Читать книгу Lockvogel für den Killer: 3 Strand Krimis - Cedric Balmore - Страница 13

VII

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Es war schon dunkel, als sie sich Lyon näherten. Hinter M ȃcon hatte er das Lenkrad wieder übernommen. Jetzt fuhr er auf einen der Gebührenschalter bei Villefranche zu und reichte zwei 100-Franc-Scheine hinaus. Auf der erleuchteten Anzeigetafel erschien der Preis.

»Was? Einhundertzweiunddreißig Franc? Sind die wahnsinnig?«, schrie Tina. »Das sind doch ...«

»Ein Campingbus ist für die ein Kleinlaster, da kann man nichts machen.« Er steckte das Wechselgeld ein und fuhr wieder an. »Warte erst mal ab, was das Benzin hier kostet!«

»Ist ja Wahnsinn! Warum fahren wir dann nicht auf anderen Straßen? Oder kosten die auch was?«

»Morgen nehmen wir Landstraßen«, sagte er. »Die sind gebührenfrei, Gott sei Dank. Heute wollen wir vorankommen. Bist du noch nicht müde?«, fragte er dann.

»Nein«, behauptete sie.

»Hinter Lyon suchen wir uns einen Platz zum Schlafen«, entschied er.

»Von mir aus können wir die ganze Nacht durchfahren. Das heißt«, fügte sie schnell hinzu, »wenn du kannst.«

Er sah sie kurz an und grinste. »Ich brauche meinen regelmäßigen Schlaf«, sagte er. »Wenn du willst, kannst du es dir hinten auf der Bank bequem machen. Wenn du die Beine anziehst, geht es ganz gut.«

Sie schüttelte stumm den Kopf und blickte starr geradeaus auf die unzähligen roten Lichter vor ihnen. Der Verkehr war noch sehr dicht, aber wenn es vor dem Tunnel nicht zu einem Stau kam, konnten sie Lyon in einer halben Stunde passiert haben.

Er war nach wie vor überzeugt, dass die Begegnung mit dem roten Sierra aus Hamburg am Mittag rein zufällig gewesen sei, weil jede andere Möglichkeit absurd war.

Wer sollte ihm folgen? Und warum?

Dennoch beobachtete er seine Umgebung mit erhöhter Aufmerksamkeit. Für französische Fahrzeuge waren nur gelbe Hauptscheinwerfer zugelassen, in seinen Rückspiegeln bildeten sie eine nahezu einheitliche Wand aus gelbem Licht, in der das hellweiße Gleißen eines deutschen oder niederländischen Scheinwerferpaares besonders auf fiel. Er schrieb es deshalb weniger seiner geschärften Wachsamkeit als vielmehr dem stets wachen Misstrauen des Polizisten zu, dass er den hellen Wagen bemerkte, dessen linker Scheinwerfer hin und wieder flackerte und manchmal sogar aussetzte, sodass nur das schwächere Standlicht zu sehen war. Doch das eigentlich Bemerkenswerte war, dass der Wagen ihm beharrlich zu folgen schien.

Mit hundert Stundenkilometer fuhr er in den Tunnel hinein. Rücksichtslos wechselte er die Spur, wenn er dadurch schneller vorwärtskam.

»He, bist du überdreht, oder was?«, sagte Tina. Sie stemmte sich gegen die Bodenplatte und stützte sich mit einer Hand gegen das Armaturenbrettpolster. Die eben angerauchte Zigarette warf sie aus dem Fenster.

Roth achtete nicht auf ihre Angst. Er war wieder hellwach. Der Wagen mit dem defekten Scheinwerfer fiel etwas zurück, und als Roth aus dem Tunnel kam und durch die Kurve fuhr, konzentrierte er sich auf die vor ihm liegende Strecke.

Unten am Rhone-Ufer drehte er wieder voll auf. Der Verkehr lief zügig. Sein Blick fiel auf die Tankanzeige. Die Nadel stand bereits im Reservefeld.

Weit hinter sich glaubte er einmal das Flackern eines weißen Scheinwerfers zu erkennen, doch er war seiner Sache nicht sicher.

»Willst du mir nicht sagen, was in dich gefahren ist?«, fuhr Tina ihn an.

Er nahm das Gas zurück und wechselte in die rechte Spur.

»Ich wollte den Franzosen mal zeigen, wie man in einer Großstadt fahren muss«, sagte er.

»Beknackt, total bescheuert.« Tina schüttelte den Kopf.

»Wie fahren denn die Typen, mit denen du sonst rumziehst?«, fragte er. »Wie Schlaffis?«

»Jedenfalls nicht so bescheuert. Auf einmal ... und jetzt bummelst du wieder daher wie'n Anfänger.«

»Das Benzin ist alle«, sagte er und lenkte den Bus auf die große Elf-Tankstelle und steuerte eine freie Tanksäule an.

Er hielt. Bevor er ausstieg, zog er eine Handvoll französischer Münzen aus der Tasche und deutete auf das flache Gebäude mit dem Quick-Shop.

»Du kannst dich da frisch machen, wenn du willst. Oder deine Eltern anrufen.«

»Ich muss mal aufs Klo«, sagte sie. Sie nahm etwas von dem Kleingeld. »Kriegst du morgen wieder, ich muss erst Geld eintauschen.«

»Zum Telefonieren reicht das nicht. Hier, nimm die Franc-Stücke!«

Sie winkte ab und sprang aus dem Wagen. »Sigrid hat auch nie zu Hause angerufen, wenn sie unterwegs war, das sind unsere Alten nicht gewöhnt.« Sie lief auf das hell erleuchtete Service-Gebäude zu.

Roth öffnete den Tank und steckte den Zapfhahn in den Stutzen. Er ließ den Blick an der langen Reihe der Zapfsäulen entlanggleiten. Vier oder fünf Durchfahrten weiter hielt eben ein weißer Golf.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Fahrer. Im diffusen Neonlicht erkannte er nur breite Schultern unter einem gelben Polohemd und dichtes, leicht gewelltes Haar von undefinierbarer Farbe.

Als der Zapfhahn abschaltete, hängte er ihn an die Säule zurück, schloss den Tank wieder ab und setzte sich ans Lenkrad. Langsam rollte er auf die Kassendurchfahrt zu. Tina kam aus dem Gebäude. Er hielt an und stieß die Beifahrertür auf. Dabei beugte er sich weit über den Sitz, bis der Golf in sein Blickfeld geriet.

Der Fahrer war damit beschäftigt, die Windschutzscheibe von zerplatzten Insekten zu säubern. Roth konnte nicht ausmachen, ob es der Golf gewesen war, der ihm wegen des flackernden Scheinwerfers aufgefallen war, denn solange die Zündung ausgeschaltet war, brannte nur das Standlicht.

Doch auf dem Kennzeichenschild konnte er deutlich die Buchstaben HH erkennen.

»Bist du nicht müde?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Es war halb zwölf. Seine Lider waren schwer wie Blei, aber solange ihm der helle Wagen mit dem defekten Scheinwerfer nicht aus dem Kopf ging, stand er unter Strom.

Er beobachtete die beiden äußeren Rückspiegel. Der Verkehr auf der Autobahn südlich von Lyon war jetzt merklich dünner, und wenn sie erst einmal den gebührenpflichtigen Teil der A 7, der Autoroute du Soleil, erreichten, würde er noch weiter nachlassen.

Tina war müde, er hörte es an ihrer Stimme, die jetzt dunkler klang, und an der schleppenden Sprache.

»Ich war noch nie in Frankreich «, sagte sie. »Nur zwei Mal auf Mallorca. Mit dem Flugzeug.« Sie zog die Beine an und drückte sich in die Ecke an der Tür. »Kommen wir morgen dahin, wo du mit Sigrid warst?«, fragte sie dann.

»Wenn wir es schaffen«, sagte er unbestimmt.

Es kostete viel Zeit, über die gewundenen, oft steil ansteigenden Straßen in die Hochprovence und weiter zu den Meeralpen zu gelangen. Dafür entschädigte einen dort der unvergleichliche Ausblick und der Geruch von Lavendel, wilden Blumen und glühendem Stein.

Roth erzählte Tina von den weißen Kalkfelsen, die die Sonnenhitze reflektierten, und dem Maquis, dem dichten Buschwald, der dem Land über der C ôte d'Azur ihr typisches Gepräge gab. Die wilde Einsamkeit, die brütende Stille, hatten auch Sigrid in ihren Bann gezogen. Als er erzählen wollte, wie er und Sigrid, nur mit einem Kleinzelt und den notwendigsten Vorräten ausgestattet, eine der tiefen Schluchten erwandert hatten, war sie eingeschlafen.

Er wandte kurz den Kopf. Sie hatte sich im Sitz zusammengekauert. Ihr Kopf lag auf der Schulter und rollte jedes Mal gegen die Nackenstütze, wenn der Bus über eine Bodenwelle fuhr. Ihre Augen blieben geschlossen. Sie schlief fest.

Lächelnd sah er wieder nach vorn, wo sich die Autobahn auffächerte und vielspurig auf die schmalen Durchfahrten in der Mautstelle zuführten. Die weite Fläche vor und hinter der Barriere wurde von Lampen an hohen Masten schattenlos ausgeleuchtet.

Roth nahm das Gas zurück. Seine Augen glitten über die Außenspiegel. Im Linken sah er einen hellen Wagen wie ein Schemen aus der Dunkelheit tauchen. Als der Wagen in den Lichtkreis der Bogenlampen geriet, erkannte Roth den weißen Golf, der wie er hinter Lyon an der Elf-Station getankt hatte. Beide Scheinwerfer brannten normal, zumindest so lange, wie Roth sie im Rückspiegel beobachten konnte. Der Golf fuhr auf die Durchfahrt am äußersten linken Flügel zu.

Roth blieb rechts. Er stoppte kurz, um das Ticket aus der automatischen Ausgabe zu ziehen, und fuhr sanft, um Tina nicht unnötig aufzuschrecken, wieder an.

Er ließ den Rückspiegel jetzt nicht mehr aus den Augen. Bald blieb die rot-gelb schimmernde Kuppel über der Mautstelle zurück, und er folgte seinem Scheinwerferlicht und den funkelnden Sternen am schwarzen Himmel.

Der Golf überholte ihn nicht.

Sehr klein tanzte ein weißes Scheinwerferpaar im Rückspiegel, das nicht näher kam. Als der linke Scheinwerfer einmal kurz aussetzte, glaubte er, dass ihm seine überreizten Sinne und Nerven einen Streich spielten, doch als kurz darauf das Licht erneut flackerte, gab es keinen Zweifel mehr - er wurde verfolgt.

Bei dem hellen Wagen mit dem defekten Scheinwerfer, der ihm beharrlich durch Lyon gefolgt war, handelte es sich um den weißen Golf mit dem Hamburger Kennzeichen, der ihm an der Elf-Station hinter Lyon aufgefallen war, und der wieder hinter ihm gewesen war, als er die Mautstelle bei Vienne passierte, und von da an betont hinter ihm blieb.

Das konnte kein Zufall sein.

Roth umklammerte das Lenkrad, bis der Schmerz in den Fingerkuppen die bleierne Müdigkeit aus seinem Hirn vertrieb. Er knirschte grimmig mit den Zähnen. Er wollte es jetzt wissen ...

Die Tachonadel stand wie festgeleimt auf der 100er Marke, doch das weiße Scheinwerferpaar kam nicht näher.

Roth sah auf die Uhr. Es war jetzt wenige Minuten vor Mitternacht. Tina schlief nach wie vor. Hin und wieder bewegte sie sich, um sich in eine bequemere Lage zu bringen, doch sie wachte nicht auf.

Roth hatte das seitliche Ausstellfenster geöffnet, um die frische Nachtluft hereinzulassen. Sie kühlte sein erhitztes Gesicht.

Hinweisschilder, die auf Parkmöglichkeiten aufmerksam machten, huschten durch das Licht seiner Scheinwerfer. Er hatte noch keinen festen Plan, doch was immer er unternehmen konnte, ließ sich besser auf einem der großen Picknickplätze durchführen, von denen es im Süden Frankreichs eine Menge an den Autobahnen gab. Diese Plätze waren zumeist sehr weiträumig angelegt. Von dem vorderen Teil, der den Kurzparkern vorbehalten war, führte meistens ein Rundkurs tiefer in das Gelände zu den verschiedenen größeren und kleineren, voneinander durch Buschgruppen abgegrenzten Parkflächen. Unter schattenspendenden Baumgruppen standen Tische mit festmontierten Holzbänken. In einem zentral gelegenen festen Gebäude befanden sich die sanitären Einrichtungen.

Im aufgeblendeten Licht seiner Scheinwerfer erschien eine reflektierende Schrift: Piquenique 10 km.

Er sah in den Rückspiegel. Zwei gelbe Scheinwerferpaare jagten heran. Kurz hintereinander zischten zwei große Limousinen vorbei. Roth musste die übermüdeten Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen, bis er das weiße Licht, das weit zurückgefallen war, im vibrierenden Spiegel ausmachen konnte.

Er nahm das Gas etwas zurück, und das weiße Licht wurde größer, teilte sich - in einen helleren und einen kaum wahrnehmbaren blassen Fleck.

Er stellte den Blinker schon einen Kilometer vor der Parkplatzeinfahrt an, um dem anderen, der ebenfalls übermüdet sein musste, seine Absicht anzuzeigen.

Er schwenkte in die Spur, die in sanftem Bogen von der Autobahn aufwärts in ein hügeliges Gelände führte. Über dem Fahrweg und auf dem Platz oben auf der Hügelkuppe, wo das Sanitärgebäude stand, brannten bläuliche Lampen. An einem der schmalen geplatteten Fußwege, die zu den Picknicktischen und dem Sanitärgebäude führten, standen auf einer betonierten Fläche zwei erleuchtete Telefonkabinen.

Roth lenkte den Campingbus den Weg hinauf und folgte ihm halb um den Platz herum. Die Scheinwerfer strichen über Limousinen, deren Fahrer es sich auf der Rückbank bequem gemacht hatten, über Campmobile mit zugezogenen Fenstern oder Wohnwagengespanne. Katzen duckten sich hinter Abfallbehältern.

Als er nach links hinaussah, konnte er unterhalb des Hügels kurz den weißen Golf sehen, der langsam die Straße hinter ihm heraufkam, bevor er von einer Buschgruppe verdeckt wurde.

Roth steuerte eine kleine Parkfläche genau dort an, wo sich der Fahrweg wieder zu senken begann. Weit unten konnte er die Lichter eines Lastzuges sehen, der auf der Autobahn vorüberfuhr.

Er schaltete die Scheinwerfer aus und drehte den Zündschlüssel herum. Tina wachte auf, als das gleichmäßige, einlullende Motorgeräusch verstummte. Sie sah ihn an wie einen Fremden, bis die Erinnerung in ihr Hirn sickerte.

»Wo sind wir?«, fragte sie. Ihre Stimme klang belegt.

»Irgendwo zwischen Chanas und Tournon«, sagte er.

Er reckte sich, dann stieß er die Tür auf seiner Seite auf und sprang hinaus.

»He, was machen wir hier?«, fragte sie.

»Pause«, antwortete er. Er deutete auf den hellen Widerschein hinter einer Zypressenhecke, wo das Sanitärgebäude stand. »Da oben sind die Toiletten, da gibt's auch Wasser. Aber beeil dich.«

Er ging um den Wagen herum. Dabei warf er einen unauffälligen Blick zur Kurve zurück.

Langsam kroch der weiße Golf in die Biegung. Die Scheinwerfer waren bereits gelöscht.

Um sein Interesse nicht zu verraten, öffnete Roth die hintere Klappe und machte sich am Gepäck zu schaffen. Er zog die hintere Scheibengardine zu, schlug die Klappe wieder herab und öffnete die seitliche Schiebetür.

Tina gähnte laut. »Du kannst ruhig hinten schlafen«, sagte sie. »Ich bleibe hier vorn, das geht ganz gut.«

»Wir fahren gleich weiter«, sagte er. Er stieg ein, löste die Verriegelung für das Aufstelldach und stemmte es in die Höhe.

Tina sah ihm verständnislos zu, als er auch die seitlichen Scheibengardinen zuzog.

»Ich glaube, dass du absolut hirnrissig bist«, stellte sie fest. »Ich denke, man stellt das Dach auf und macht die Fenster dicht, wenn man irgendwo bleiben will!«

Genau das sollte der Fahrer des weißen Golf annehmen, dachte Roth. »Frag jetzt nicht«, sagte er barsch. »Geh dich jetzt waschen oder komm hier nach hinten, setz dich auf die Rückbank. Los, mach schon!«

Sie schüttelte den Kopf und schlang die Arme um die Brust, als sie nach hinten kletterte. »Mir ist jetzt kalt«, sagte sie. Ihre Zähne klapperten.

Er zerrte eine Decke unten aus dem Gepäck hervor und warf sie über ihre Schultern. Sie setzte sich auf die Bank und hob die Beine hoch.

Roth angelte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlfach, öffnete sie und trank mit langen Zügen. Da hörte er, wie leise eine Autotür ins Schloss gedrückt wurde.

Vorsichtig spähte er durch den Spalt im seitlichen Vorhang nach draußen. Er konnte gerade noch den Fahrer des Golf sehen, bevor er hinter der Kurve verschwand.

»Willst du mir nicht sagen, was los ist?«, fragte Tina schläfrig.

»Ich erkläre es dir später«, sagte er.

Er stieg durch die Seitentür aus und zwängte sich unter einem dornigen Strauch her. Geduckt lief er den Hügel hinauf, bis er auf den weißen Golf und die Straße, die von unten heraufführte, hinabblicken konnte.

Der Fahrer des Golf betrat eben eine der beiden Telefonkabinen und suchte seine Taschen nach Münzgeld ab.

Roth arbeitete sich hinter dem Buschwerk her näher an den Golf heran. Er prägte sich das Kennzeichen ein, beobachtete den Mann in der Zelle, der jetzt den Hörer in der Hand hielt und Münzen einwarf.

Von der Hangseite her glitt er neben den Golf. Vorsichtig richtete er sich an der Seite auf und spähte über die Fensterkante.

Im Schein der Lampe auf der anderen Seite der Fahrbahn konnte er das Wageninnere gut sehen. Es war leer bis auf den leichten hellen Regenmantel auf der Rückbank. Das Gepäck des Fahrers, wahrscheinlich auch seine Papiere, sofern er sie nicht bei sich trug, befanden sich demnach im Kofferraum, was, wie auch die herabgedrückten Sperrstifte der Türen, auf Vorsicht und Misstrauen schließen ließ.

Durch die Scheiben des Golf blickte Roth zu dem Mann in der Zelle hinunter, der jetzt in den Hörer sprach. Sein Kopf, der fast ohne Halsansatz direkt auf den breiten Schultern zu sitzen schien, machte dabei ruckartige, nickende Bewegungen. Obwohl der Mann Roth den Rücken zuwandte, war Roth sicher, ihn nicht zu kennen.

Roth fletschte die Zähne zu einem boshaften Grinsen, als er das Ventil des rechten Vorderrades aufdrehte. Mit der hohlen Hand dämpfte er das Zischen der entweichenden Luft.

Er hoffte, dass jetzt nicht mehr so viele Zivilstreifen der französischen Polizei unterwegs waren wie im Hochsommer, wenn sich die Überfälle auf Touristen häuften. Denn wenn ihn eine Streife dabei überraschte, wie er die Luft aus dem Reifen eines fremden Fahrzeugs ließ, sah er ganz blass aus.

Der Mann in der Kabine gestikulierte und warf noch eine Münze nach. Der weiße Wagen sackte vorn ein wenig ein. Roth schraubte das Ventil weiter heraus, als der Druck nachließ. Die Luft strömte jetzt rasch aus dem Reifen. Als das Rad auf der Felge stand, schraubte er das Ventil wieder fest zu. Es bestand die schwache Möglichkeit, dass er dem breitschultrigen Hamburger ohne jeden Grund Unrecht zufügte, indem er ihn an einer zügigen Weiterfahrt hinderte. Falls es tatsächlich so sein sollte, hätte er ihm allerdings kaum mehr als die zehn oder zwanzig Minuten genommen, die man brauchte, um ein Rad zu wechseln.

Lautlos huschte er zu seinem Camper zurück.

Tina war schon wieder eingeschlafen. Sie rollte sich noch enger zusammen, als sie seine Gegenwart spürte. Er beugte sich über sie und kroch nach hinten. Vorsichtig spreizte er die Gardine vor der Heckscheibe ein wenig und sah zu dem weißen Golf hinüber.

Der Fahrer kam langsam die Straße herauf. Er warf einen knappen Blick zu dem Campingbus, bevor er seinen Wagen aufschloss und sich hineinsetzte. Roth konnte erkennen, wie der Mann die Sitzlehne nach hinten kippte und sich zurücklehnte.

Roth spürte die Müdigkeit, die an seinen Gliedern zerrte. Er versuchte nachzudenken, dahinterzukommen, wer ihm folgte. Und warum. Es hing mit Sigrid zusammen, und dem gerichtlichen Fahndungsauftrag, das war klar.

Oder galt die Verfolgung Tina?

Er riss gewaltsam die Lider wieder auf. Er war hier noch nicht fertig. Er spähte zu dem weißen Golf hinüber.

Wahrscheinlich war der Kerl da drüben jetzt schon eingeschlafen, weil er überzeugt war, dass er und Tina ebenfalls schliefen. Bei einem Campmobil lag der Gedanke auf der Hand.

Vorsichtig kroch er in die Mitte des Campers zurück. Dort richtete er sich auf, um das Hubdach zu entriegeln. Das laute Knacken des Verschlusses ließ Tina in die Höhe fahren.

»Mein Gott, was ist denn jetzt schon wieder los?«, fragte sie erschreckt.

Er hielt das Dach in der aufrechten Position fest. »Wir fahren weiter«, antwortete er.

»Bescheuert. Du kannst doch nicht mehr.«

»Traust du es dir zu, ein Stück zu fahren?«, fragte er.

»Jetzt? Wieso? Willst du etwa pennen, während ich fahre? Weißt du, wie ich mich fühle? Ich renne gegen den nächsten Baum ...«

»Du sollst einfach da runterfahren, immer in Fahrtrichtung, aber nicht zurück auf die Autobahn, sondern immer links rum und dann wieder hier herauf. Traust du dir das zu?«

»Ich? Allein? Wieso? Was willst du so lange tun? Grillen fangen?«

»Frag nicht«, sagte er erschöpft. »Tu's nur, oder lass es! Ich muss was wissen.«

Murrend schälte sie sich aus der Decke. Er sah erst jetzt, dass sie ihre Jeans ausgezogen hatte, um es sich bequemer zu machen. Ihre Beine waren schlank und lang, die Haut glatt und leicht gebräunt. Ein knappes weißes Höschen bedeckte die festen Hinterbacken. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe, schob sich nah an ihm vorbei und zwängte sich zwischen den Vordersitzen her. Sein Arm, der das Dach stützte, begann zu zittern.

»Beeil dich!«, stieß er gepresst hervor. »Sag, wenn du so weit bist.«

Sie ließ sich in den Fahrersitz fallen, zog ihn etwas nach vorn, suchte den Zündschlüssel.

»Wenn ich jetzt sage, startest du den Motor, schaltest das Licht an und fährst ab. In der Reihenfolge. Klar?«

Sie tastete nach dem Knopf für die Beleuchtung. »Klar«, sagte sie.

Mit dem Fuß schob Roth die Schiebetür weiter zurück, dann ließ er das Dach heruntersausen. Mit einem Knall fiel es auf den Aufbau.

Roth sprang durch die offene Seitentür. »Jetzt!«, sagte er, schmetterte die Schiebetür zu und hechtete in das Gestrüpp, das den Parkplatz begrenzte.

Er kauerte sich zusammen, während der Anlasser laut kratzte. Der Motor heulte schrill auf, weil sie zu viel Gas gab, doch das lag jetzt durchaus in Roths Sinn.

Hinter der Windschutzscheibe erschien das bleiche Gesicht des Hamburgers, in dem Roth einen verstörten Ausdruck zu erkennen glaubte. Verblüfft sah der Mann dem davonrollenden Campingbus nach.

Doch dann reagierte er. Er stellte die Sitzlehne hoch. Gleichzeitig tuckerte schon der Anlasser. Der Motor sprang sofort an.

Der Fahrer knallte den ersten Gang ins Getriebe und gab Gas. Der Golf ruckte, fuhr an und schlingerte und rumpelte dann wie von einem Betrunkenen gelenkt auf Roths Versteck zu.

Der Fahrer merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Er stoppte, die Tür flog auf, der Mann sprang heraus. Er ging um den Wagen herum und fluchte laut, als er den platten Reifen entdeckte.

Er bückte sich, um das Profil und den Reifen zu untersuchen, hielt sich jedoch nicht lange damit auf. Er öffnete die Heckklappe, um das Reserverad herauszuholen.

Lautlos verließ Roth seinen Platz. Mit wenigen langen Sätzen war er hinter dem Mann, der einen Koffer und eine Reisetasche aus dem Laderaum heben musste, um an das Fach für das Ersatzrad heranzukommen.

Im letzten Moment spürte er, dass jemand hinter ihm war. Er warf sich herum.

Die Art, wie der Mann die Arme hochriss, verriet den erfahrenen Boxer. Aber Roth war ein erfahrener Polizist, der wusste, wann Fairness fehl am Platz war.

Er packte die Kante der hochgestellten Heckklappe und schlug sie herab. Sie traf den Mann am Kopf und an der Schulter. Roth ließ die Klappe sofort wieder los. Mit einem schnellen Säbeltritt riss er dem anderen die Beine unter dem Körper weg.

Der Fremde knallte mit dem Hinterkopf auf die Stoßstange des Golf. Roth schlug seine Hände in das dünne Hemd und riss den Mann in die Höhe. Er spürte die harten Muskeln unter dem Stoff, aber der Kerl war zu benommen, um seine überlegenen körperlichen Kräfte gegen Roth einsetzen zu können.

Roth zerrte ihn aus dem Licht in den Schatten hinter dem Golf. Grob stieß er den Mann gegen die Flanke des Wagens. Der Kopf knallte gegen die Regenablaufrinne.

»Arme aufs Dach! Beine auseinander! Das kennst du doch!«, zischte Roth in das Ohr des Fremden.

Der Mann reagierte nur langsam. Roth musste nachhelfen. Mit raschen Bewegungen tastete er ihn ab. Er fand eine flache Pistole hinten am Gürtel, wo sie vom Hemd verdeckt wurde. Er steckte die Waffe ein. Ebenfalls am Gürtel befestigt, stieß er auf eine lederne Brieftasche. Er löste sie und klappte sie auf, während er den Mann mit einer Hand gegen den Golf stemmte. Überlaut klang das Dröhnen des Campingbusses, den Tina im ersten Gang den Hügel hinaufquälte.

Endlich protestierte der Mann. »Was wollen Sie von mir? Ich rufe die Polizei?«

»Na los doch, nur zu«, sagte Roth.

Die Brieftasche enthielt gebündeltes deutsches und französisches Geld, einen Führerschein und einen Ausweis. Roth klappte den Ausweis auf und hielt ihn ans Licht.

»Hermann Schiewe, sehr erfreut«, sagte Roth. »Wer schickt dich hinter uns her?«

»Fick dich ins Knie, Bulle, du hast hier nichts zu sagen!«

Roth grub seine Finger ins Haar des anderen und stieß das Gesicht nach vorn. Dann riss er den Kopf zurück. In dem Moment strichen die Scheinwerfer des Campers über das Wagendach und trafen Schiewes Gesicht. Blut lief ihm aus Mund und Nase.

»Raus mit der Sprache, oder ...«

Er kam nicht dazu, eine wirkungsvolle Drohung loszulassen. Tina, die das blutige Gesicht plötzlich im Licht der Scheinwerfer sah, würgte den Motor ab. Und der Camper begann, die abschüssige Straße zurückzurollen. Weiter unter in der Kurve stand ein großer Wohnanhänger.

Roth riss dem Hamburger erneut die Beine weg. Die Brieftasche mit dem Geld und den Ausweis schleuderte er in das Gestrüpp, dann sprintete er hinter seinem immer schneller zurückrollenden Bus her.

Keuchend, mit brennender Kehle, holte er den Wagen ein. Er riss die Fahrertür auf und sprang auf den Tritt.

»Was ist los mit dir?«, schrie er sie an, »Los, rutsch rüber! Mach schon!«

Er stieß sie vom Sitz, schwang sich hinauf und rammte den Fuß auf die Bremse. Mit einem Ruck kam der Wagen zum Halten. Er sah in den Rückspiegel. Nicht mehr als eine Handbreit trennte die hintere Stoßstange von der dünnen Plastikverkleidung des Wohnwagens.

Er startete erneut und fuhr an. Hermann Schiewe kam hinter dem Golf hervor. Wütend schüttelte er die Faust, während Roth vorbeifuhr.

»Wer ist das?«, fragte Tina bestürzt.

»Er heißt Schiewe. Kennst du ihn?«

»Ich? Nein ... Wieso?«

»Er hat uns verfolgt.«

Tina schwieg. Roth wunderte sich, weil sie nicht aufgeregter reagierte. Doch wenn sie eben die Nerven behalten hätte, hätte er vielleicht genug Zeit gehabt, um das Notizbuch des Hamburgers zu suchen. Darin hätte vermutlich die Nummer gestanden, die der Kerl vorhin angerufen hatte.

Man kann eben nicht alles haben, tröstete er sich, als er den Bus auf die Autobahn lenkte und das Gaspedal voll durchtrat. Immerhin verfügte er jetzt über eine Schusswaffe. Seine Dienstpistole hatte er im Waffenschrank des Hamburger Polizeipräsidiums deponiert, bevor er seinen Urlaub antrat. Und tröstlich, wenn auch nicht beruhigend, war für ihn die Gewissheit, dass er in Hermann Schiewe nicht den Falschen angegriffen hatte.

Lockvogel für den Killer: 3 Strand Krimis

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