Читать книгу Der Geruch des Todes - Cat Warren - Страница 9
ОглавлениеObwohl sie für ihre guten Eigenschaften geschätzt werden − Jäger, Wächter, Hirte, Freund, Arbeiter − sind es doch dieselben Hunde, die Gräber verunstalten, Kadaver fressen und die Tore zur Hölle bewachen …
- Paul Shepard, The Others: How Animals Made Us Human, 1997 -
Zwei Monate nach Solos Ankunft fand ich mich in Nancy Hooks Garten in Zebulon wieder. Ich saß auf der Kante eines metallenen Klappstuhls. Nancy ließ sich im Liegestuhl nach hinten sinken und nahm einen Schluck aus ihrer in einen Bierkühler gewickelten Limonadenflasche. Sie war ein freundlicher, lockerer Mensch − abgesehen von der Warnung, die sie hin und wieder an die Hunde richtete, die in ihren Zwingern miteinander stritten. „Na wartet, gleich komm ich rüber ..!“ Sie verstummten. Es war Mitte Juli und sowieso zu warm zum Raufen. Japankäfer brummten vorbei. Ringelspinner-Raupen hatten einen großen Teil der Blätter des riesigen Pekannussbaums, unter dem wir saßen, eingesponnen und kahlgefressen.
Ich kannte Nancy noch aus der Zeit, zu der ich mit Zev das Gruppentraining besuchte, das sie auf einem Parkplatz abhielt. Sie hatte uns beide herzlich und freundlich aufgenommen, wenn sie auch kein besonders großes Interesse an Zev hatte: Er war so sanftmütig und unauffällig, dass man ihn in einer Hundegruppe leicht übersah.
Seither hatte ich Nancy kaum gesehen, doch ich begann, mich besser an sie zu erinnern, als ich in die Einfahrt bog und den schwarzen Hirschjagd-Aufkleber auf ihrem Pritschenwagen sah. Ihr Haar war immer noch kupferrot, ihre kastanienbraunen Augen von Lachfältchen umrandet. Sie trug Tarnhosen.
Ich hatte Nancy eine verzweifelte E-Mail geschrieben, als ich mich erinnerte, wie praktisch sie dachte und humorvoll sie war. Ich hatte beide diese Eigenschaften dringend nötig. „Klar“, sagte sie, „komm zu mir ins Camp Hook, und bring deinen Hund mit!“ Sie war kompetent und entspannt. Ich war nervös und redete viel. Solo, der sich unmöglicher verhielt, als der schlimmste viermonatige Schäferhund sollte und jedwede Anmut vermissen ließ, hatte die Nackenhaare gesträubt, den Rücken gekrümmt und wilde Augen. Immer wieder preschte er auf die Zwingeranlage zu, halb Hengstfohlen, halb Tasmanischer Teufel. Er knurrte und stieß sich mit den Pfoten am Maschendrahtzaun ab. Ich sprang aus meinem Klappsessel hoch, fischte nach den Keksen in meiner Bauchtasche und versuchte, ihn abzulenken und das Verhalten, das Nancy zu sehen bekam, zu minimieren. „Solo? Solo! Schau! Braaaaaver Hund!“ Ich stopfte sein gieriges Maul mit Leberkeksen.
“Hör auf, ihn vollzutexten“, sagte Nancy, „und gib ihm nicht so viele Kekse. Du machst ihn zu einer Memme.“ Meine Hand erstarrte mitten in der Luft. „Er ist einfach ein Macho“, sagte sie. „Ein kleines Arschloch. Was willst du mit ihm machen?“
Und mit dieser einfachen Frage begann meine eigenartige Hundewelt, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. „Was willst du mit ihm machen?“ hieß nicht endlose Therapiesitzungen und Beruhigungsmittel, um Solo zu einem schläfrigen und unterwürfigen Hündchen zu machen, das hin und wieder ein warnendes Hundeflüsterer-“Tzzzzz!“ und einen drohenden Zeigefinger brauchte, um nicht aus der Reihe zu tanzen. Genauso wenig sollte es heißen, dass ich Solo mit Clicks und Keksen zum perfekten Unterordnungs-Turnierhund machen konnte. Das war nichts für Solo; außerdem langweilte auch ich mich bereits mit der Hundesportwelt. Nancy wollte damit auch nicht sagen, dass Solo der typische Hundezonen-Hund werden könne, der es mir erlaubte, bis zum Sonnenuntergang mit anderen entspannten Hundebesitzern auf einer Parkbank zu tratschen, während wir unseren Hunden beim Spielen und Bellen zusahen.
Sie meinte: „Welchen Job soll dein Hund haben?“
Ich hatte keine Ahnung. Ich wollte, dass er keine Zeit hatte, um das zu tun, was Nancy gerade zu sehen bekam. Ich wollte, dass er eine Aufgabe hatte. Keinen vorgeblichen Job, der nur dazu diente, sein kleines Herz der Finsternis auszulasten. Nach Möglichkeit auch keine Aufgabe als Therapiehund in einem Seniorenheim, nachdem er sich verhielt wie ein Elefant im Porzellanladen. Ich wollte, dass seine Aufgabe einen Sinn hätte, weil ich den Sinn meiner eigenen Arbeit ständig hinterfragte.
Nancy hörte sich meine Ängste und Zweifel nicht lange an. „Du denkst zu viel nach“, sagte sie. „Genau das ist dein Problem.“
Sie befahl mir, Solo in Ruhe zu lassen. Ich zog meine Hände aus dem fettigen Keksbeutel und legte sie auf die Knie. Ich wandte meinen Blick von Solos Boshaftigkeit ab. Innerhalb weniger Minuten gesellte er sich zu uns und ließ sich mit einem Seufzer ins schattige Gras fallen. Schlimm zu sein macht keinen Spaß, wenn niemand darauf reagiert.
Nancy und ich besprachen meine Optionen. Sie unterrichtete alles, von Stubenreinheit über Verhaltensmodifikation bis hin zu Unterordnung und Fährtenarbeit. Solo zum Rettungshund auszubilden war nicht ideal. Ich konnte meine Studierenden weder auf einen Vortrag zum feministischen Essentialismus warten lassen, während ich nach einer vermissten Dreijährigen suchte, die in Wahrheit bloß bei den Nachbarn mit Action-Figuren spielte, noch konnte ich mich darauf verlassen, dass mein Körper in der Lage wäre, einem Hund auf der Suche kilometerweit durchs Dickicht zu folgen; ich könnte Asthmaanfälle bekommen, mein Ischiasnerv sich entzünden; ich würde mit angelaufenen oder gesprungenen Brillengläsern durchs Gebüsch torkeln. Die Vermissten hatten eine bessere Chance verdient, als ich sie zu bieten hatte.
Das sah Nancy ein. Außerdem war ihre Begeisterung für den sozialen Aspekt der Rettungshunde-Arbeit im Laufe der Jahre abgeflaut. Ihre Beschreibung der Intrigen der Rettungshundeteams erinnerte mich stark an das Anglistikinstitut meiner Fakultät, nur ohne dessen viktorianischen Charme. Weitere Probleme tauchten auf: Ich wollte keine Suchausrüstung tragen, die mich aussehen ließ wie eine Pfadfinderin. Und dann war da die Vorstellung eines Teams. Klar, ich konnte mit anderen zusammenarbeiten, aber mit dem fröhlichen Spruch „Einer für alle, alle für einen!“ konnte ich wenig anfangen. Zu Solo passte er auch nicht. Es war besser, wenn er sich nicht ständig in der turbulenten Welt sozialer Gepflogenheiten unter Caniden zurechtfinden musste. Ihn aussenden, um gemeinsam mit einer Reihe selbstbewusster Spürhunde zu suchen? Sie würden sich seine Garstigkeit nicht gefallen lassen, und das Einzige, was von ihm überbliebe, wären Büschel von schwarz-rotem Fell am Wegesrand. Es gab eine Lösung für all die Zeitprobleme, meine zweifelhafte Teamfähigkeit und Solos psychopathischen Welpencharakter. Nancy war sehr zufrieden mit sich selbst, als ihr diese einfiel: „Ein Leichenhund.“
Ich wusste nicht genau, was Nancy meinte, doch hatte ich bereits eine Ahnung: „Toter Hund.“ Ich bin gut darin, Wörter aneinanderzureihen und zu wissen, was sie bedeuten. Das ist es schließlich, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene.
„Es passt perfekt“, jubelte Nancy. Die Toten würden auf uns warten, und während sie warteten, verströmten sie Geruch. Mit der Ausnahme von steifgefrorenen Leichen wird der Geruch im Laufe der Zeit immer stärker. Leichenspürhunde und ihre Führer arbeiteten systematisch − und meistens alleine, nicht mit anderen Menschen und Hunden. Die Aufgabe des Hundes war sowohl einfach als auch komplex: jene Stelle zu finden, wo der Geruch am stärksten ist, und sie seinem Menschen zu zeigen. Irgendjemand muss diese Arbeit machen. Angehörige und die Exekutive wollen meistens − nicht immer, aber meistens −, dass die Leiche gefunden wird. „Außerdem“, sagte Nancy strahlend und die Lachfältchen um ihre Augen wurden deutlich sichtbar, „macht es wirklich Spaß. Du wirst es lieben!“
Sie vermied es, zu erwähnen, dass meine lachsfarbenen Leinenhosen vermutlich nicht das ideale Outfit für die Suche wären.
Am Ende unserer Trainingseinheit schickte sie Solo und mich auf den Heimweg. Ich war verschwitzt, roch nach Leberkeksen und der Gedanke an vermisste Personen erfüllte mich mit unerklärlicher Freude. Der erschöpfte Solo schlief friedlich auf der Rückbank; einzig seine riesigen Pfoten zuckten hin und wieder. Diesmal stießen sie in die klimatisierte Luft statt gegen den Maschendrahtzaun.
Nancy, die mit meinen zwanghaften Gewohnheiten vertraut war, verbot mir explizit, über Leichenspürhundetraining zu lesen. Ich würde Solos Training vermasseln, wenn ich zu früh zu viele Theorien las. Sie erlaubte mir zwei Ausnahmen: Bill Syrotucks Scent and the Scenting Dog und Andy Rebmanns Cadaver Dog Handbook. Ich bestellte beide Bücher. Da Warten nicht zu meinen Stärken gehört, warf ich danach den Computer an und tippte „der Tod und der Hund“ in mein Suchfenster.
Im Jahr 2012 publizierten tschechische Archäologen ihren Fund dreier Totenschädel, die domestizierte Hunde vermuten ließen: Sie hatten kürzere Schnauzen und ein breiteres Neurocranium als bei ihren wölfischen Cousins üblich. Zwischen die Kieferknochen eines der 31.500 Jahre alten Totenschädel war ein flaches Knochenfragment − möglicherweise das eines Mammuts − geschoben worden. Der Mammutknochen wirkte so bewusst platziert und sinnträchtig, dass die Archäologen nicht anders konnten, als zu spekulieren: War der Knochen Teil eines Begräbnisrituals, der die Seele des Tieres beschwichtigen und es zum Zurückkommen einladen sollte? Sollte es durch die Gabe darin bestärkt werden, verstorbene Menschen zu begleiten?
Kein Haus stünde für mich fest und sicher auf der von Ahura geschaffenen Erde, gäbe es nicht meinen Hütehund oder Haushund.
- Ahura Mazda, zarathustrischer Gott -
Die Spekulationen sind gar nicht so weit hergeholt. Hunde lauerten zwar für lange Zeit am Rande der Zivilisation, doch luden wir sie auch ein und ließen ihnen einen besonderen Status zukommen. Seit Tausenden Jahren und in zahlreichen Religionen verlassen sich die Lebenden darauf, dass Hunde ihre Toten geleiten − dass sie uns vom Diesseits ins Jenseits führen, wo auch immer das Jenseits liegt. Nur wenige Mythen sind ähnlich weit verbreitet. Die Versuchung, diese Aufgabe den Hunden zu übergeben, ist verständlich: Sie scheinen geradewegs dafür gemacht. Hunde heulen den Mond an und warnen uns, dass der Tod am Horizont lauert. Sie hören und riechen, knurren und sträuben die Nackenhaare und warnen uns vor Gespenstern, die unsere stumpfen Sinne übersehen.
Sie fressen auch gerne − sogar uns, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Tote Menschen unterscheiden sich nur leicht von anderen Tierkadavern. Wir bestehen aus Protein. Tote beginnen, sofern das nicht bewusst verhindert wird, zu stinken und werden damit täglich attraktiver für Schmeißfliegen, aber auch weiter entwickelte Tiere wie Hunde.
Teilweise kommt die religiöse Verbindung zweifellos von einem Ritualisieren der düsteren, aber durchaus nützlichen Tatsache, dass Hunde und andere Caniden wie Schakale Abfälle fressen. Der Mensch beobachtete dieses Verhalten − freudig und ohne böse Folgen für die Tiere − und kam zu dem Entschluss, dass Hunde und ihre nächsten Verwandten mächtig sein mussten, immun gegen die Dämonen des Todes, welche die Leichen umgeben. Der Nutzen der Caniden ging über das simple Beseitigen der Toten hinaus. So wurde im alten Ägypten in einem pragmatischen wie auch religiösen Schritt der Schakal-Hund zum Gott gemacht. Anubis, der Freund der Toten, war kein Grabräuber, sondern der Beschützer der Toten in ihren Gruften.
Während Anubis das Thema zahlreicher Kunstwerke und Berichte ist, sind nur ein oder zwei Dokumente aus dem neunzehnten Jahrhundert erhalten, die davon erzählen, wie die alten Baktrer (im heutigen Afghanistan) und die Hyrkanier (damals Teil des persischen Reiches) mit jener Vorliebe der Caniden umgingen. In den Berichten lesen wir, dass die Baktrer Hunde einsetzten, die sie als canes sepulchrales bezeichneten. Sie hatten eine ganz bestimmte Aufgabe: die Toten zu fressen. Als Gegenleistung erhielten sie die beste Pflege und Aufmerksamkeit, „denn es schien nur angemessen, dass die Seelen der Verstorbenen in gesunden und starken Körpern wohnen sollten.“ Kein schlechter Deal für die Verstorbenen, die sich in einem mobilen, flauschigen Sarg aufhalten durften! Die wenigen geschichtlichen Informationen, die uns erhalten sind, schweigen sich darüber aus, was nach dem Tod des Hundes passierte.
Auch für die Zarathustrier in Persien spielten Hunde eine zentrale und vielschichtige Rolle auf Begräbnisritualen. Wie die Ägypter und Baktrer hatten sie offenbar beschlossen, das Beste aus der hündischen Liebe zu stinkendem Protein zu machen. Hütehunde waren bereits ein zentraler Teil des nomadischen Erbes der Zarathustrier. Forscherkoryphäe Mary Boyce schreibt zum antiken Iran, dass „sterblichen Hunden“ in heiligen zarathustrischen Texten „auffällig große Bedeutung zukommt“. Die Hunde wurden mit Feuer verglichen − sowohl schützend als auch zerstörerisch. „Es ist wahrscheinlich, dass den Hunden diese Macht zugesprochen wurde, weil sie zugleich im Avesta immer wieder im Zusammenhang mit dem Verschlingen von Leichen auftauchen“, schreibt Boyce.
Ein Hund, der dies tun konnte, ohne von Nasu, dem Dämon der Fäulnis, heimgesucht zu werden, musste unter dem Schutz der Götter stehen. Das Begräbnisritual im Zarathustrismus hieß sagdid, „vom Hund gesehen“. Diese Aufgabe musste von einem besonderen Hund erledigt werden. Ein Hund, der an einen Deutschen Schäfer erinnert. Der ideale sagdid-Hund war ein mindestens vier Monate alter Rüde. Er war „goldbraun“ mit „vier Augen“ − vielleicht ähnlich wie der rostrot-schwarze Solo mit zwei unruhigen schwarzen Flecken an jener Stelle, an der beim Menschen die Augenbrauen säßen. Einer der kleinen gusseisernen Gegenstände im Teheran-Museum sieht aus wie ein gedrungener Deutscher Schäferhund, obwohl die Rasse damals noch nicht existierte. Ein typischer damaliger Hund könnte weiß gewesen sein, mit gelbbraunen Augen − wahrscheinlich ähnlich dem israelischen Kanaan-Hund, einer alten Hütehundrasse, die es heute noch gibt, oder einer der Wachhunderassen aus derselben Gegend.
Die Hunde, die zum sagdid ausgewählt wurden, wurden für ihre Arbeit bezahlt. Und die Zarathustrier wussten, wie man einen Hund trainiert: Drei Stück Brot wurden auf den Toten gelegt, um den Hund zu verleiten, sich zu nähern, den Blick auf der Leiche ruhen zu lassen und Nasu zu vertreiben. Genauso begann ich, Solo beizubringen, den Geruch des Todes zu erkennen und ihm nachzugehen − nur dass ich kein Brot, sondern Leberkekse und Spielzeug verwendete, um sein Interesse zu wecken.
Die Arbeit der Hunde endete nicht mit dem sagdid. Nachdem der vieräugige Hund seine Arbeit beendet hatte, brachten Totenträger die Leiche fort, und die Dorfhunde und Geier folgten und feierten ein Festmahl.
Zarathustrische Hunde − von den Schäfern über die Jäger bis zu den Hausund Dorfhunden − hatten ein gutes Leben: Sie wurden besonders reich gefüttert, wenn Menschen starben. Dabei bekamen sie nicht nur ein Stück Brot und halfen beim Vertilgen der Leiche, nein, sie erhielten auch ein ganzes Ei und Teile der Opfergaben für die Toten.
Wenn zarathustrische Haushunde starben, wurden sie auf besondere Art verabschiedet. Boyce schreibt: „Bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde ein verstorbener Haushund in ein altes heiliges Hemd gewickelt, mit einem heiligen Gürtel verbunden und zu einen unwirtlichen Ort gebracht, wo kurze, feierliche Ritualen für seine Seele zelebriert wurde.“
Mir gefielen alle Rituale, ganz besonders das für den Haushund. Es ging einen Schritt weiter als das, was wir nach Zevs Tod gemacht hatten: Der Tierarzt hatte uns seine Asche in einer Plastikdose mitgegeben. Die Dose befand sich in einem burgunderroten Seidenbeutel, der mit einer kleinen Regenbogenbrücke bestickt war. Die Dose steht immer noch am Eichenschreibtisch meines Urgroßvaters. Ich weiß nicht, worauf wir warten. Wir sollten seine Asche an einen unwirtlichen Ort bringen.
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte, Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden, Und dem Gevögel umher.
- Homer, die Ilias -
In der westlichen Welt wurden die Hunde nicht annähernd so gut behandelt wie bei den Zarathustriern – und das, obwohl wir der Wölfin, die Romulus und Remus fütterte und aufzog, zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet wären. Wer hätte Rom und damit unsere Version der Zivilisation begründet, wäre sie nicht gewesen? Wir schrecken davor zurück, Hunde in unser religiöses Leben zu integrieren, und vor der Vorstellung, dass Hunde Menschen fressen könnten, graut uns. Homer machte sich die Anziehungskraft, die Leichen auf Hunde ausüben, in der Ilias zunutze und schuf damit die perfekten Rahmenbedingungen für Horror und Chaos.
Der große, böse und zumeist dunkle Hund lauert am Rande der westlichen Zivilisation. Hekate, die hellenistische Göttin der Geister und der Zauberei, hatte eine schwarze Hündin als Schutzgeist an ihrer Seite. Die Griechen opferten Hekate schwarze Welpen; überhaupt stellten Hunde in vielen Religionen eine beliebte Opfergabe dar. Zerberus, der dreiköpfige Höllenhund, erlaubte neuen Seelen, das Totenreich zu betreten, doch ließ er niemanden wieder gehen. Gamr, ein blutbefleckter Wachhund der nordischen Mythologie, der stark an einen Deutschen Schäferhund erinnert, bewachte das Tor zur Unterwelt, in die Übeltäter verbannt wurden. Die Cŵn Annwn, Geisterhunde der walisischen Mythologie, sagten den Tod vorher.
Zumindest erlaubten die polytheistischen Religionen den Hunden, eine Vielzahl von Rollen zu spielen. Vielleicht verschlangen sie Kadaver, doch waren sie auch Wächter und Führer. Homer eröffnete die Ilias zwar mit gierig schlingenden Hunden, doch in der Odyssee wird der sterbende Hund seines Helden zum Symbol für Treue: Einzig und allein Argos erkennt Odysseus, als dieser nach zwanzigjähriger Abwesenheit von seinen Reisen zurückkehrt. Die drei großen monotheistischen Religionen hingegen gestehen den Hunden traditionell keine Vielzahl an Rollen zu. Sophia Menache, Historikerin an der Universität von Haifa, postuliert, dass jüdische, christliche und muslimische Religionen sich von Hunden und deren vertrauter Beziehung zum Menschen bedroht fühlen: Im landwirtschaftlichen Leben spielten Hunde beim Hüten, Bewachen und Ziehen von Lasten eine zentrale Rolle. Sie erinnerten die monotheistische Würdenträger an die allgegenwärtige Konkurrenz der Sekten, welche häufig Tiere verehrten. Wenn wir uns also mit den organisierten Religionen der westlichen Welt auseinandersetzen und die Frage stellen, ob die Hunde einen Vorteil daraus zogen, muss die Antwort Nein lauten. Im neuen Testament werden Hunde zweiundvierzig Mal erwähnt − und zwar fast ausschließlich im negativen Sinne. Die Antipathien und Unsicherheiten der drei Religionen wurden im Laufe der Jahrhunderte milder. In vielen muslimischen Ländern wird allerdings noch immer kurzer Prozess mit Hunden gemacht, und so mancher Christ strebt bis heute nach alleiniger Herrschaft über die Natur.
Bis in die Gegenwart sind wir in der westlichen Welt seltsam fasziniert von der Rolle, die Hunde beim Tod spielen. Scamp, ein Schnauzer in einem Seniorenheim in Ohio, machte 2007 Schlagzeilen, weil er dazu neigte, vor der Zimmertür jener Patienten, deren Tod kurz bevorstand, bellend auf- und abzulaufen. Über einen Zeitraum von drei Jahren hatte er „auf unheimliche Weise“ den Tod von vierzig Menschen vorhergesagt, erzählt Adeline Baker, die Leiterin des Heims in einem Interview mit Inside Edition. Die Patienten taten alles andere, als Scamp aus dem Weg zu gehen: „Wir sehen ihn nicht als den Sensenmann“, erklärt Adeline Baker. „Es ist schön, zu wissen, dass am Ende unseres Lebens jemand bei uns sein wird, selbst wenn wir keine Familie haben.“
Vielleicht wurde Scamps Gegenwart als tröstend empfunden, weil er nicht groß und schwarz, sondern klein und grau war und lustige Augenbrauen hatte. So oder so hält das hartnäckige Gerücht, dass große, schwarze Hunde in US-amerikanischen Tierheimen häufiger eingeschläfert werden als andere, wissenschaftlichen Studien nicht stand.
In unseren modernen Zeiten haben wir für die Homer’sche Wortwahl der Leichen verschlingenden Hunde Euphemismen gefunden. Forensische Wissenschaftler sprechen heute von der „Prädation der Hunde“, doch obwohl wir einen hübschen lateinischen Namen für das Phänomen haben, halten wir lieber einen gewissen Sicherheitsabstand ein. Und doch: Vor ein paar Jahren strömten Kinder in unser örtliches Wissenschaftsmuseum, um eine der populärsten Ausstellungen zu sehen, die je aufgezogen worden waren: Es ging um Insekten und den Tod. TV-Serien wie CSI und Bones − Die Knochenjägerin haben uns im Umgang mit Maden und damit, was sie uns über das Verwesungsstadium eines Kadavers erzählen, erstaunlich abgehärtet und zur Beliebtheit eines ganzen Forschungsgebiets beigetragen: forensische Entomologie, die Lehre vom Tod und den Insekten. Wissenschaftler wissen jede Menge über die Rolle von Bären im Zusammenhang mit Kadavern; über die Rolle der Hunde ist weniger bekannt. Die Handvoll Studien, die zu diesem Thema auffindbar sind, zeigen jedoch, dass Hunde und ihre Cousins, die Kojoten, eine große Rolle beim Beseitigen menschlicher Überreste spielen.
Die Medien scheinen jede Menge darüber zu wissen, wie Hunde Tote finden. Die Geschichten finden sich überall, Hunderte, ja Tausende Varianten derselben Story: Jemand führt seinen Hund spazieren − und findet eine Leiche. Ich bin mir sicher, dass eine Studie zeigen würde, dass gewöhnliche Familienhunde auf Spaziergängen oder beim Streunen weit mehr Leichen finden als Hunde, die speziell auf diese Aufgabe trainiert wurden. Das ergibt sich ganz einfach aus den Millionen Hundenasen da draußen, die Überstunden arbeiten, ohne dafür bezahlt zu werden.
Je nachdem, wie man die Welt sieht, ist es etwa eine gute oder eine schlechte Idee, den eigenen Hund ohne Leine durch den Wald laufen zu lassen. Aber seien wir ehrlich: Angeleinte Hunde finden Tote nicht mal annähernd so oft wie Hunde im Freilauf. Im Allgemeinen ist das Auffinden von Leichen eine gute Sache, auch wenn Hundebesitzer und -sitter meist wenig begeistert von der Entdeckung sind.
Ollie, ein Golden Retriever, war an einem Januartag im Jahr 2012 im Freilauf in Hollywood Hills unterwegs. Seine Hundesitterin und ihre Mutter waren mit ihm und acht weiteren Hunden unterwegs. Ollie sprang ins Gestrüpp und begann, begeistert mit einer Plastiktüte zu spielen. „Er buddelte, buddelte, buddelte und bellte“, berichtet Lauren Kornberg, die Hundesitterin, dem örtlichen Radiosender in einem Interview. Ollie zerfetzte die Tüte und trug etwas Großes, Rundes im Maul. Als er es fallen ließ, rollte es in den Straßengraben. Kornberg gab zu, dass es ihre Mutter war − „eine verantwortungsbewusste Erwachsene“ −, die nachsah, worum es sich handelte, und den Kopf fand.
2011 brachte ein vierjähriger Labrador namens Fisch einen verwesenden menschlichen Arm in den Vorgarten seiner Besitzer in Mission, Texas. Der Polizei gelang es, Hand- und Armknochen sicherzustellen, bevor sie in Fischs Rachen verschwanden. Der erwachsene Hundebesitzer war traumatisiert − anders als seine achtjährige Tochter, die mit dem Fernsehreporter plauderte. Sie erzählte, dass ihr Hund auch gern den Hühnerstall der Nachbarn besuche: „Fisch findet alles. Zu Ostern hat er uns Eier gebracht!“
Ich kann die Reaktion ihres Vaters nachvollziehen. Auch ich würde Fischs Geschenke nicht annehmen.
Hunde, schreibt Paul Shepard, die menschliche Gräber plündern, erinnern uns an unseren bevorzugten Umgang mit Leichen: In der westlichen Welt verstauen wir sie meist sehr schnell an einem Ort, an dem wir sie nicht sehen müssen. Hunde wie Fisch rufen uns die Unordnung und das Chaos ins Gedächtnis, die notwendigerweise herrschen, wenn Arme oder Hände an Orten herumliegen, an denen Hunde sie finden können. Wir bevorzugen Hände entweder in Form von steriler Asche oder fachmännisch mit Formaldehyd konserviert, in einem Sarg, über dem Bauch des Toten überkreuzt. Andererseits: Wie du mir, so ich dir. Sowohl in der Vergangenheit als auch noch heute wird rund um die Welt Hund gegessen. Von schlechtem Gewissen kann keine Rede sein: Vieles deutet darauf hin, dass Hunde als Fleischlieferanten gehalten wurden und immer noch werden. In einigen Kulturen waren sie das erste landwirtschaftliche Nutztier, und in manchen sind sie es noch heute.
Meine ersten Recherchen zum Thema Leichenspürhunde schockierten mich kein bisschen. Mir war klar, dass es einen Unterschied machte, ob ich über das Thema las oder mich einem Toten gegenüber fand, doch die Vorstellung der Arbeit mit Leichenspürhunden brachte mich nicht aus dem Konzept. Im Gegenteil − sie machte mich glücklich. Vielleicht war mein Optimismus meiner Kindheit in den Wiesen und Wäldern, umgeben von Fischen und Jagen, Ausweiden, Rupfen und Häuten zu verdanken. Oder der Tatsache, dass ich mich um meine gelähmte Mutter gekümmert und viele Jahre in einem Pflegeheim gearbeitet hatte. Vielleicht war ich auch darum glücklich, weil mein Vater, der Biologe, mich gelehrt hatte, tote Organismen unvoreingenommen, aber nicht uninteressiert zu betrachten.
Die Arbeit mit Leichenspürhunden machte einen praktischen und unkomplizierten Eindruck auf mich. In den fröhlichen Worten Edward Davids, eines Leichenbeschauers, der zugleich zu den ersten gehörte, die Hunde auf diesem Gebiet trainierten: Die „Liebe zum Verfaulten“ liegt den Hunden im Blut. Warum sollten wir diese Liebe nicht hernehmen und ihr eine sozial nützlichere Richtung geben, als sich in toten Eichhörnchen zu wälzen?
Warum nicht diese Liebe hernehmen und sehen, ob wir mit ihrer Hilfe ein klein wenig Ordnung ins Chaos bringen können?