Читать книгу Lockvogel für den Killer: 3 Strand Krimis - Cedric Balmore - Страница 12
VI
ОглавлениеDer frühe Morgen war frisch und erinnerte Roth daran, dass der September schon halb vorbei war und der Sommer nicht ewig dauern würde. Trotzdem wollte sich so etwas wie Vorfreude auf die Fahrt in den Süden nicht einstellen. Er hatte nicht das Gefühl, in Urlaub zu fahren. Er spürte eine unbestimmte Spannung, die seinen Brustkorb zusammenpresste.
Er sah sie schon von Weitem am Straßenrand stehen. Sie trug Jeans und einen weiten Pullover. Mit den Beinen klemmte sie ihr Gepäck fest, das, wie er anerkennend feststellte, nur das Notwendigste enthalten konnte - ein paar Kleidungsstücke in einen Schlafsack eingerollt und mit zwei Riemen zusammengehalten.
Sie sah an ihm vorbei, bis er neben ihr hielt, und ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie ihn in dem alten Campingbus erkannte.
Er sprang heraus und grinste flüchtig, als er die seitliche Schiebetür öffnete und die Rolle hinten hineinwarf.
Tina stand starr.
»Na los«, sagte er munter. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
»Mit dem Ding da wollen Sie nach Frankreich fahren?«
»Der Bus ist sieben Jahre alt, ich habe ihn vor drei Jahren gekauft und ihn immer sehr gut behandelt. Ich habe keinen anderen Wagen.«
»Wollen Sie etwa darin schlafen?«
»Selbstverständlich.« Er öffnete die Beifahrertür, nahm ihren Ellbogen und schob sie einfach auf den Sitz. Er lief auf die andere Seite, zog sich hinter das Lenkrad und ließ den Motor wieder an. »Alles klar?«
»Und ich? Wo soll ich schlafen?«, fragte Tina, während er langsam anfuhr.
Er deutete mit dem Daumen nach hinten, wo die Bettrolle irgendwo gelandet war.
»Wo haben Sie sich denn vorgestellt zu schlafen? In der Jugendherberge? Oder im Novotel?«
Sie schwieg.
»Erst mal werden wir fahren«, sagte er. »Haben Sie einen Führerschein?«
»Klar. Aber das Ding da kann ich nicht fahren. Nie!«
»Es ist einfacher, als Sie denken«, sagte er. »Sie werden sehen. Und ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, dass wir mit dem idiotischen Sie aufhören. Ich heiße Jürgen. Du kannst aber auch Roth zu mir sagen.«
Sie zog ein Bein an und stellte die Ferse auf den Sitz. Über das Knie hinweg sah sie ihn an.
»Ich habe noch nie du zu 'nem Bullen gesagt«, sagte sie.
Es war Mittag, und sie hatten Karlsruhe schon fast erreicht, als sie in den ersten Stau gerieten.
»Nicht schlecht«, meinte er. »Wenn's hier nicht zu lange dauert, schaffen wir es heute noch bis Lyon.«
»Lyon?«, fragte sie entsetzt. »Weißt du, wo das ist?«
»Morgen im Süden wird es heiß, und je mehr wir heute Abend noch schaffen, desto besser haben wir es morgen. Sagen wir, wir fahren bis zehn, egal, wie weit wir kommen.«
»Zehn!«, stöhnte sie. »Und ich dachte, wir machen 'nen irren Trip mit dieser Kiste, und nicht 'ne Rekordfahrt.«
Sie hatte sich schnell daran gewöhnt, einen Bullen zu duzen. Die ganze Zeit, von Hamburg an, hatte sie fast ununterbrochen geredet, Fragen gestellt, ihm erzählt, was ihr gerade einfiel. Sein Anteil an der Unterhaltung war wesentlich geringer ausgefallen.
Es wurde jetzt allmählich warm im Inneren des Wagens, während sich die Schlange langsam auf die Baustelle zuschob, die den Stau verursachte.
Tina kletterte nach hinten und holte eine neue Dose Cola aus dem eingebauten Kühlschrank.
»Das mit dem Kühlschrank dahinten finde ich ätzend«, sagte sie, als sie die Dose aufriss und gierig trank. »Du auch?« Sie hielt ihm die Dose hin.
Er schüttelte den Kopf. »Die Disco-Sprüche passen aber nicht zu dir«, sagte er. »Wo hast du die her? Doch nicht von der Szene?«
»Meinst du, ich lerne so'n Zeugs aus der Zeitung? Ich flippe rum, weißt du das nicht?«
»Du hast doch 'nen Job.«
Sie lachte. »Bei der alten Schraube? Das war kein richtiger Job. Nur Aushilfe mit gefälschten Aushilfszetteln. Immer wenn vierhundert Mark auf meinen Namen voll waren, hat sie 'nen anderen genommen. Einer genügte meistens. Mehr als achthundert hab' ich kaum mal ausgeklinkt.«
»Das ist doch illegal!«, sagte er.
»Das musst du ihr sagen. Jetzt redest du wieder wie'n Bulle.«
»Quatsch«, sagte er ärgerlich. »Wenn du wüsstest, wie oft ich die Augen zudrücke und einen laufen lasse, würdest du nicht so reden! Du hast den Job also hingeschmissen!«
»Klar. Meinst du, ich krieg bei der noch Urlaub? Obwohl auch bei Aushilfe Urlaub drin ist, hab' ich mal gehört.«
»Und was hast du deinen Eltern erzählt?«
»Dass ich 'n paar Tage wegfahre, mit 'nem Typ.«
»Hast du gesagt, mit wem?«
»Nee.«
Roth war irgendwie erleichtert, dass sie ihnen nicht gesagt hatte, dass sie mit ihm unterwegs war. Erst mit Sigrid, jetzt mit Tina.
»Sie haben mir sogar Geld gegeben. Ich bezahle, wenn wir das nächste Mal tanken.«
»Kommt nicht infrage. Ich wäre sowieso gefahren.«
»Ich bestehe aber darauf. Ich bin nicht eine, die sich aushalten lässt.«
»Davon bin ich auch nicht ausgegangen.«
Sie fuhren durch die einspurige Baustelle, die Geschwindigkeit nahm wieder zu.
»Bist du immer so ernst?«, fragte sie nach einiger Zeit.
»Nein«, antwortete er schroff.
»He, ich wollte dir nicht zu nahetreten!«
»Schon gut, entschuldige.«
»Jetzt bist du sauer.«
»Bin ich nicht.«
»Stört es dich, wenn ich Bulle sage? Ich meine, wenn ich einen Polizisten so nenne?«
»Es ist nur ein Wort«, antwortete er achselzuckend. »Es kommt immer drauf an, wie es gemeint ist.«
»Aha.«
»Hast du Erfahrung mit Polizisten?«
»Nicht viel.«
»Was für welche?«
»He, du bist aber ganz schön neugierig! Willst du mich aushorchen?«
»Du brauchst es mir nicht zu erzählen.«
»Als ich siebzehn war, bin ich von meinen Eltern weg. War einfach zu eng bei denen, verstehst du? Da bin ich mit so Typen rumgezogen. Da haben sie uns ein paarmal gefilzt. Ganz schön herb, sage ich dir, deine Kollegen. Wenn einer denkt, dass der andere kein Theater macht, weil er 'n Ausländer ist, Türke oder so, dann haut er drauf. Einfach so. Die stecken doch alle voller Frust. Den Bubis mit Schlips tun sie nichts. Nur denen, die sie für Assis halten.
»He, warum sagst du nichts dazu?«
»Weil ich wütend bin.«
»Glaubst du, ich lüge?«
»Nein. Ich bin wütend, weil ich weiß, dass das stimmt, was du sagst.«
»Dann bist du kein richtiger Bulle«, sagte sie überzeugt.
Vor gut einer Stunde hatten sie die französische Grenze bei Mulhouse passiert. Auf der gut ausgebauten, nahezu leeren Autobahn zwischen Belfort und Besan çon kamen sie schnell voran. Nur hin und wieder überholte er einen Lastzug, einen Lieferwagen oder einen Autotransporter.
An Tinas Geplapper hatte er sich längst gewöhnt. Er ließ es an seinen Ohren vorüberrauschen, antwortete nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Deshalb traf ihn ihre nächste Frage wie ein Messerstich in die Seite.
»Hast du schon mal einen abgeknallt?«
Er blinkte nur kurz, obwohl das langsamere Wohnwagengespann noch weit voraus war. Abrupt zog er den Campingbus auf die Überholspur.
Von hinten raste heftig blinkend ein schwarzer Citroen heran. Der Bus begann zu schlingern, als Roth ihn in die rechte Spur zurückzog. Er unterdrückte einen Fluch. Der Fahrer des Citroen, ein grauhaariger Franzose, machte wütende Handzeichen, als er vorbeischoss.
Tina schwieg.
»Du hast ein Vokabular drauf ...«
Er blickte aufmerksam in den Rückspiegel. Ein roter Wagen erschien in seinem Blickfeld, blieb aber zurück und hielt dann einen gleichbleibenden Abstand. Ihm war ein schneller roter Sierra mit Hamburger Kennzeichen aufgefallen, als er die Autobahn bei Bad Krozingen verließ, um noch einmal aufzutanken, bevor sie nach Frankreich hinüberfuhren, wo das Benzin erheblich teurer war.
Der Sierra war abgebogen, und Roth hatte nicht weiter auf ihn geachtet.
»Habe ich ins Fettnäpfchen getreten?«, fragte Tina.
»Schon gut, du kannst ja nichts dafür.«
Er überholte endlich das Wohnwagengespann und kehrte in die rechte Spur zurück. Der rote Wagen schloss etwas auf. Roth erkannte ihn an der Form - es war ein Sierra.
Rote Sierras musste es massenhaft geben.
»Du willst nicht darüber sprechen«, sagte Tina verständnisvoll. »Das kann ich verstehen.«
»Dann lass es auch!«
Roth spürte ihren verwunderten Blick von der Seite. Lange würde sie nicht schweigen können.
»Jetzt weiß ich auch, warum du so ernst bist! Du hast diesen Seemann erschossen, diesen armen Teufel! Ich hab's gelesen. Das warst du!«
Er presste die Zähne aufeinander.
»Entschuldige«, sagte sie zerknirscht. »Du hast es ja nicht mit Absicht getan.«
Er schwieg, und sie hielt jetzt ebenfalls den Mund. Jedenfalls so lange, bis er auf einen Parkplatz einbog.
»Was ist jetzt?«, fragte sie.
»Wir legen eine Pause ein, und anschließend fährst du, damit du dich an den Wagen gewöhnst, solange es noch hell ist.«
Er sah nach draußen. Der rote Sierra zog vorbei. Von den beiden Insassen nahm er kaum mehr als die Umrisse wahr. Es waren Männer, so viel war sicher. Und auf dem Kennzeichenschild erkannte er deutlich die Buchstaben HH für Hamburg.
Rote Sierras mochte es massenhaft geben, doch wenn einem tausend Kilometer von Hamburg entfernt innerhalb kurzer Zeit gleich zwei begegneten, oder wenn einem derselbe Wagen zwei Mal unter die Augen kam, musste man stutzig werden.
Muss man das wirklich?, fragte sich Roth, als der Sierra hinter einer Kurve seinen Blicken entschwand.
Tinas Proteste blieben aus, als er nach der kurzen Rast auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
Sie kletterte hinter das Lenkrad. Er half ihr, den Sitz nach vorn zu schieben. Die Lage der Gänge hatte er ihr schon während der Fahrt erklärt.
Sie fuhr miserabel.
Während sie auf die Parkplatzausfahrt zufuhr, würgte sie den Motor dreimal ab, und als der Wagen dann endlich ruckend rollte, lenkte sie ihn sofort auf die Bahn, obwohl die Geschwindigkeit noch viel zu gering war.
»Was glaubst du, wofür die Einfädelspur da ist?«, herrschte er sie an.
»Entschuldige«, sagte sie kleinlaut. »Ich hab' seit der Fahrschule nicht mehr am Steuer gesessen!«
Der Wagen schwankte und ruckte, aber sie biss die Zähne zusammen und versuchte, mit der Herausforderung fertigzuwerden. Weil die Autobahn weiter ziemlich frei blieb und somit keine hohen Anforderungen an ihre nicht vorhandenen Fahrkünste stellte, gewann sie ihre gewohnte Unbekümmertheit bald zurück.
»Geht doch prima!«, lobte sie sich selbst, als der Bus gleichmäßiger dahinrollte. »Nur ein bisschen laut, wie?«
»Das liegt an der luftgekühlten Maschine«, sagte er.
»Sag mal, hast du eigentlich kein Radio hier drin? Oder wenigstens 'nen Recorder?«
»Damit's noch lauter wird? Nee, ich brauche kein Radio, wenn ich unterwegs bin.«
»Du bist doch noch gar nicht so'n alter Schlaffi, der schon seine Ruhe braucht, auch am Steuer«, sagte sie.
»Pass lieber auf die Straße auf! He, nicht so schnell!«, sagte er dann scharf und klammerte sich unwillkürlich am Sitz fest, als die Rückfront eines Lasters vor ihm aufwuchs. Sie riss das Lenkrad nach links, ohne in den Rückspiegel zu blicken. Zum Glück war die Überholspur frei.
»Ging doch astrein«, meinte sie, während er den angehaltenen Atem ausstieß. »Gib mir mal 'ne Zigarette!«
»Kommt nicht infrage, während du fährst«, sagte er entschieden.
Sie verstummte für kurze Zeit. Er beobachtete den Verkehr, der allmählich dichter wurde. Unwillkürlich achtete er auf die Kennzeichen der Fahrzeuge in seiner Umgebung. Es waren viele deutsche Wagen in diesem Teil Frankreichs unterwegs, doch bis zum Einbruch der Dunkelheit begegnete ihnen kein einziger mit Hamburger Kennzeichen.
»Wie war sie eigentlich?«, fragte Tina nach einiger Zeit.
»Wer?«, fragte er verblüfft, obwohl er genau wusste, wen sie meinte.
»Sigrid.«
»In welcher Beziehung? Soll ich Punkte vergeben?«
Sie wurde rot. »Das ist typisch Mann! Denkt immer nur an das eine.«
»Woran denkt ihr Frauen denn, wenn ihr von Mann und Frau sprecht?«
»Jedenfalls nicht nur daran«, sagte sie betont. »Ich meine, war sie nett? Lustig? War sie wie ein Kumpel? Oder war sie egoistisch? Siehst du, es gibt eine ganze Menge Eigenschaften, die nichts damit zu tun haben.«
»Mit Sex, meinst du.«
»Meine ich.«
»Sie war nett. Wir sind prima miteinander ausgekommen.«
»Und trotzdem hast du sie sitzen lassen! Warum? Hatte sie kein Verständnis für deinen Job?«
»Doch.«
Helga war es, die irgendwann feststellte, dass sich mit einem Polizisten kein Familienleben entwickeln ließ. Dabei hatte Helga vermutlich mehr an ein hektisches Miteinander innerhalb ihres großen Freundeskreises gedacht als an eine Familie. In Helga hatte er sich Hals über Kopf verknallt, und er hatte sie geheiratet, bevor er erkannte, wie oberflächlich sie in Wirklichkeit war.
»Hast du Sigrid nicht geliebt?«, fragte Tina.
»Ich weiß es nicht so genau«, antwortete er.
Mit Sigrid hatte ihn eine intensive Partnerschaft verbunden, in der jeder seinen eigenen Freiraum voll ausschöpfen konnte. In der Beziehung zu ihr hätte er sich vielleicht eine engere Bindung gewünscht als Sigrid, die ihre äußere Freiheit nicht aufgeben wollte - die eigene Wohnung, den Wagen, den gut bezahlten Job.
»Was war denn mit der anderen Frau? Hat es nicht geklappt?«, wollte Tina dann wissen.
»Nein«, antwortete er kurz angebunden.
»He, ich will dir nicht zu nahetreten«, beteuerte sie. »Ihr seid doch geschieden, oder?«
»Ja.«
»Wie ist das, musst du immer noch zahlen?«
Er schüttelte den Kopf. Die Scheidung hatte keinerlei Probleme aufgeworfen. Sie waren zu kurz verheiratet gewesen, um ein nennenswertes Vermögen aufzubauen. Helga hatte einen sicheren Job und ihre eigene Rente, und er hatte ihr alles überlassen, was sie an geldwerten Mitteln besaßen - einen Bausparvertrag, der noch lange nicht zuteilungsreif war. Er war froh, dass er die Raten nicht weiterzuzahlen brauchte. Nein, die Scheidung hatte keine Probleme aufgeworfen. Sie hatte nur ein paar Narben hinterlassen, zum Glück an Stellen, wo man sie nicht sah.