzt ein bisschen was von dir erzählst«, bohrte Pauline nach und bemerkte erstaunt, wie Ariane sich bei ihren Fragen versteifte. »Ich hatte immer nur die Leute aus meinem Verein. Die hatten wenigstens zur gleichen Zeit frei wie ich. Das hat es einfacher gemacht, sich zu verabreden, und man hatte immer Themen, über die man reden konnte.« »Habe ich was Falsches gesagt? Wenn ja, dann tut es mir leid. Scheint heute irgendwie nicht so ganz mein Tag zu sein.« Sie schickte ein entschuldigendes Lächeln hinterher und Ariane erwiderte es. »Nein, es ist alles okay. Ich will nur wirklich nicht mehr so viel an früher und zu Hause denken. Es schwebt immer noch über mir wie so eine dicke schwarze Wolke und der Streit vorher hat auch nicht gerade dazu beigetragen, meine Laune zu heben. Ich wollte das hier als einen Neuanfang sehen. So war es ja auch gedacht, aber wenn ich die ganze Zeit daran denke, was war, komme ich niemals darüber hinweg«, erklärte sie. Pauline hatte das Gefühl, Ariane versteckte noch etwas, doch wenn sie es nicht erzählen wollte, dann sollte es wohl nicht sein. »Alles klar, ich verstehe schon.« Sie verfielen in ein angenehmes Schweigen.
***
Am nächsten Morgen wurde Pauline von ungewohntem Rascheln geweckt. »Was ist denn los? Bist du etwa wach? Warum bist du schon angezogen?«, murmelte sie, als sie Ariane entdeckte, die im Jogginganzug an der Tür stand und schuldbewusst zu ihr blickte.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken. Ich konnte nicht mehr schlafen und wollte die Gunst der Stunde nutzen und vor dem Frühstück noch eine kleine Runde laufen gehen.« Augenblicklich war Pauline hellwach. »Allein? Warte, ich komme mit. Nachdem, was du gestern zu Mike gesagt hast und nach dem Streit, riskieren wir lieber nichts.« Sie sprang aus dem Bett und zog sich ihren Jogginganzug über ihre Schlafsachen. Sekunden später war sie fertig und lief mit Ariane leise in den Park. Sie schlugen ein gemütliches Tempo ein und Pauline fing an zu sprechen: »Darf ich dir Fragen zu deinem Sport stellen?« »Klar, wieso nicht?« »Na ja, nachdem ich mich gestern so in die Nesseln gesetzt habe, wollte ich lieber sichergehen. Wie kommt man denn darauf, Siebenkampf zu machen? Ich meine, ich kann ja verstehen, dass man eine oder zwei Disziplinen gut findet, aber sieben verschiedene? Und dann auch noch so grundverschiedene?« Ariane lachte laut auf. »Das hat sich so ergeben. Ich glaube, ich war ungefähr acht, als ich das erste Mal zum Leichtathletiktraining gegangen bin. Da macht man natürlich noch nicht alles und auch nicht so wettkampforientiert. Es soll alles Spaß machen, die Kinder sollen sich ausprobieren und herausfinden, was ihnen am besten liegt. Ich bin immer gern gelaufen und gesprungen und irgendwann habe ich dann vier Disziplinen trainiert. Zweihundert Meter Sprint, achthundert Meter, Hochsprung und Weitsprung. Mein damaliger Trainer war super. Er hat mich gut gefördert und ließ mich irgendwann auch die restlichen drei Disziplinen, also Hürdenlauf, Speerwurf und Kugelstoßen, ausprobieren. Speer und Kugel sind nach wie vor meine schwächsten Disziplinen, ich bin nie eine Werferin gewesen, aber der Rest gleicht es ganz gut aus. Heute mag ich die Vielseitigkeit. Man ist nicht auf eine Sache angewiesen. Geht eine Disziplin schief, hat man sechs andere, um das auszugleichen, und kann immer noch ein gutes Ergebnis abliefern. Und das Training ist viel abwechslungsreicher, als wenn man nur für eine Disziplin trainiert.« »Und was machst du am liebsten?«, keuchte Pauline, da Ariane das Tempo scharf angezogen hatte und sie musste sich anstrengen, mitzuhalten. »Wenn ich mich jetzt sofort für eine Disziplin entscheiden müsste, wäre es Hürdenlauf. Ich mag die Kombination aus Springen und Laufen. Außerdem ist es meine stärkste Disziplin, dicht gefolgt vom Hochsprung.« Sie verlangsamte grinsend und kam schließlich zum Stehen. »Sag doch was, wenn ich dir zu schnell bin. Ich kann das nicht riechen.« Pauline stieß ein keuchendes Lachen heraus. »Es geht schon«, ächzte sie und konnte sich ebenfalls ein Grinsen nicht verkneifen. »Du hast einfach längere Beine als ich und eine höhere Schrittfrequenz. Konnte ich ja nicht ahnen.« Sie ließ sich auf den gepflegten Rasen fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ariane setzte sich neben sie und hielt ihr Gesicht in die zarten Sonnenstrahlen, die bereits durch die Baumkronen blitzten. »Es ist schön hier. So ruhig. Das macht es einfacher, meine Nervosität zu bekämpfen.« Sie biss sich auf die Lippen und Pauline drückte aufmunternd ihre Hand. »Das kriegst du schon hin. Hast du schon deinen Stundenplan bekommen?« Ariane nickte. »Ja, aber ich habe ihn mir nicht so genau angesehen. Vor dem Unterricht habe ich auch keine Angst, vor dem Training schon.« »Ach Quatsch, du hast sie gestern schon in die Tasche gesteckt, das schaffst du noch mal. Vor allem, wenn du wirklich so gut im Siebenkampf bist, wie alle sagen.« Sie zwinkerte, als sie die Herausforderung übermittelte und Ariane sprang sofort darauf an. »Was heißt hier, wenn ich wirklich so gut bin? Ich bin wirklich so gut. Das werden die schon sehen. Die können sich auf etwas gefasst machen …« Sie brach ab und warf Pauline einen prüfenden Blick zu. »Das war ein Trick, oder?« Pauline sprang auf und streckte ihr die Hand hin. »Erraten. Komm, lass uns frühstücken gehen. Dann erzähle ich dir noch ein bisschen was über deine Lehrer und wir können überprüfen, ob wir zusammen Unterricht haben.« »Alles klar. Lass uns gehen.« Ariane ließ sich aufhelfen und sie eilten in ihr Zimmer, um sich vor dem Frühstück zu duschen.
***
Sie hatten tatsächlich die ersten Stunden zusammen. Pauline bat Noah, sich auf einen anderen Platz zu setzen, um neben Ariane sitzen zu können.
»Die meisten Lehrer sind wirklich okay. Melde dich ein paar Mal, beteilige dich am Unterricht und sie sind glücklich. Sie wissen, dass die meisten von uns wenig Interesse daran haben, sich für etwas anderes als ihren Sport zu engagieren«, flüsterte Pauline Ariane zu. »Pauline, ich finde es sehr löblich, dass du die neue Schülerin unter deine Fittiche genommen hast, aber wenn ihr nicht aufhört zu flüstern, werde ich mich stark dafür einsetzen, dass ihr den Stoff heute Nachmittag nachholt. Du weißt genau, dass ihr im Unterricht gute Leistungen bringen müsst.« Sie senkte den Blick und verkniff sich ein Grinsen. Sie wusste, dass das Training im Zweifelsfall wichtiger war. »Ja, Herr Seibold. Es wird nicht wieder vorkommen.« Er seufzte leise. »Das bezweifle ich stark, dennoch belasse ich es dabei. Wenden wir uns lieber den Themen für eure Jahrespräsentationen zu. Für die Neuen unter uns und diejenigen, die bei den ersten zwanzig Malen nicht aufgepasst haben: Wie üblich in den meisten Schulfächern müsst ihr keine Klausuren schreiben, sondern nur eine Präsentation pro Halbjahr halten, in der ihr euer Wissen mit euren Sportarten verbindet. In meinem Fall Englisch, das macht es euch einfacher: Ihr dürft Thema wählen, das ihr wollt, solange ihr eine halbe Stunde frei darüber sprechen könnt. Lasst euch etwas einfallen, überrascht mich, zeigt mir, dass ihr mehr könnt, als nur in den Schranken eures Sports zu denken. Bitte gebt mir bis nächste Woche Bescheid, für welche Themen ihr euch entschieden habt und wer mit wem zusammenarbeiten will. Ich denke, es ist einfacher für uns alle, wenn ich von vornherein erlaube, Zweiergruppen zu bilden.« Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite, als alle sich an die letzten Präsentationen zurückerinnerten, bei denen aus Einzelarbeiten Gruppenarbeiten geworden waren, da alle viel zu sehr mit ihren Wettkämpfen und Auftritten beschäftigt waren. Mit Fassungslosigkeit hatten die Lehrer akzeptieren müssen, dass sämtliche Schüler sich in Grüppchen zusammengetan hatten, um die Arbeit zu teilen. Nach Tagen intensiver Besprechungen und mehr als einer Warnung an die Schüler wurde schließlich beschlossen, die Präsentationen zu werten und im nächsten Jahr direkt Gruppenarbeiten zuzulassen. »Wie ist es, wenn wir zwei unterschiedliche Sportarten praktizieren? Müssen wir dann beide in der Präsentation erwähnen?«, fragte Pauline mit Blick auf Ariane und Herr Seibold zuckte mit den Schultern. »Das bleibt euch überlassen. Überrascht mich und macht etwas Neues, wenn ihr schon zu zweit seid. Sehe ich das richtig, dass du damit schon deine Partnerin gewählt hast?« Er zückte sein Notizbuch und einen Stift, als Pauline nickte. »Ja, ich mache die Präsentation mit Ariane. Wir kriegen das schon hin«, gab Pauline zuversichtlich zurück, obwohl Ariane sie zweifelnd ansah. »Wie soll das denn funktionieren? Bist du sicher, dass du nicht lieber etwas mit Noah machen willst? Dann könnt ihr einen reinen Ballettvortrag machen. Leichtathletik und Ballett, das wird nicht einfach«, wisperte sie aufgebracht, doch Pauline winkte lässig ab. »Das klappt schon. Uns fällt da ganz sicher etwas ein, das ihn vom Hocker hauen wird.« »Na, wenn du meinst.« Ariane wirkte immer noch nicht überzeugt, doch sie wandte sich erst einmal weiter dem Unterricht zu. Nachdem die Stunde beendet war, bauten sich Samantha und Judith vor Paulines und Arianes Tisch auf. »Bist du sicher, dass du mit ihr präsentieren willst? Nicht, dass sie fliegt, sobald sie einen Rückfall hat, und du dann allein dastehst«, sagte Judith. »Was soll das heißen, sobald sie einen Rückfall hat? Rückfall zu was, liebe Judith?«, fragte Pauline zuckersüß und Judith rollte mit den Augen. »Stell dich nicht dümmer, als du bist. Jeder weiß doch, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie wieder dopt. Wer einmal damit angefangen hat, hört nicht auf und …« »Sprichst du etwa aus Erfahrung oder warum bist du da so felsenfest davon überzeugt? Hast du uns etwa die ganze Zeit über etwas verheimlicht?«, stichelte Pauline. Sie spürte bereits, wie ihr Geduldsfaden angesichts der ständigen Beschuldigungen gegen Ariane dünner wurde. »Ich … Was? Nein, natürlich nicht! Was denkst du von mir? Ich will doch nur dein Bestes, ich bin deine Freundin. Schon seit Jahren, im Gegensatz zu ihr«, sie blickte zu Ariane, die mit weißem Gesicht und vor der Brust verschränkten Armen auf ihrem Stuhl saß und hektisch auf ihrer Unterlippe herumkaute. »Du kennst sie seit gestern und wir sind sofort abgeschrieben? Was ist nur los mit dir? Ich erkenne dich gar nicht wieder! Willst du wirklich zulassen, dass ihr Ruf deinen zerstört? Denn das wird passieren, wenn du nur noch mit ihr zusammensteckst. Der Ruf, den du dir hart erarbeitet hast, willst du das? Was werden Louisa und Jan denken, wenn sie das hören?« Damit platzte der Knoten in Paulines Brust und sie hob die Hand, um Judith das Wort abzuschneiden. »Wag. Es. Ja. Nicht. Versuche nicht, Louisa und Jan in das hier mit reinzuziehen. Du kennst sie nicht so gut wie ich. Du hast keine Ahnung, wie sie reagieren würden, also dichte ihnen nichts an. Und nur zu deiner Information … Louisa weiß bereits, dass Ariane meine neue Mitbewohnerin ist, und sie findet es gut.« »Aber … aber … Wieso?«, stammelte Judith fassungslos, offensichtlich verblüfft darüber, dass ihr scheinbar wichtigstes Argument nun wertlos war. »Meine Damen, wenn Sie dann so freundlich wären, Ihre Diskussion zu unterbrechen, dann könnte ich mit meinem Unterricht beginnen«, forderte ihre Mathelehrerin, die den Raum unbemerkt betreten hatte und nun ungeduldig mit den Fingern auf ihrem Pult trommelte. Tomatenrot im Gesicht und eine Entschuldigung murmelnd, schlich Judith zurück an ihren Platz, während Ariane sich aufgeregt zu Pauline beugte. »Bist du verrückt? Du stößt deine alten Freunde vor den Kopf und das nur für mich? Das ist doch Wahnsinn! Selbst wenn du nicht mehr so glücklich bist, du kennst sie doch schon ewig und mich erst seit einem Tag! Das bin ich nicht wert.« Pauline legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Lass das meine Sorge sein, okay? Ich weiß, was ich tue, und es fühlt sich endlich richtig an.« Ariane nickte wenig überzeugt, doch jetzt begann die Lehrerin mit ihrem Unterricht und beide mussten sich konzentrieren, um nicht den Anschluss zu verlieren. »Lass uns nach der Stunde trotzdem direkt verschwinden, bevor uns jemand aufhalten kann. Sicher ist sicher und zu Bio will ich wirklich nicht zu spät kommen«, flüsterte Pauline in einer unbeobachteten Minute und ihre neue Freundin stimmte wortlos zu.
***
Nach dem Mittagessen trennten Pauline und Ariane sich und gingen zum Training. Pauline machte sich auf den Weg in eines der größeren Studios zum Pas de deux und Ariane joggte langsam Richtung Stadion, um sich dem ersten Leichtathletiktraining auf der neuen Schule zu stellen. Pauline sah ihr mit gemischten Gefühlen nach und hoffte, dass sie es nicht so schwer haben würde. Dann stieß sie die Tür zum Studio auf und fiel fast über Noah, der dort bereits auf sie wartete.
»Na endlich, ich stehe mir hier schon die Beine in den Bauch. Judith und Sam haben schon wieder die Giftspritzen ausgepackt. Ich hoffe wirklich, du weißt, was du tust«, zischte er und warf bedeutungsvolle Blicke in die andere Ecke des Raumes, wo sich bereits eine Traube um besagte Mädchen gebildet hatte, doch Pauline rollte nur mit den Augen. »Ich weiß, was ich tue. Aber danke, dass auch du dir Sorgen machst. Denkst du das Gleiche wie die anderen?« Sie sah ihrem Tanzpartner prüfend ins Gesicht, bevor sie sich auf den Boden setzte, um ihre Spitzenschuhe anzuziehen. »Bist du wahnsinnig? Seit Louisa weg ist, bist du hier der Star, und das gönnen sie dir nicht, weil du dir nichts daraus machst. Du willst nur tanzen und darin bist du sehr gut. Da wird dir deine Freundschaft mit Ariane, die ja offensichtlich komplett frei von Dopingmitteln ist, sicher keinen Strich durch die Rechnung machen. Zieh es einfach weiter durch, ich halte auf jeden Fall zu euch.« Noah stemmte empört die Hände in die Seiten und Pauline grinste. »Danke für die Blumen. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir, warum sollte ich mich also ausruhen? Und du bist auch nicht sauer, weil ich nicht mit dir präsentieren will? Da habe ich gar nicht dran gedacht, tut mir leid.« Sie sah ihn zerknirscht an, doch Noah winkte ab. »Quatsch. Meine ungezählten Talente wollen auch andere nutzen. Ich habe schon einige Leute, mit denen ich mir eine Zusammenarbeit vorstellen könnte, mach dir keinen Kopf. Lass uns lieber aufwärmen.« Ohne sich weiter um das Getuschel der anderen zu kümmern, begannen sie mit Pliés in den verschiedenen Fußpositionen, darauf bedacht, alle Muskeln gleichmäßig aufzuwärmen. Und es dauerte auch nicht lange, da kam ihr Trainer in den Raum gerauscht. »So, meine Lieben.« Er klatschte in die Hände. »Stellt euch bitte alle an die Barre. Seid ihr warm? Gut, wir fangen gleich mit ein paar Basics an. Es tut allen gut, diese immer wieder zu wiederholen. Pauline, Noah, bitte tanzt eine kurze Kombination durch den Raum. Arabesque, Pirouette, Pas de bourrée und ein Sprung. Pauline, ich will lange Beine sehen. Noah, ich will, dass du deine Partnerin unterstützt. Sie hat bei dieser Kombination den härteren Job.« Gedämpftes Lachen tönte durch den Raum, während Pauline und Noah sich in Positur stellten und mit der Übung begannen. Die anderen Paare folgten kurz darauf. Immer wieder schweiften Paulines Gedanken zu Ariane ab. Wie würde ihr erstes Training ablaufen? Ob die anderen Leichtathleten sich eingekriegt hatten? Sie war so unkonzentriert, dass sie mehrere Anfängerfehler machte. »Konzentrier dich mal! Lange kann ich deine Stolperer nicht mehr abfangen! Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«, zischte Noah ihr zu und Pauline erschrak. »Tut mir leid. Ich …« Er winkte ab. »Mir egal, aber wenn du an deinen Lover denkst, dann bitte nicht während des Trainings.« »Was für ein Lover? Bist du verrückt? Wie kommst du darauf?« Noah zuckte mit den Schultern, stellte sich in Pose und tanzte sich erst durch die Schrittfolge, bis er antwortete: »Du bist wie auf Wolke sieben, als wärst du verliebt. Ich dachte, du willst nichts von Mike?« »Ich will auch nichts von Mike. Er ist ein Idiot.« Pauline schüttelte den Kopf. »Außerdem ist es mir total unangenehm, dass er immer noch nicht kapiert, dass da nie etwas zwischen uns sein wird. Ich weiß langsam echt nicht mehr, was ich tun soll.« »Was meinst du damit? Stellt er dir immer noch nach? Mädchen, das ist langsam echt nicht mehr lustig. Euer Date war vor Wochen! Und du warst vorher schon nicht begeistert von seinen Annäherungsversuchen. Soll ich mal mit ihm sprechen?« Jetzt klang ehrliche Besorgnis in Noahs Stimme mit, weshalb ein warmes Gefühl in Paulines Bauch aufwallte. Zum Glück hatte sie immer noch echte Freunde, die zu ihr hielten. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Ich werde heute mit ihm sprechen und ihm ein für alle Mal klarmachen, dass das nichts wird. Ich wollte das schon seit einer Weile machen, aber dann kam Ariane dazwischen und irgendwie hatte ich keine Zeit mehr, aber es muss passieren. Heute«, sagte Pauline fest entschlossen, bevor sie sich wieder voll und ganz dem Training widmete. Nach der Stunde war es keine große Überraschung, dass Mike auf Pauline wartete. »Hat der eigentlich kein eigenes Training?«, murmelte sie Noah zu, der aufmunternd ihre Hand drückte und dann verschwand. Sie sah ihm kopfschüttelnd nach, bevor sie sich wieder dem Fußballspieler zuwandte, der ein paar Schritte näher gekommen war. Viel zu nah für Paulines Geschmack. »Mike, was für eine Überraschung! Hast du denn kein eigenes Training?« Sie merkte selbst, wie gekünstelt freundlich ihre Stimme klang, doch er zog es offensichtlich vor, ihren Tonfall zu ignorieren, und schloss sie fest in seine Arme. »Ich habe gerade Pause und dachte, ich sehe mal nach meinem Mädchen«, gab er zurück, während Pauline darum kämpfte, wieder losgelassen zu werden. »Dann kannst du kurz fünf Minuten entbehren? Ich müsste etwas mit dir besprechen.« »Klar, Prinzessin. Gehen wir zu mir oder zu dir?« »Lass uns in unseren Gemeinschaftsraum gehen«, bat Pauline. Sie wollte auf gar keinen Fall mit ihm allein sein und der Gemeinschaftsraum bot genug Platz, sodass sie ungestört, aber nicht komplett allein sein konnten. Sein freches Grinsen verschwand, doch er folgte ihr widerspruchslos. Im Gemeinschaftsraum der Tänzer suchte sie sich eine ruhigere Ecke und ließ sich in einen Sessel fallen. »Also«, begann sie und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Sie hätte gerne mehr Zeit gehabt, um sich Stichpunkte zu machen, doch jetzt nutzte sie die Gelegenheit, um Mike noch einmal zu sagen, dass er sie in Ruhe lassen sollte. »Mike, ich weiß nicht, warum es immer noch nicht in deinen Kopf geht, dass ich nichts von dir will und auch niemals eine Zukunft für uns gesehen habe. Wir sind nicht Jan und Louisa, werden wir nie sein. Und ich hoffe wirklich, du verstehst, dass dein aufdringliches Verhalten mir langsam echt lästig wird. Bitte, lass mich in Ruhe. Ich bin mir sicher, du findest bald ein Mädchen, das besser zu dir passt. Ich passe jedenfalls nicht zu dir und ich muss dir ehrlich sagen, wenn du nicht aufhörst, werde ich es der Schulleitung melden. Ich kann mich nicht mehr auf mein Training konzentrieren, weil ich ständig denke, dass du auf mich wartest. Das geht nicht. Bitte versteh das.« Das der letzte Teil ein wenig geflunkert war, störte sie nicht, wohl jedoch Mike. Er wirkte völlig ruhig, doch sie hatte oft genug ein Spiel der Fußballer gesehen, um zu wissen, dass er gerade dann am gefährlichsten war. Wie eine Bombe kurz vor dem Explodieren. »Du meinst das ernst, nicht wahr? Das ist kein Spiel, um mich hinzuhalten. Du meinst wirklich, wir würden nicht zusammenpassen?« Sein kalter Tonfall ließ Pauline frösteln und sie spürte den Drang, alles zurückzunehmen, die Konfrontation nicht weiter zu suchen, doch sie gab sich innerlich einen Ruck und nickte mit zusammengebissenen Zähnen. »Ja, ja, das meine ich. Es tut mir leid.« Beinahe hätte sie die Hand ausgestreckt, um sie tröstend auf seinen Arm zu legen, doch er stand abrupt auf. »Dann weiß ich ja jetzt Bescheid. Prinzessin.« Sie zuckte zusammen, als er ihr seinen Kosenamen für sie voller Verachtung entgegenschleuderte, doch er beachtete sie nicht mehr, sondern verließ den Raum und ließ sie wie erstarrt zurück. Was bedeutete das jetzt? Hatte er es verstanden? Akzeptiert? Würde er sie ab jetzt in Ruhe lassen? Würde es schlimmer werden? Was sollte sie jetzt tun? »Hier bist du, ich suche dich schon die ganze Zeit. Ist etwas passiert?« Schnaufend ließ Ariane sich in den Sessel fallen, den Mike verlassen hatte, und Pauline schrak aus ihren Gedanken. »Was? Oh, du bist es. Nein, eigentlich ist nichts passiert, es war nur … seltsam. Wie war dein Training?« Ariane grinste schmerzlich und rieb sich das Knie. »Soweit ganz gut. Ich merke, dass ich doch einige Wochen nicht richtig trainiert habe. Und ich bin voll gegen eine Hürde geknallt. Das hat die Giftspritzen natürlich gefreut. Alles in allem bin ich aber recht zufrieden. Es hätte besser sein können, aber das kann es ja fast immer.« »Oje, dein Knie? Ist es sehr schlimm?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es geht schon. Ich wollte es gleich noch mit einer Salbe einreiben, damit die Prellung schneller heilt. Es ist wirklich halb so wild. Aber was ist bei dir los? Was war seltsam?« Pauline zuckte mit den Schultern. »Ich habe mit Mike gesprochen. Du kannst dir sicher denken, warum …« Sie rekapitulierte die ganze Geschichte und Ariane runzelte die Stirn. »Das ist tatsächlich seltsam. Du wirst abwarten müssen, was jetzt passiert. Dein Standpunkt ist klar.« »Das sehe ich eben auch so, aber es fühlt sich so unbefriedigend an. Es ist nicht abgeschlossen. Da könnte immer noch etwas kommen«, gab sie zu und stand auf. Zusammen gingen sie zurück in ihr Zimmer, wo Ariane ihr Knie verarztete und Pauline erst einmal unter die Dusche schlüpfte, bevor sie sich für das Abendessen umzog. Vor dem großen Speisesaal blieb Pauline stehen und sammelte ihren Mut. »Na dann, los. Kann nicht schlimmer werden, oder?« Ariane nickte aufmunternd. »Genau, und wir können uns zu meinem Team setzen, wenn du willst. Bis auf die drei Mädchen von gestern sind alle echt nett.« Pauline grinste erleichtert. »Das klingt gut. Besser als die zickigen Tänzer auf jeden Fall.« Sie stießen die Tür auf und waren sofort umgeben vom Lärm der anderen Schüler. Zusammen holten sie sich Salat, Nudeln mit Soße und einen Joghurt als Nachtisch, bevor sie sich nach einem freien Platz umsahen. »Also mein Team sitzt dort hinten. Da ist auch noch etwas frei, aber da am Fenster wäre noch ein Zweiertisch und dein Tanzpartner winkt auch schon. Was machen wir?« Ariane deutete einmal durch den Raum und Pauline verzog das Gesicht. »Lass uns bei deinem Team sitzen, wir haben gestern bei den Tänzern gesessen und nach dem Drama heute Morgen verspüre ich keine Lust, das noch mal wiederzukäuen.« Sie setzten sich in Bewegung und ließen sich an dem großen Tisch nieder, an dem bereits ein paar der Leichtathleten saßen. »Das ist Pauline, meine Mitbewohnerin. Mein Team: Sascha, Alex und Esra«, stellte Ariane alle vor. Pauline nickte ihnen kurz zu und wandte sich dann ihrem Teller zu. »Du bist Tänzerin, oder?«, fragte Alex neugierig und sie nickte. »Ja, bin ich. Wieso?« »Warum hat man euch zusammengesteckt? Bei Lisa wäre auch noch ein Bett frei gewesen. Findest du das nicht seltsam?«, bohrte er weiter und Pauline zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, habe auch nicht gefragt. Es war mir egal. Vielleicht, weil ich echt lange allein war und sie das nicht mehr wollten? Denkst du dir gerade Verschwörungstheorien aus?«, fragte sie mit vollem Mund und versuchte sich an einem Lächeln. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Nein, ich bin einfach von Natur aus neugierig. Und so oft werden unterschiedliche Sportler ja nicht gemischt. Nicht mehr, seit das Rugbyprojekt beendet wurde.« Sie schluckte, bevor sie antwortete: »Stimmt. Aber das Ende des Projektes war doch abzusehen, nachdem Louisa und Jan die Schule verlassen hatten.« »Das ist jetzt schon das x-te Mal, dass ich diese Namen gehört habe und ihr macht mich echt neugierig. Wer sind Louisa und Jan und was hat sie so besonders gemacht?«, mischte Ariane sich ein und Alex grinste. »Na, das lass dir mal von deiner Mitbewohnerin erklären. Die war meines Wissens mittendrin in dem Drama.« Er zwinkerte Pauline zu und sie konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Richtig.« Sie dachte an die Geschehnisse von vor ein paar Jahren zurück, als ihre Freunde noch auf der Schule gewesen waren und sie selbst ihren ersten großen Auftritt gehabt hatte. »Vor ein paar Jahren haben die Leiter von Rugby und Ballett beschlossen, dass es den Schülern guttun würde, auch mal die Herausforderungen einer anderen Sportart kennenzulernen. Daher wurden gemeinsame Trainingseinheiten der Tänzer und der Rugbyspieler veranstaltet. Jan und Louisa waren dabei ein Team und sind im Laufe der Zeit zusammengekommen. Das Ganze war ein schönes Hin und Her und ist schließlich im Trainingslager der Tänzer eskaliert. Ich habe damals die kleine Klara getanzt, Louisa war die große Klara im Nussknacker, daher haben wir doch recht viel Kontakt gehabt und ich war mittendrin. Glücklicherweise hat sich alles geklärt und die zwei haben letztes Jahr geheiratet. Als sie von der Schule gegangen sind, wurde das Rugbyprojekt aber wieder aufgelöst. Es war sowieso nur ein Probedurchlauf und es gab offensichtlich nicht das gewünschte Ergebnis. Dafür gab es wohl zu viele Beziehungen. Trotzdem hängen die Tänzer und die Rugbyspieler seitdem immer öfter miteinander ab. Neugier befriedigt?« Sie wandte sich an Ariane, die an ihren Lippen gehangen hatte. »Das klingt so, als ob du da eine ganze Menge verschwiegen hast. Aber ja, Neugier vorerst befriedigt.« Sie grinste. »Und du hast immer noch Kontakt mit Louisa?« Pauline lief rot an. Inzwischen war Louisa eine weltbekannte Tänzerin beim Royal Ballet in London und Pauline wollte nicht, dass jemand dachte, sie würde einen Nutzen daraus ziehen, dass sie ihre Freundin war. »Ja, wir haben immer noch Kontakt. Meistens nur telefonisch, da beide echt eingespannt sind, aber ich habe sie schon mehrmals in London besucht.« »Ach stimmt, sie hat dich angerufen, oder nicht?« Pauline nickte nur und wandte sich wieder ihrem Teller zu. Es war ihr unangenehm, so im Mittelpunkt zu stehen, und sie hoffte, dass die Neugier der anderen jetzt befriedigt war.
***
Abends lagen Ariane und Pauline in ihren Betten. »Tut mir leid, dass die anderen dich vorher so ausgefragt haben«, sagte Ariane und setzte sich doch noch mal auf. »Ich hatte das mittags schon hinter mir. Ich glaube, bei denen passiert nicht so viel, sodass sie nach den Geschichten der anderen Sportler süchtig sind. Und soweit ich das mitbekommen habe, gibt es bei euch Tänzern echt das meiste Drama.«
»Das stimmt wohl. Ist schon in Ordnung. Sie haben dann ja aufgehört. Ich mag es nur nicht so, im Mittelpunkt zu stehen. Auf der Bühne geht das, da muss ich nicht mit anderen Menschen sprechen oder interagieren, aber so im normalen Leben? Da brauche ich das echt nicht.« Pauline drehte sich gähnend im Bett um, bevor sie weitersprach. »Aber immerhin waren sie nett. Viel netter als die drei von gestern. Haben die sich denn eingekriegt?« »Es ging. Ein paar spitze Kommentare und natürlich die Schadenfreude, als ich gegen die Hürde gesprungen bin. Ansonsten waren sie recht friedlich.« »Das freut mich. Deine Trainer sind auch gut?« »Ich kann nicht klagen, aber nach einem Tag ist das schwer zu sagen. Ich warte ab und sehe, was der erste Wettkampf bringt.«