Читать книгу Zehn Sekunden vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 10
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Den Unglauben hinunterschluckend kehre ich zu meinem Platz zurück, bewahre Haltung und setze mich, als gäbe es nichts Gewöhnlicheres, als mit einem unheimlichen Rektor und einem Jungen, der den Wind zum Schweigen bringen kann, in ein Zimmer gesperrt zu sein.
„Ich wiederhole meine Frage“, sage ich, sobald ich sitze. „Was wollen Sie? Geld? Ruhm?“
„Eine ehrliche Antwort.“ Der Rektor lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Scotch?“
„Billigen Fusel trinke ich nicht und dabei kommt noch weniger eine Unterhaltung zu Stande.“
„Nimm es mir nicht übel, kleine Diva, aber das hier ist ein Gespräch. Ob es dir nun gefällt oder nicht“, sagt Casper. Der Rektor wirft ihm einen Blick zu, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ich ziehe die Schultern unwillkürlich nach oben und versuche, mich unsichtbar zu machen. Casper verdreht genervt die Augen. „Schon gut, ich halte die Klappe. Wann sind wir eigentlich an den Punkt gekommen, dass du mir sagst, was ich tun und lassen darf?“
„Seitdem du dich in meinem Büro aufhältst.“
„Ich könnte auch mit dem Vogel und deiner Tochter spielen.“ Die Augen des Rektors werden schmal. „Du wirst weder dich noch dieses … dieses Vieh in ihre Nähe bringen. Jeanne kümmert sich um sie.“
„Es ist ein süßes, kleines Vögelchen! Der hat noch keinem Kind die Augen ausgehackt.“
„Das weißt du woher?“
„Ray, komm schon! Das ist eine Meise. Die fressen Würmer und Nektar und was weiß ich was. Aber keine kleinen Kinder.“
Der Rektor schüttelt entschieden den Kopf. „So wie der Hund nur spielen wollte? Oder die Katze mit Sicherheit niemanden kratzt? Oder die Schlange mit Sicherheit keine Giftzähne mehr besitzt?“ Mir klappt die Kinnlade runter.
Casper seufzt nur schwer. „Seit wann bist du so nachtragend?“
„Seitdem meine Tochter in deiner Obhut gebissen, gekratzt und noch einmal gebissen wurde. Unter anderen Umständen hätte die Schlange sie töten können.“
Casper presst die Lippen aufeinander. „Nur der Richtigkeit halber, das Letzte war Adrianas Idee.“ Ich habe nicht das Gefühl, dass dieses Argument den jungen Rektor beruhigt. In einer fast schon menschlichen Geste fährt er sich durch die Haare. „Bringst du uns bitte den billigen Scotch? Dieser hier scheint der werten Dame zu gut zu sein.“
Ich lache auf. „Ich sagte, ich trinke keinen billigen Fusel.“
„Das hat sie gesagt“, pflichtet Casper mir bei. Die Meise flattert auf und lässt sich neben dem Rektor nieder. Er wirft ihr einen kurzen Blick zu, bevor er angewidert von dem Vogel fortrückt. „Wie teuer ist der Scotch, der deinen Standards entspricht?“, fragt mich der Rektor.
„Siebenhundert, achthundert Pfund die Flasche“, sage ich spitz. Woher soll ich wissen, wie teuer der Scotch ist, den man mir anbietet?
Der Rektor zuckt die Schultern. „Casper, sei so gut und hole das billige Zeug. Dieser Scotch hier ist zu gut für die Dame.“ „Pardon?“ Entgeistert sehe ich ihn an. Dieser Mann hat eine Gabe dafür, an anderen Menschen vorbeizureden. Es ist wohl besser, dass er sich von den Börsen fernhält. Die Verhandlungen würden an dem einfachen Verständnis scheitern.
„Diese Flasche hat mir mein Schwiegervater als Wiedergutmachung geschenkt. Unbezahlbar, höllisch gut.“ Das Grinsen des Rektors kann nur mit dem Zähnefletschen eines wilden Tieres verglichen werden. Hat er so unter der Kapuze ausgesehen, kurz bevor er mir den Unterarm aufschnitt? Körperverletzung bringt ihn höchstens fünf Jahre hinter Gitter – vorausgesetzt mein Anwalt stellt es gut an. Wenn es mir irgendwie gelingen könnte, ihn wegen Mordes zu verklagen, könnte ich ihn für den Rest meines Lebens aus dem Weg schaffen. Er hortet mit Sicherheit Leichen in seinem Keller. Meine Berater oder einer von Vaters Privatdetektiven muss sie lediglich finden.
„Worüber denkst du nach, Chrona?“ Die leise Frage des Rektors bringt mich augenblicklich zurück in die tröge Wirklichkeit, in der ich ihm ausgeliefert gegenübersitze. Die Meise dreht den Kopf und sieht ihn neugierig an.
„Über Ihre Bitte“, lüge ich glatt. „Womöglich wäre es tatsächlich ein guter Tausch. Ein ernsthaftes Gespräch gegen meine Freilassung? Wundervoll.“ Ich könnte der Klage hinzufügen, dass er mich gegen meinen Willen festgehalten hat.
„Wie bist du nur zu Reichtum gekommen?“, seufzt der Rektor. „Mir ist selten eine so durchschaubare Lügnerin begegnet.“
„Ich wette, sie überlegt, wie sie dich hinter Gitter bringen kann“, sagt Casper. Als er aufsteht, vermutlich um den billigen Scotch zu bringen, flattert die Meise panisch auf und verbarrikadiert sich hinter den verstaubten Büchern.
„Nein“, murmelt der junge Mann und sieht mir derart intensiv in die Augen, dass es mich erschaudern lässt. „Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark würde eine Gefängnisstrafe nicht genügen. Eine Todesspritze wäre eher nach ihrem Geschmack, nicht wahr?“ Der dunkle, nachdenkliche, bedrohliche Blick lässt mich nicht los. Stattdessen beginnt mein Herz unkontrolliert zu rasen. „Wir beide fahren schwere Geschütze auf in der Sicherheit eines kleinen Raumes und das nur, weil niemand von uns nachgeben will.“ Langsam wie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung, beugt er sich zu mir. Ein einsamer Windstoß pfeift unter der Tür hindurch. Würde man mich schreien hören? „Versprich mir eines, Chrona. Aufrichtig, hier und jetzt. Du wirst das Angebot des Grauen Mannes nicht annehmen.“
Die innere Mitte. Ich finde sie irgendwo in meinen Kniekehlen und halte sie fest. Wider jede Vernunft lehne ich mich zu dem Rektor. Ein schwaches Lächeln umspielt meine Lippen. „Das kann ich nicht, Sir. Sein Geschenk habe ich längst angenommen.“ Sein Blick huscht zu meinem Daumen. Zu dem winzigen, grauen Punkt, den die Zigarre unter meine Haut gebrannt hat und der nicht mehr verschwinden will, selbst dann nicht, wenn mehrere Schichten MakeUp darüber liegen.
Kopfschüttelnd lehnt er sich zurück. „Du bist noch dümmer, als ich dachte.“ Die Verachtung schwingt nicht in seinem Tonfall mit, nur in den Worten. „Vergiss den Scotch, Casper. Hilf ihr, ihre Sachen zu packen. Ich will niemanden in Jeannes Nähe haben, der einen Pakt mit dem Grauen Mann eingegangen ist. Egal ob aus Torheit oder Sturheit.“
„Du willst sie einfach wegschicken?“ Nie zuvor habe ich Casper völlig fassungslos erlebt. Die Meise fiept leise und steckt das Köpfchen zwischen zwei schweren Büchern hervor.
Der junge Rektor steht auf. „Für Hilfe ist es zu spät. Sie ist nicht wie ich, Casper. Du kannst nicht jeden retten. Manche wollen sich nicht helfen lassen.“
„Vielleicht musst du es nur feinfühliger versuchen und …“
„Sie hat eingeschlagen!“ Drei Worte und sie hallen wider wie ein Donnerschlag. Erschrocken fahre ich in meinem Stuhl zusammen. Die Schatten scheinen sich um den Rektor zu legen. Seine Augen sind pechschwarz. Dieser Mann ist kein Mann. Er scheint kaum lebendig zu sein. Er wäre am besten auf dem nächsten Friedhof aufgehoben.
„Plan nicht den Tod anderer, während du dein eigenes Grab aushebst“, zischt der Rektor mich an. Wie Schlangen richten sich die Schatten an seinen Seiten auf. Ein leises Wimmern entweicht meinen Lippen. Sind das Eisblumen, die über das Holz kriechen? Himmel, ich verliere den Verstand. Ich drehe durch. Es muss am Schlafmangel liegen oder an der inkompetenten Psychotherapeutin. Das hier ist gänzlich irreal.
„Ray.“ Casper hebt die Hände ohne den Rektor für einen Moment aus den Augen zu lassen. „Das ist sie nicht wert. Sprich mit Jeanne darüber. Das Ganze ist nur halb so ausweglos, wie du denkst. Der Graue Mann kommt an niemanden von uns ran, okay? Keinem wird etwas passieren. Und sie, sie ist doch egal, ja?“
Das sind Eisblumen und die Schatten reagieren wirklich auf ihn. Sie kriechen auf mich zu. Sie … sie berühren mich. Ich schreie auf, taumle von dem Stuhl und haste zur Tür. Verschlossen. Wie kann sie verschlossen sein? Niemand hat sie verriegelt. Verzweifelt trommle ich gegen das Holz.
„Ray, lass sie gehen“, höre ich Casper sagen. Die Panik betäubt mich. „Du musst dich nicht länger mit ihr befassen. Sie ist total bescheuert, guck? Sie kratzt an der Tür wie irgendeine gestörte Katze.“
Ich muss hier raus. Die Schatten bewegen sich. Die Schatten bewegen sich auf seinen Befehl hin. In der Vergangenheit hat er mir bereits Verletzungen zugefügt. Was hindert den Rektor daran, das wieder zu tun?
„Ich habe sie gewarnt.“ Seine Worte klingen völlig sachlich. Die Schatten geistern weiter. „Du bringst sie hier weg. Ich will nicht, dass der Graue Mann Jeanne mit ihr in Verbindung bringt. Oder irgendwen sonst. Es war eine furchtbare Idee, sie hierher zu ordern.“
„War es. Ja, zugegeben, das war es, okay?“, sagt Casper beschwichtigend. Meine Finger krampfen sich um die Klinke und ich rüttle an ihr, bis sie zu quietschen beginnt. Die Tür kann nicht verschlossen sein! Niemand hielt einen Schlüssel in der Hand. „Wir haben sie alle ein bisschen falsch eingeschätzt. Ich dachte, sie sei hübsch genug, um über ihren miesen Charakter hinwegzutäuschen. Adriana war sich sicher, dass sie klug sei und Jeanne wollte an das Gute in ihr glauben. Aber wir hatten Unrecht. Du hattest Recht. Okay? Und jetzt lass sie gehen. Du wirst sie hier nicht mehr sehen. Sie wird den Grauen Mann nicht herführen.“
„Dafür ist es zu spät.“ Eisblumen entstehen unter meinen Fingern. Erschrocken taumle ich zurück, den gierigen Schatten in die Arme. Ich muss hier raus!
„Sir, ich bedauere es sehr, wenn ich Sie beleidigt haben sollte, aber“, setze ich bebend an.
„Bring sie hier weg, Casper.“ Der Rektor spricht so leise, ich dürfte ihn nicht hören. Aber seine Stimme geht mir durch Mark und Bein. „Bring sie fort von hier, ehe ich mich vergesse.“
„Okay. Okay! Ich schaffe sie hier weg.“ Casper hat beschwichtigend die Hände gehoben. „Alles gut. Du bringst das Ganze hier wieder auf Zimmertemperatur?“ Es ist unmöglich. Menschen können keine Eisblumen entstehen lassen. Sie können keine Schatten kontrollieren. Sie … sie können nicht so … so fesselnd und erschreckend sein.
Die Meise ruft panisch, macht meiner Angst Luft, während sie hektisch durch den stetig abkühlenden Raum flattert, gegen das Fenster pickt, an den Regalen vorbeistürzt.
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich den Rektor an. Er badet in den Schatten, sie scheinen ihn zu liebkosen, sind dort dunkel, wo sie nicht einmal existieren dürften. Wieder flackert die Lampe, lässt ihn noch düsterer und unberechenbarer wirken als ohnehin schon. Einige der Schatten scheinen von ihm abzufallen, kriechen auf mich zu. Ich schreie auf, als einer mein Fußgelenk berührt. Ich kann ihn unmöglich gespürt haben. Das ist nicht möglich. Das … „Ray? Ist alles in Ordnung da drin?“ Neben mir knicken Casper die Beine weg und er stützt sich an der Wand ab. Der Blick des Rektors fliegt zur Tür. Ich höre wie der Riegel zurückschnappt. Der unheimlichste Mann der Welt stürzt an mir vorbei. In seinen Augen – in seinen Augen! – spiegelt sich panische Angst. So als wäre er der Gefangene und ich die Bedrohung.
Jeanne muss den Verstand verloren haben. Die Schatten haften noch immer an ihm wie Blutegel, unser aller Atem dampft in der Luft, trotzdem geht sie auf den Rektor zu und zieht ihn an sich.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich warte darauf, dass er ein Schweizer Taschenmesser zückt und es ihr in das Herz rammt. Nichts. Stattdessen küsst er sie. Und Jeanne lässt es zu.
Neben mir stößt Casper die Luft durch die Zähne aus. „Du bist echt bescheuert, weißt du das?“, zischt er. „Ihn so wütend zu machen. Ich habe ihn das letzte Mal so extrem sauer erlebt, da war er achtzehn und ich habe ihn beim Badminton ständig abgeschossen.“ Casper schüttelt die blauen Locken. „Ich weiß, ihr reichen Leute verhandelt mit jedem, aber mit dem Grauen Mann? Hast du überhaupt noch eine Tasse im Schrank?“
Ich höre ihm kaum zu. Das Bild vor mir ergibt keinen Sinn. Behutsam streicht Jeanne dem Rektor über das Gesicht. Seine Augen sind geschlossen. Die Eisblumen auf dem dunklen Holz der Tür beginnen zu schmelzen. Als würde dieser Raum widerspiegeln, was in ihm vorgeht. Das leise Knistern und Knacken der Lampe verstummt, die Schatten ziehen sich zurück.
„Alles ist gut“, wispert Jeanne. Der junge Rektor schüttelt den Kopf. Seine Hände zittern unkontrolliert, als er sie noch näher zu sich zieht und das Kinn auf ihrem Scheitel bettet. Jeanne sollte rennen, stattdessen haucht sie ihm einen Kuss auf den Hals. „Willst du darüber reden?“ Noch ein Kopfschütteln Wie ein kleiner Junge.
„Lass uns verschwinden“, murmelt Casper. Nur zu gern. Meine Beine fühlen sich an wie Gummi, als ich mich mit angehaltenem Atem an den beiden vorbeischiebe. Jeanne schenkt mir ein kleines Lächeln, der Rektor scheint mich nicht zu bemerken. Er hat das Gesicht an ihrem Hals vergraben. Nichts an ihm wirkt mehr bedrohlich. Die Autorität ist von ihm abgefallen. Gerade jetzt scheint er winzig klein und hilflos zu sein. Sieht aus, wie ich mich fühle, nur dass ich den Rücken durchdrücke, die Schultern nach hinten nehme und den Kopf aufrecht halte, obwohl alles in mir danach schreit, zu rennen so schnell ich kann.
Casper greift nach meiner Hand. Ich will sie ihm entziehen. Er ist kein bisschen besser. Unter Caspers Willen hat sich der Sturm gelegt. Er hält meine Finger nur fester.
„Du musst keine Angst haben. Ray wird dir schon nichts tun. Er hat nur Angst.“ Ein Mann, dem die Schatten auf Schritt und Tritt folgen? Ich glaube Casper kein Wort.
„Verdammt, kleine Diva, hör auf wie ein verschrecktes Kitz zu gucken. Es ist doch nichts passiert! Ray ist ein bisschen ausgekreist, weil du etwas extrem Dummes angestellt hast. Na und? Manchmal passiert das halt.“ Er reibt mit dem Zeigefinger über den grauen Punkt an meinem Daumen. „Soll ich dir helfen beim Packen oder willst du lieber deine Zimmermädchen an deiner Seite haben?“ Was ich wirklich möchte, ist hier doch ohnehin irrelevant. Im ersten Moment will ich nichts mehr als zu Achim. Mich hinter seinem Verhandlungsgeschick verstecken und mich einfach sicher fühlen. Bis durch den Schleier aus Entsetzen durchdringt, dass er das nicht gutheißen würde. Diese Erkenntnis lässt mein Herz schmerzen. Nicht, weil ich nicht zu ihm kann. Weil es eine Person gibt, zu der ich mich noch lieber flüchten würde, aber die mausetot ist. Anton. Ob genug Zeit vergangen ist, damit er inzwischen meine Sprache spricht? Damit ich tatsächlich mit ihm über alles reden kann?
„Ich will nach Hause.“ Meine Stimme zittert erbärmlich. Langsam beginnen die Anspannung und die Angst abzufallen, die ich in dem Büro empfunden habe. Nein, nicht Anspannung, nicht Angst. Todesangst. Ich wünsche mir nichts mehr, als mich mit einem Tee auf meine Fensterbank zu setzen, die zuverlässigen Statistiken und Prognosen vor mir, Unmengen an Kleidern um mich herum verteilt. Eine Hochzeit ist zu planen, Gelder sind zu investieren, Dialoge abzuhalten. Dass ich weine, bemerke ich erst, als Casper stehen bleibt und mich in seine Arme zieht. Ich erstarre bei der Berührung. Dieser Junge stand im Sturm und hat ihn abebben lassen. Er ist nicht minder gefährlich als der teuflische Rektor.
„Es ist doch nichts passiert“, wiederholt Casper.
Ich schniefe. „Er wollte mich umbringen!“
„Aber er hat es doch nicht getan.“ Was wohl beruhigend wirken sollte, lässt mich entsetzt nach Luft schnappen. Casper hat nicht bestritten, dass der Rektor meinen Tod wollte. „Guck, Chrona, du machst es einem echt nicht einfach. Man will dir einen Gefallen tun und du hetzt einem jemanden auf den Hals, der schlimmer ist als Luzifer. Wirklich, Luzifer ist ein Schoßhund gegen den Grauen Mann.“
„Luzifer existiert nicht“, flüstere ich.
„Zeitreisende auch nicht.“
Ich wische mir über das Gesicht und versuche verzweifelt, die Fassung wiederzuerlangen. Erfolglos. Nie zuvor habe ich mir eine Umarmung so dringend gewünscht. Was würde ich alles dafür geben, damit Anton jetzt hier neben mir steht und versucht, mich zu beruhigen? Der echte Anton. Der, der weiß, wer ich bin und die weiße Flagge gehisst hat. Würde ich die Kontrolle über meinen Verstand abgeben? Nur für ein paar Stunden? Gerade jetzt würde ich jeden Pfennig, jede positive Schlagzeile dafür opfern. Dafür, dass Anton hier ist.
„Man, Chrona, komm, setz die Diva wieder auf und beruhig dich. Du siehst echt hässlich aus, wenn du heulst.“ Ich will weg hier. „Er hätte dich schon nicht umgebracht, okay? Ray tötet niemanden mehr. Er hat damit abgeschlossen.“ Er tötet niemanden mehr? Himmel, dieses College wird von einem Psychopathen geführt, der Schatten kontrollieren und Eisblumen wachsen lassen kann!
„Oh Gott, das war gerade kein kluger Satz, oder?“
Ich weiche vor Casper zurück, die Treppe hinauf. Die neugierigen Blicke der Studenten nehme ich nur am Rande wahr. „Chrona, so meinte ich das nicht“, sagt Casper hektisch. „Ray ist nicht gefährlich. Er ist wie ein Löwe, ja? Wenn du ihn nicht ärgerst, dann ist er ganz lieb. Aber du hast einen echt riesigen Fehler gemacht. Dem Grauen Mann etwas zu versprechen, das ist eine Katastrophe. Ray hat einfach panische Angst um seine Frau und das Kind. Das kannst du ihm nun wirklich nicht übelnehmen.“
Ich stolpere. Hektisch fange ich mich an dem Geländer ab und laufe schneller, immer schneller, ohne Casper aus den Augen zu lassen und danke meinen Trainingseinheiten auf dem Laufband. Ich keuche, als ich endlich an meinem Zimmer ankomme und durch die Tür gehe, weiter zurückweiche. Casper versteht den Wink nicht. Noch immer mit erhobenen Händen folgt er mir.
„Ich verklage dich. Wenn du mir auch nur ein Haar krümmen solltest, dann verbanne ich dich hinter Gitter!“ Fast kreische ich.
„Komm, im Ernst, was soll denn der Schwachsinn? Beruhig dich.“
Meine Ohren klingeln und ich werfe alles über Bord, was man von mir erwartet. „Beruhigen?“, schreie ich. „Beruhigen? Dein verdammter Freund hat versucht, mich umzubringen. Nicht nur einmal, sondern zwei Mal. Erst in der Vergangenheit, dann hier.“
„Ray reist doch nicht in die Vergangenheit.“ Casper rollt die Augen. „Mach dich nicht lächerlich.“
„Genauso wenig wie er Schatten kontrolliert oder Eisblumen wachsen lässt?“, rufe ich. Meine Beine stoßen gegen das Bettgestell. Blind taste ich nach meinem IPhone. Ich werde die Polizei rufen. Hier und jetzt, auf der Stelle.
„Was? Nein, das bekommt er geradeso noch hin.“ Casper schüttelt hastig den Kopf. Die blauen Locken verheddern sich ineinander. „Aber, wirklich, er reist nicht in die Vergangenheit. Und er würde dich auch nicht verletzen.“
„Was war das deiner Meinung nach gerade?“
„Du hast keinen Kratzer!“
„Hast du auch nur eine Ahnung davon, was das psychisch mit mir anstellt?“
„Um das zu klären, hast du deine verdammte Psychotherapeutin!“
Ich bekomme das Gerät zu greifen. Mit zitternden Fingern wähle ich einmal die Neun, zweimal die Eins. Ein Freizeichen, zwei Freizeichen.
„Echt, du rufst die Polizei?“, fragt Casper mich entgeistert. „Denkst du wirklich, ein paar Cops können etwas gegen einen Dämon ausrichten?“ Dämon? „Na dann, gute Nacht.“
Am anderen Ende ertönt die Stimme des diensthabenden Polizisten. Ich höre sie kaum. Wie von selbst lege ich auf. „Was?“ Das kann er unmöglich gesagt haben.
Casper schenkt mir ein unsicheres Lächeln. „Legen wir die Karten auf den Tisch, ja? Und danach beruhigst du dich einfach, in Ordnung?“
„Hast du soeben angedeutet, dass der Rektor ein Dämon ist?“ Nicht ich werde verrückt, sondern er. Casper braucht nicht nur einen Psychotherapeuten, sondern einen Psychiater. Dann fällt mir wieder ein, dass er den Sturm zum Schweigen gebracht hat.
„Setzt du dich einfach mal hin?“ Casper deutet auf die Stühle, die noch genauso dastehen wie zu dem Moment, als ich den Raum verlassen habe. Selbst der Tee wartet noch auf dem Fensterbrett. Meine Zimmermädchen haben ihre Aufgaben vernachlässigt.
Mit steifen Schritten gehe ich zum Fenster und spähe nach draußen. Der Wind wütet, kämpft gegen die Bäume, schlägt auf die Felswände ein und wird doch immer wieder zurückgestoßen. Kein Mensch könnte dagegen ankommen. „Bist du auch ein Dämon?“
Casper lacht. Er kratzt sich unbehaglich am Nacken und schenkt mir ein schüchternes Grinsen. „Nein, eher nicht. Das Dämonsein überlasse ich Ray.“ Gott sei Dank. „Ich bin, naja, ein Engel.“
„Ein Engel“, wiederhole ich matt und schenke mir Tee ein. Kalt rinnt er mir die Kehle hinab.
„Ja. Also, es gibt Zeitreisende, Engel, Dämonen …“
„Was ist seine Frau?“, unterbreche ich Casper. Der zuckt die Schultern.
„Eigentlich nichts davon.“
„Eigentlich?“ Mit jedem Moment scheint er sich unwohler zu fühlen. Hier bin ich nicht mehr die Einzige, die sich eingepfercht fühlt.
„Ja, eigentlich. Sie ist quasi Luzifers Tochter.“ Ein höllisch guter Scotch vom Schwiegervater. Das kann nicht real sein! Ich muss zurück an die Börse, um meine Gedanken zu ordnen und unter normale Menschen zu kommen.
„Sei so gut und kümmere dich um einen guten Champagner“, sage ich matt.
„Was?“ Casper sieht mich stirnrunzelnd an. Dass die Meise ihm gefolgt ist, bemerke ich erst, als sie sich neben die Teekanne sinken lässt. Geschäftig werden Federn gefaltet. „Gibt es hier etwas zu feiern?“
Oh ja. Die Beerdigung meines gesunden Menschenverstands.